In der Not

[161] Durch knorrige Fichten pfiff der Sturm,

der Himmel war wie lauter Blut.

Aus gierigen weißen Wogen griff

mit Flammenarmen die Abendglut.


Und der Sturmball stieg am Mast empor:

Ein Schoner tanzte im Orkan.

Und die Flagge flog. Mit scheuem Blick

in die stürzende Gischt die Schiffer sahn.


Und der Sturmball stand, und der Sturmball fiel, –

die Lotsen zogen die Ruder ein.

O du tanzendes Schiff, o du schwankender Kiel,

nun mag der Himmel dir gnädig sein!


O du ringendes Herz in der Not, in der Not . . .

und der Hafen so nahe, der Friedensport!

Und wieder treibt dein Dämon dich

ins Uferlose fort –


Und die Glut erlosch. Mit Raubtierschritt

schlich über die Düne die Nacht daher.

Ich sah sie lehnen am Hafendamm

und die Hände strecken weit über das Meer.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 161.
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