Deutsche Ostern

[237] 1895


Wieder weht ein Frühlingshauch

rings aus Busch und Bäumen,

und die wintermüde Welt

liegt in Osterträumen;

doch kein Auferstehungslied

will die Mär uns deuten –

durch die dumpfen Lüfte zieht

Sterbeglockenläuten.


Lastend wie Karfreitagsweh

hängt die Wetterwolke

tränenreich und blitzeschwer

über unserm Volke.

Was da sproßt im Sonnenschein,

will ihr Zorn begraben –

durch die deutsche Frühlingsflur

flattern schwarze Raben.
[237]

Sprengt kein Gott des Grabes Tor,

uns vor Schmach zu retten?

Deutschen Geistes Herrlichkeit

schlagen sie in Ketten;

Kerkermauern bauen sie

uns zur Frühlingsfeier,

und der Schönheit reines Bild

decken Nonnenschleier.


Mörder des lebendgen Worts,

Pharisäerscharen,

richten sie den freien Geist,

wie vor tausend Jahren.

Wieder soll der Scheite Qualm

lichtumdüsternd steigen,

und das Kreuz von Golgatha

grüßt in ernstem Schweigen.


Mörder des lebendgen Worts,

wie vor tausend Jahren

wird es doch aus Grabeskluft

siegreich aufwärts fahren?

Nimmer hat Gewalt und Tod

noch das Wort bezwungen,

das vom Geist empfangen ist

und aus Gott entsprungen.


Laß, mein Volk, die Finsternis

deinen Fuß nicht irren:

einmal muß des Lichtes Pfeil

durch die Wolke schwirren –

und ein Auferstehungslied

sollst du freudig singen,

wenn im freien deutschen Land

Osterglocken klingen!

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 237-238.
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