Wende

[196] Um Mitternacht vom Dome klingt

ein Sterbeläuten dumpf und bang:

verrauschter Zeiten Grabgesang,

der weithin durch die Lande dringt


bis in des Königs Prunkpalast,

bis in des Knechtes Kämmerlein –

ein scharfes Klirren mischt sich drein

wie von zersprungner Kettenlast,
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und kündet aller Kreatur,

daß abermals ein Ring zerbricht.

Es raunt und rauscht in Wald und Flur

von Mitternacht bis Morgenlicht.


Wie frisch der Wind aus Osten weht!

Lebendig wird, was starr und stumm.

Ein geisterhaftes Leben geht

an dieses Jahres Schwelle um.


Das sterbende Jahrhundert schaut

mit müden Augen in die Welt,

sein Atem geht so schwer und laut –

der blauen Ferne Schleier fällt.


Und sieghaft steigt aus totem Leid

– zu unsrer Hoffnung Wunderland

den goldenen Schlüssel in der Hand –

die blutgeborne neue Zeit.


Das Morgenrot ist ihr Panier,

ihr Herold ist das junge Jahr;

sie trägt den Rosenkranz im Haar –

und alle Glocken läuten ihr!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 196-197.
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