Rangierertod

[223] Der Goldstrom fließt in Wogen.

Durch seine flimmernde Fläche ist

eine blutige Spur gezogen.


Tiefschwarz die Nacht. Ein Pfeifen schrillt.

Glühwürmchen hüpfen auf dunkler Bahn.

Aus gähnendem Düster taucht und schwillt

es empor wie ein formloses Götzenbild –

und es faucht und zischt und es braust heran,

die Luft erschüttert ein Beben . . .

und horch: auch von drüben Gestöhn und Geschnauf,

ein höllisches Auge funkelt auf.

Nur ein Ruck – und die Räder zerschmettern dich

– unseliger Mann, nun wahre dich!

Duck dich und lauf –

lauf zu: es gilt das Leben!
[223]

Tiefschwarz die Nacht. Und ein Angstschrei gellt

und hallt in die düstersten Ecken.

Der Schein der Blendlaterne fällt

auf das grausige Bild der Schrecken

und spiegelt sich rot in dem rinnenden Blut,

in des brechenden Auges Fieberglut.


Und die andern alle, sie sind's gewohnt;

sie haben sich stumm in die Nacht gewandt,

nur einer, ein junger, blondbärtiger Fant

starrt flackernden Blicks in das flackernde Licht

und seine zuckende Lippe spricht:

»Der Fünfte, der Fünfte in diesem Mond!«


Die Zähne gepreßt und die Faust geballt!

Ein neues Pfeifen die Nacht durchhallt –


Und keine Ehre und kein Gewinnst,

keine Stunde Ruhe im Todesdienst,

kein freundliches Licht, das die Nacht erhellt,

keine rettende Hand – das kostet Geld! –


– Und der Goldstrom geht in Wogen.

Durch seine flimmernde Fläche ist

eine blutige Spur gezogen.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 223-224.
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