|
[139] – Carneades! Wer war der? – fragte sich Don Abbondio auf seinem Lehnstuhle in einem der oberen Zimmer, mit einem aufgeschlagenen Büchelchen vor sich, als Perpetua eintrat und ihm die frohe Botschaft brachte. – Carneades! Mir ist, als hätte ich den Namen schon irgendwo gelesen oder gehört; es muß ein kluger Mann gewesen sein, ein großer Gelehrter des Alterthums; der Name deutet darauf hin; aber wer war denn dieser Teufelskerl? So weit war der arme Mann von der Ahnung des Ungewitters entfernt, das sich über seinem Haupte zusammenzog! Wer war dieser Teufelskerl? – In diesem Augenblick trat Perpetua ein und kündigte Tonio's Besuch an.
»So spät?« fragte auch Don Abbondio.
»Was soll geschehen? Es sind freilich ungeschliffene Burschen; wenn Sie ihn aber jetzt nicht beim Fittich kriegen ...«
»Freilich, wenn ich ihn jetzt fliegen lasse, wer weiß, wann er sich wieder fangen läßt! Laß ihn kommen .... He! bist du auch ganz sicher, daß es Tonio ist?«
»Zum Teufel auch!« antwortete Perpetua, ging hinunter, öffnete die Thür und sagte: »Wo seid ihr?« Tonio trat zu ihr hin; zugleich kam aber auch Agnese hervor und rief Perpetua beim Namen.
»Guten Abend, Agnese«, sagte Perpetua: »Woher kommt Ihr so spät noch?«
»Ich komme von ...« sie nannte ein benachbartes Dörfchen. »Und wißt ....«, fuhr sie fort, »ich habe mich nur Euretwegen so lange dort aufgehalten.«
»Ei warum denn?« fragte Perpetua und fuhr zu den beiden Brüdern gewendet fort: »Tretet nur immer ein, ich komme auch gleich.«
»I so ein Weibstück«, nahm Agnese wieder das Wort, »das von nichts weiß, aber doch immer mitreden will; Ihr werdet's gar nicht glauben: die behauptete steif und fest, Ihr hättet Beppo Suolavecchia[139] und Anselmo Lunghina nur darum nicht geheiratet, weil sie Euch nicht gewollt hätten. Ich bestand aber darauf, daß Ihr ihnen den Laufpaß gegeben habt ...«
»Gewiß. O die Lügnerin! Die Erzlügnerin! wie heißt sie denn?«
»Fragt mich nicht weiter, ich will kein Unheil stiften.«
»Ihr werdet sie mir schon nennen, Ihr müßt sie mir nennen, diese freche Lügnerin!«
»Laßt es gut sein ... Ihr glaubt nicht, wie es mich geärgert hat, daß ich die ganze Geschichte nicht genau wußte, um ihr das Lästermaul gehörig zu stopfen.«
»Wie sie nur so unverschämt lügen konnte«, rief Perpetua, »denn was Beppo betrifft, so weiß es die ganze Welt und Jedermann hat's sehen können .... He, Tonio! lehnt die Thür nur an und geht immer hinauf, ich komme nach.«
»Ja«, antwortete Tonio von innen, und Perpetua fuhr in ihrer leidenschaftlichen Erzählung fort.
Don Abbondio's Thür gegenüber, zwischen zwei kleinen Häuschen, führte ein schmaler Weg in die Felder. Auf diesen lenkte Agnese ihre Schritte und that, als wollte sie nur ein wenig bei Seite treten, um freier reden zu können; Perpetua folgte ihr. Als sie um die Ecke gebogen waren, von wo aus man nicht mehr sehen konnte, was sich vor dem Hause Don Abbondio's zutrug, hustete Agnese laut. Dies war das Signal; Renzo verstand es und ermuthigte Lucia durch eine Umarmung. Beide kamen dann aus ihrem Versteck hervor und schlichen leise auf den Fußspitzen die Mauer entlang, kamen an die Thür, die sie behutsam öffneten, und traten in den Hausflur, wo die beiden Brüder sie schon erwarteten. Renzo schob die Thür ganz leise wieder heran, und nun stiegen alle Vier die Treppe hinauf. Als sie oben waren, traten die beiden Brüder an die Stubenthür, die seitwärts von der Treppe war; die Verlobten drückten sich an die Wand.
»Deo gratias«, sagte Tonio mit lauter Stimme.
»Tonio, herein«, rief Don Abbondio.
Der Gerufene öffnete die Thür kaum so weit, daß er mit seinem Bruder zugleich eintreten konnte. Der Lichtschein, der[140] plötzlich durch die Oeffnung die Dunkelheit erhellte, ließ Lucia erbeben, als ob sie entdeckt wäre. Die beiden Brüder traten ein, und Tonio machte die Thür hinter sich zu. Die Verlobten blieben regungslos im Dunkeln stehen, horchten und hielten den Athem an sich; Lucia's Herzklopfen war das stärkste Geräusch.
Don Abbondio saß, wie wir schon gesagt haben, bei einer matt brennenden kleinen Lampe auf einem alten Lehnstuhle, in einen langen, weiten Mantel gewickelt, den Kopf mit einem alten Sammetkäppchen bedeckt. Zwei dicke Büschel Haare, die aus dem Käppchen hervorkamen, ein Paar dicke Augenbrauen und ein dicker grauer Schnurbart, ein dicker grauer Haarwuchs am Kinn, der sich fast über das ganze braune, runzlichte Gesicht verbreitete, ließen sich mit beschneitem Buschwerk vergleichen, das bei Mondenschein an einem Felsabhang hervorragt.
»Ah, Ah!« – war sein Gruß, indem er sich die Brille abnahm und sie zu dem Büchelchen legte.
»Der Herr Pfarrer werden sagen, daß ich spät gekommen bin«, sagte Tonio und verneigte sich, was auch, nur noch plumper, Gervaso that.
»Freilich ist es spät, spät in jeder Hinsicht. Ihr wißt doch, daß ich krank bin?«
»O, das thut mir leid.«
»Ihr werdet davon gehört haben; ich bin krank und ich weiß nicht, wann ich mich werde sehen lassen können .... aber warum habt Ihr denn den ... den jungen Burschen da bei Euch?«
»Nur zur Gesellschaft, Herr Pfarrer.«
»Nun gut; laßt sehen.«
»Hier sind fünfundzwanzig blanke Berlinghen, mit dem heiligen Ambrosius zu Pferde«, sagte Tonio und nahm ein Päckchen aus der Tasche.
»Laßt sehen«, antwortete Don Abbondio und nahm das Päckchen, setzte die Brille wieder auf, öffnete es, zog die Berlinghen heraus, kehrte sie um, zählte sie, kehrte sie wieder um und fand alles in Richtigkeit.
»Nun, Herr Pfarrer, geben Sie mir auch die Halskette meiner Tecla wieder zurück.«[141]
»Das ist nicht mehr wie recht«, war Don Abbondio's Antwort; darauf trat er an einen Schrank, zog einen Schlüssel aus der Tasche, sah sich ringsum, als wollte er die Blicke der Anwesenden hüten, öffnete ihn, stellte sich dicht davor, steckte den Kopf hinein um zu sehen, griff mit der einen Hand nach dem Halsbande, nahm es heraus, schloß den Schrank wieder und überreichte es Tonio, indem er sagte: »Seid Ihr nun zufrieden?«
»Jetzt sein Sie noch so gütig, Herr Pfarrer, und geben Sie mir etwas schwarz auf weiß.«
»Auch das noch!« sagte Don Abbondio, »sie wissen mit allem Bescheid. Ei, wie die Menschen doch jetzt mißtrauisch geworden sind! Traut Ihr mir denn nicht?«
»Wie, Herr Pfarrer! ob ich Ihnen traue? Sie thun mir Unrecht. Nur weil mein Name in Ihrem garstigen Buche als Schuldner steht .... Sie haben sich doch nun schon einmal die Mühe gemacht ihn einzuschreiben; nur darum .... es ist auf Leben und Sterben ....«
»Gewiß, gewiß«, unterbrach ihn Don Abbondio und zog brummend einen Tischkasten auf, nahm Papier, Feder und Dintenfaß heraus, fing an zu schreiben und wiederholte mit lauter Stimme die Worte, wie sie ihm aus der Feder flossen. Unterdessen stellte sich Tonio und auf seinen Wink auch Gervaso gerade vor den Tisch, so daß sie dem Schreibenden die Aussicht nach der Thür benahmen, und schurrten Beide wie vor Ungeduld mit den Füßen am Boden, um den Verlobten draußen das Zeichen zu geben, einzutreten und zugleich das Geräusch ihrer Fußtritte unhörbar zu machen. Don Abbondio, ganz in sein Schreiben vertieft, sah und hörte nichts. Bei dem Geräusch der vier Füße faßte Renzo Lucia's einen Arm, drückte ihn an sich, um ihr Muth zu machen, und schritt vorwärts, indem er sie nach sich zog, denn allein war sie nicht im Stande zu gehen. Ganz leise auf den Zehenspitzen traten sie ein und stellten sich hinter die beiden Brüder. Indem war Don Abbondio mit seinem Schreiben fertig geworden, er las es noch einmal aufmerksam durch, ohne die Augen von dem Papier zu erheben, faltete es und sagte: »Nun werdet Ihr doch beruhigt sein?« Zugleich nahm er mit der einen[142] Hand die Brille von der Nase, mit der andern reichte er Tonio das Blatt hin und erhob das Gesicht. Tonio streckte die Hand nach dem Papiere aus und trat dann nach der einen Seite zurück, Gervaso auf seinen Wink nach der andern, und als ob die Scene sich verwandle, standen Renzo und Lucia plötzlich in der Mitte da. Don Abbondio blickte sie verwirrt an, erkannte sie, erschrak, staunte, wollte wüthend werden, besann sich wieder und faßte einen Entschluß; alles dies, während Renzo die Worte sprach: »Herr Pfarrer, vor diesen Zeugen hier erwähle ich diese zu meinem Weibe.« Seine Lippen hatten sich aber noch nicht geschlossen, als Don Abbondio schon die Quittung hatte fallen lassen, mit der Rechten nach der Lampe griff, mit der Linken nach der Tischdecke, die er wüthend an sich riß, Buch, Papier, Dintenfaß und Sandbüchse zu Boden warf, über Stuhl und Tisch wegspringend auf Lucia losfuhr. Die Arme hatte mit ihrer sanften Stimme kaum die beiden Worte »und dieser ....« zitternd und bebend hervorbringen können, als Don Abbondio ihr auch schon gewaltsam die Tischdecke an den Kopf und über's Gesicht geworfen hatte, wodurch er sie verhinderte, die Formel ganz auszusprechen. Und schnell ließ er die Lampe aus der andern Hand fallen, nahm diese noch zu Hülfe und umwickelte Lucia's Kopf so fest mit der Tischdecke, daß er sie fast erstickte; dann fing er aus Leibeskräften an zu schreien: »Perpetua! Perpetua! Verrath! Hülfe!« Das flackernde Licht am Boden warf einen schwachen Schein auf Lucia, die so bestürzt war, daß sie nicht einmal versuchte, sich von der Umhüllung zu befreien; sie glich einer in Thon modellirten Bildsäule, um die der Künstler ein nasses Tuch geschlagen hat. Nachdem der letzte Schimmer des Lichtes erloschen, ließ Don Abbondio die Arme los und suchte tappend nach der Thür, die nach einem Nebenzimmer führte, fand sie, trat hinein, schloß hinter sich zu und schrie unablässig: »Perpetua! Perpetua! Verrath! Hülfe! Heraus! Heraus!« Es herrschte die größte Verwirrung; Renzo suchte den Pfarrer zu packen und fuhr mit den Händen herum, als spiele man Blindekuh; so kam er an die Thür, klopfte und schrie: »Oeffnen Sie, öffnen Sie, machen Sie kein solches Geschrei!« Lucia rief Renzo mit schwacher Stimme und sagte[143] flehend: »Laß uns gehen, laß uns gehen, um Gotteswillen!« Tonio kroch auf allen Vieren am Boden, um die Quittung zu finden. Gervaso schrie und sprang wie besessen umher und suchte die Thür nach der Treppe, um mit heiler Haut davon zu kommen.
Mitten in diesem Aufruhr können wir nicht unterlassen, uns einen Augenblick Ruhe zu gönnen, um eine kleine Betrachtung anzustellen. Renzo, der bei Nachtzeit in dem Hause eines Andern lärmte, der heimlich wie ein Dieb hereingeschlichen war und der den Hausherrn in seinem eigenen Zimmer belagert hielt, hatte ganz das Ansehen eines Unterdrückers; und schließlich war er doch der Unterdrückte. Don Abbondio, überfallen, in die Flucht gejagt, in seiner Ruhe gestört, schien das Opfer; und in der That war er es doch, der Unrecht that. So geht es oft in der Welt .... oder ich will sagen, so ging es im siebenzehnten Jahrhundert zu.
Da der Belagerte nun sah, daß der Feind durchaus keine Miene machte, das Feld zu räumen, so öffnete er ein Fenster, das nach dem Kirchhofe herauslag, und fing wieder an zu schreien: »Hülfe! Hülfe!« Es war heller Mondenschein. Der Schatten der Kirche und weiter hin der lange spitze Schatten des Glockenthurms zog sich in seinen scharfen Umrissen über dem hellen Rasenplatz des Kirchhofs hin; alle Gegenstände waren deutlich zu erkennen wie am Tage. So weit aber der Blick auch reichte, es war kein lebendes Wesen zu sehen. An der Kirchmauer jedoch, gerade auf der Seite nach dem Pfarrhause hin war eine kleine Wohnung, oder vielmehr ein Loch, wo der Küster schlief. Aufgeschreckt durch das ungewöhnliche Geschrei, fuhr dieser wie toll aus dem Bett heraus, riß eines seiner kleinen Fenster auf, steckte den Kopf heraus und rief noch halb im Schlafe: »Was giebt es denn?« »Lauft, Ambrogio! Hülfe! Es ist Gesindel im Hause!« schrie ihm Don Abbondio zu. »Ich komme gleich«, antwortete jener, zog den Kopf zurück und schloß das Fenster wieder. Obgleich er aber noch halb im Traume und mehr als halb außer sich vor Schrecken war, so fiel ihm dennoch auf der Stelle ein Mittel ein, wodurch er mehr Hülfe schaffen konnte, als man von ihm verlangte, ohne daß er sich dabei irgend welcher Gefahr auszusetzen brauchte. Er griff nach den Beinkleidern, die auf dem Bette lagen, und nahm[144] sie schnell unter den Arm, wie einen Staatshut, sprang eine kleine hölzerne Treppe hinab, lief nach dem Glockenthurm, zog den Strang der größten der beiden Glocken und fing an Sturm zu läuten.
Ton, ton, ton, ton – die Bauern fahren plötzlich in ihren Betten in die Höhe; die Knechte, die auf dem Heuboden ausgestreckt liegen, horchen auf und springen empor. »Was giebts? was giebts? die Sturmglocke! Feuer? Diebe? Mörder?« Viele Weiber bitten und beschwören ihre Männer, daheim zu bleiben und die Andern laufen zu lassen; einige stehen auf und treten ans Fenster; die Feigen thun, als geben sie den Bitten nach und verkriechen sich wieder unter die Bettdecke; die Neugierigsten und Tapfersten gehen und nehmen ihre Heugabeln und Flinten und stürzen nach dem Kirchplatz; andere blieben zurück und wollten sich die Sache erst aus der Ferne mit ansehen.
Aber ehe diese Alle noch ihre Anstalten getroffen, ehe sie noch recht munter waren, war der Lärm schon zu den Ohren anderer Leute gedrungen, die nicht weit davon noch munter und auf den Beinen waren; auf der einen Seite die Bravi, auf der andern Agnese und Perpetua.
Wir wollen zuerst in aller Kürze sagen, was jene seit dem Augenblicke, da wir sie verlassen haben, theils in dem Wirthshause, theils in dem alten Gemäuer gethan. Als jene Drei alle Thüren verschlossen und die Straßen menschenleer sahen, zogen sie eiligst ab und thaten, als ob sie die Zeit verpaßt hätten; sie machten in aller Stille die Runde um das Dorf, um sich zu überzeugen, daß alles sich zur Ruhe begeben hatte; und wirklich begegneten sie keiner lebenden Seele und hörten nicht das leiseste Geräusch. Sie schlichen auch an dem Häuschen von Lucia vorüber; es war das ruhigste von allen, weil Niemand darin war. Dann gingen sie schleunigst nach ihrem Schlupfwinkel, dem alten Gemäuer, und statteten ihrem Anführer, dem Grauen, Bericht ab. Dieser setzte sich sogleich einen großen alten Filzhut auf den Kopf, warf sich einen Pilgermantel von Wachstuch, reich mit Muscheln besetzt, um die Schultern, nahm einen Pilgerstab in die Hand und sagte: »Vorwärts denn wie tapfere Kerle; aber still und gehorsam[145] aufs Wort.« Er ging voran, die Andern folgten, und auf einem Wege, der dem entgegen gesetzt war, den unsere kleine Schaar eingeschlagen hatte, die gleichfalls einem Kampfplatze zueilte, langten sie bald bei dem Häuschen an. Der Graue ließ den Haufen einige Schritte davon Halt machen, ging allein weiter und ließ noch einmal seine Späherblicke überall umherschweifen; da er nichts Verdächtiges entdeckte, so ließ er zwei der schlausten Kerle hervortreten und befahl ihnen, ganz sachte über die Mauer, die den kleinen Vorhof einschloß, zu steigen; und wenn sie drinnen hinabgestiegen, sollten sie sich in einem Winkel, hinter einen dichten Feigenbaum, den er am Morgen schon in Augenschein genommen, verbergen. Nachdem dies Alles abgemacht war, klopfte er ganz leise an, in der Absicht, sich für einen verirrten Pilger auszugeben, der bis zum Tagesanbruch ein Obdach suche. Niemand antwortet; er klopft stärker; kein Laut, nichts regt sich. Darauf ruft er einen dritten Schurken, läßt ihn, wie die beiden Andern in den Hof hinabklettern und befiehlt ihm, den Riegel behutsam von der Thür zurückzuschieben, um freien Durchgang zu haben. Alles wird mit großer Vorsicht und mit dem günstigsten Erfolge betrieben. Er ruft darnach die Andern, geht mit ihnen hinein und gebietet ihnen, sich bei den Ersten hinter dem Feigenbaume zu verkriechen; geräuschlos macht er den Ausgang wieder zu, stellt zwei Schildwachen auf und geht vorsichtig nach der Thür des unteren Stockwerks. Auch hier klopfte er und stand auf der Lauer, er konnte aber lange stehen. Behutsam macht er auch an dieser Thür den Riegel los, aber Keiner ruft ihm von innen zu: »Wer ist da?« Besser kann's nicht gehen, also vorwärts. »St.« Er ruft die Rotte unter dem Feigenbaume, die auch sogleich auf dem Platze ist, und tritt mit ihnen in die untere Stube, wo er am Morgen so hinterlistig sich ein Stück Brod erbettelt hatte. Er zieht Schwamm, Feuerstein, Stahl und Schwefelfaden hervor, zündet eine kleine Laterne an und geht in die andere, hintere Stube, um sich zu versichern, ob Niemand da sei; es war Niemand da. Darauf geht er nach der Thür an der Treppe, späht umher, horcht. Alles öde und still. Zwei andere Schildwachen läßt er im unteren Stockwerk zurück; dann befiehlt er, daß der[146] sogenannte Grunzer, ein Bravo aus der Gegend von Bergamo, ihn begleite, der nur drohen, beschwichtigen und befehlen, kurz den Redner abgeben sollte, damit seine Sprache Agnesen glauben mache, der Ueberfall käme von jener Seite. Diesen also neben und die Andern hinter sich, steigt der Graue sachte hinauf und verwünscht in seinem Herzen jede Stufe, die knarrt und jeden Fußtritt seiner Bande, der Geräusch macht. Endlich ist er oben. Hier muß der Hase liegen. Er drückt sanft an die Thür, die zu der ersten Stube führt; sie giebt nach, und er sieht durch die Oeffnung, daß alles finster ist. Er horcht, ob innen irgend Einer schnarcht, athmet oder sich bewegt; nichts regt sich. Also vorwärts! Er hält sich die Laterne vor das Gesicht, um zu sehen, ohne gesehen zu werden, sperrt die Thür weit auf, sieht ein Bett, geht drauf los. Das Bett ist gemacht und unberührt, die weiße Decke darüber bis über die Kopfkissen ausgebreitet. Er zuckt die Achseln und giebt den Gefährten durch einen Wink zu verstehen, daß er in der andern Stube nachsehen will, und daß sie ihm sachte folgen sollen; er tritt hinein, durchsucht alles und findet dasselbe. »Zum Teufel, was ist das?« sagt er darauf laut, »hat irgend ein verrätherischer Hund den Spion gespielt?« Sie fingen nun noch einmal an, mit weniger Vorsicht jeden Winkel zu durchstöbern und kehrten dabei das ganze Haus zu unterst zu oberst. Während nun diese hier eine solche Arbeit vor hatten, hörten die Beiden, die vor der Thüre an der Straße Wache hielten, ein Getrampel eiliger Schrittchen, die immer näher kommen; sie bilden sich ein, der Nachtschwärmer, wer er auch sei, wird geradewegs vorüber ziehen, und in diesem guten Wahne verhalten sie sich ruhig. Die Schrittchen sind ganz nahe und machen gerade vor der Thüre Halt. Es war Menico, der in vollem Laufe ankam; Pater Cristoforo sandte ihn zurück, um die beiden Frauen zu benachrichtigen, daß sie sich um des Himmels willen sogleich aus dem Hause fortmachen sollten und sich ins Kloster flüchten, weil .... den Grund kennen wir. Er faßt an die Klinke, um zu öffnen und fühlt, wie sie ihm lose und zerbrochen in der Hand wackelt – Was ist das? – denkt er und drückt erschrocken gegen die Thüre, die aufgeht. Menico thut mißtrauisch einen Schritt hinein, und auf einmal fühlt er sich[147] an beiden Armen zugleich gepackt, und rechts und links sagte ihm eine Stimme in leisem, drohendem Tone: »Sei still, oder du bist des Todes.« Er aber stößt einen Schrei aus. Einer der beiden Banditen hält ihm mit seiner dicken Faust den Mund zu, der Andere zieht ein Messer hervor, um ihm Furcht einzujagen; der arme Junge zittert am ganzen Leibe und wagt keinen Schrei mehr; dagegen ertönt plötzlich und in ganz anderem Tone, der erste jener Glockenschläge, dem ein unaufhörliches Sturmgeläute folgt.
Wer sündigt, der fürchtet, sagt ein Mailändisches Sprüchwort. Dem einen wie dem andern Schurken fällt's auf die Seele, als hörte er in den Glockenschlägen seinen Namen rufen; sie lassen den Knaben los, sperren Mund und Nase auf, glotzen einander an und stürzen nach dem Hause, wo der stärkste Theil der Bande war. Menico macht sich durch und läuft was er kann nach dem Glockenthurme zu, wo doch nach seiner Meinung irgend ein menschliches Wesen sein müßte. Auf die andern Schurken, die das ganze Haus auf einen andern Fleck stellten, machen die furchtbaren Glockentöne denselben Eindruck; verwirrt und fassungslos rennt Einer den Andern um; ein Jeder sucht auf dem kürzesten Wege die Thür zu erreichen. Sie waren zwar erprobte Kerle, gewohnt, die Stirn zu bieten; einer Gefahr aber, die ihnen so unversehens über den Hals kam, vermochten sie nicht Stand zu halten. Der Graue mußte sein ganzes Ansehen und seine ganze Ueberlegenheit aufbieten, um sie zusammen zu halten, damit ihr Rückzug nicht eine Flucht würde. Gleich einem Hunde, der eine Heerde Schweine hütet, bald hier, bald da denen nachsetzt, die davon laufen, das eine mit den Zähnen bei den Ohren packt und in die Heerde zurückzerrt, ein anderes mit der Schnauze stößt, und noch ein anderes, das eben aus der Reihe läuft, wieder hinein bellt; so faßte der Pilger einen von denen, der schon den Fuß auf die Schwelle setzte, beim Schopfe und riß ihn zurück, jagte zwei Andere, die sich auch eben durchmachen wollten, mit dem Pilgerstabe wieder hinein, schrie den Uebrigen, die sinnlos hin und her liefen, so lange zu, bis er sie Alle endlich mitten in dem kleinen Hofe wieder beisammen hatte. »Halt! erst die Pistolen zur Hand, die Messer stoßfertig. Alle zusammen brechen wir auf, so gehört[148] es sich. Wer wollte es wagen, es mit uns aufzunehmen, wenn wir zusammen halten, ihr Dummköpfe? Lassen wir uns aber einzeln erwischen, so können uns sogar die Bauern überfallen. Schämt euch! Mir nach, und keiner aus der Reihe!« Nach dieser kurzen Anrede stellte er sich an die Spitze und ging voran. Das Haus, wie wir schon gesagt haben, lag am Ende des Dorfes; der Graue schlug einen Weg ein, der außerhalb desselben lag, und Alle folgten gehorsam seiner Führung.
Wir überlassen sie für jetzt ihrem Schicksal und suchen die beiden Frauen wieder auf. Agnese war darauf bedacht gewesen, Perpetua so weit als möglich von Don Abbondio's Wohnung entfernt zu halten, und bis auf einen gewissen Punkt hatte sie ihre Absicht auch erreicht. Aber plötzlich erinnerte sich die Haushälterin, daß die Thür offen geblieben und wollte zurück gehen. Dem war nicht zu widersprechen. Um keinen Verdacht zu erregen, mußte Agnese mit ihr umkehren und zurückgehen; so oft sie aber merkte, daß dieselbe bei der Erzählung der zu Wasser gewordenen Heirathen in Hitze gerieth, suchte sie sie aufzuhalten. Sie spielte die eifrigste Zuhörerin, und um ihre gespannte Aufmerksamkeit zu zeigen, oder um das Gespräch wieder recht in Gang zu bringen, sagte sie von Zeit zu Zeit: »Ganz gewiß, nun geht mir ein Licht auf; vortrefflich; es ist klar wie die Sonne; und wie wurde es hernach? Und er? Und Ihr?« Zu gleicher Zeit aber führte sie ein anderes Gespräch mit sich selbst. – Ob sie wohl jetzt schon heraus sein mögen? Oder ob sie noch drinnen sind? Was sind wir alle Drei für Dummköpfe gewesen, daß wir nicht irgend ein Zeichen verabredet haben, um mir anzuzeigen, wie sie mit der Sache fertig geworden sind? ob sie einen glücklichen Ausgang genommen hat? Es war eine schwere Aufgabe! ein kühnes Unternehmen! aber es ist nun einmal geschehen; jetzt ist nichts Besseres zu thun, als diese so lange hier festzuhalten als ich nur kann; im schlimmsten Falle kostet es einige Minuten Zeit. – Indem sie so bald still standen, bald weiter gingen, waren sie Don Abbondio's Wohnung immer näher gekommen, die sie aber wegen der Ecke nicht sehen konnten; Perpetua war gerade bei einem sehr wichtigen Punkt ihrer Erzählung, und hatte sich, ohne es gewahr[149] zu werden, doch von Agnese aufhalten lassen, als man plötzlich durch die leere, regungslose Luft und durch die weite Stille der Nacht jenen ersten, Mark und Bein erschütternden Schrei Don Abbondio's: »Hülfe! Hülfe!« erschallen hörte.
»Barmherzigkeit! Was ist geschehen?« schrie Perpetua und wollte davon laufen.
»Was giebts? was giebts?« sagte Agnese und hielt sie am Rocke fest.
»Barmherzigkeit! habt Ihr's denn nicht gehört?« erwiederte jene sich losreißend.
»Was giebts denn? was giebts denn?« wiederholte Agnese und ergriff sie beim Arme.
»Teufelsweib!« schrie Perpetua, stieß sie zurück und lief davon. Gleich darauf hörte man aus der Ferne Menico's Geheul.
»Barmherzigkeit!« schreit nun auch Agnese und galoppirt hinter der Andern her. Sie hatten Beide kaum die Füße vom Boden erhoben, als die Glocke zu läuten begann: ein Schlag, ein zweiter, ein dritter und so fort; es würden Sporen für sie gewesen sein, wenn sie deren bedurft hätten. Perpetua kam eine Minute früher an; indem sie aber die Hand an die Thür legt und sie aufstoßen will, wird diese schon von Innen aufgerissen, und entgegen treten ihr auf der Schwelle Tonio, Gervaso, Renzo und Lucia, die mit einem Satze die Treppe herunter waren, und als sie die furchtbaren Glockenschläge hören, schnell die Flucht ergreifen, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Was giebts? was giebts?« fragte keuchend Perpetua die Brüder, welche die Frage mit einem derben Stoße beantworteten und sich aus dem Staube machten. »Und ihr! Wie? Was wollt ihr hier?« fragte sie darauf das andere Paar, als sie es erkannt hatte. Aber auch diese machten sich durch, ohne ihr Rede zu stehen. Perpetua fragte nicht weiter, trat hastig in die Hausflur und lief so schnell sie es in der Finsterniß vermochte, nach der Treppe, um Dem zu Hülfe zu eilen, der ihrer am meisten bedurfte.
Die beiden Verlobten, die Brautleute geblieben waren, stießen sogleich auf Agnese, die voll Angst und Sorge dastand. »Ach,[150] seid ihr da!« brachte sie mühsam heraus. »Wie ist es abgelaufen? Was bedeutet das Läuten? mir ist, als hätte ich gehört ...«
»Nach Hause, nach Hause«, sagte Renzo, »ehe sich hier Leute versammeln.« Und sie machten sich auf den Weg. Menico kam ihnen gerade entgegen gelaufen; er erkennt sie, bleibt vor ihnen stehen, und noch an allen Gliedern wie ein Espenlaub zitternd, sagt er mit halberstickter Stimme: »Wo wollt ihr hin? Zurück, zurück! Dorthin, nach dem Kloster!«
»Bist du es, ...?« fing Agnese an.
»Was ist geschehen?« fragte Renzo.
Lucia stand zitternd ohne Fassung da und schwieg.
»In euer Haus ist der Teufel gefahren«, fing Menico athemlos wieder an. »Ich habe ihn gesehen; sie haben mich ermorden wollen; Pater Cristoforo hat es gesagt; und Ihr auch, Renzo, sollt gleich mitkommen, hat er gesagt; und hernach habe ich den Teufel wirklich mit eigenen Augen gesehen; Gottlob, daß ich euch hier Alle treffe! Wenn wir erst draußen sind, will ich euch Alles sagen.«
Renzo, der noch am wenigsten den Kopf verloren hatte, sah ein, daß man schnell einen Weg hier oder dorthin einschlagen müßte, ehe die Leute zusammenliefen, und daß das Sicherste war, zu thun was Menico rieth, oder vielmehr mit so schrecklicher Gewalt befahl. Unterwegs dann, außerhalb der Gefahr, konnte man von dem Knaben eine deutlichere Erklärung verlangen. »Geh voran«, sagte er zu ihm; »wir folgen ihm«, sagte er zu den Frauen. Sie kehrten um, eilten der Kirche zu, liefen über den Kirchhof, wo glücklicherweise noch keine Seele zu sehen war, und schlugen ein Gäßchen zwischen der Kirche und dem Pfarrhause ein. Dann gings über die Hecken fort, quer durch die Felder.
Sie hatten vielleicht noch keine fünfzig Schritte zurückgelegt, als auch schon Leute nach dem Kirchplatze liefen und der Haufe mit jedem Augenblick größer wurde. Einer sah den Andern an; jeder hatte eine Frage; keiner eine Antwort. Die ersten Ankömmlinge liefen nach der Kirchthür; sie war verschlossen. Sie liefen von Außen nach dem Glockenthurm, und Einer von ihnen hielt den Mund an eine Oeffnung, an eine Art Schußloch und[151] schrie hinein: »Zum Teufel, was ist denn los?« Als Ambrogio eine bekannte Stimme hörte, ließ er den Strang los, und da das Gesumse ihm verrieth, daß eine Menge Volks schon herbeigeströmt sei, so antwortete er: »Ich mache gleich auf.« Schnell zog er das Kleidungsstück an, das er unter dem Arm getragen hatte, ging von innen nach der Kirchthür und öffnete sie.
»Was soll denn das Getöse bedeuten? – Was ist los? – Wo ists denn? – Wer denn? –«
»Wie, wer's ist?« sagte Ambrogio und hielt mit einer Hand die Thür, mit der andern die Hose, die er so eilig angezogen hatte, »wißt ihr es denn nicht? Im Hause des Pfarrers sind sie. Hinauf, Kinder, Muth, zu Hülfe!«
Sie wenden sich alle dem Hause Don Abbondio's zu, sie drängen Alle dorthin, sie schauen hinauf, sie horchen: Alles still. Andere laufen vorn nach der Hausthür; sie ist verschlossen und unversehrt. Sie schauen auch hier hinauf; alle Fenster sind geschlossen; kein Laut ist zu hören.
»Wer ist denn drinnen? – Holla! he! – Herr Pfarrer! – Herr Pfarrer!«
Don Abbondio hatte kaum die Flucht seiner Peiniger bemerkt, als er auch vom Fenster zurücktrat und es wieder schloß. In diesem Augenblicke zankte er leise mit Perpetua, daß sie ihn in solcher Bedrängniß allein gelassen habe; er mußte aber wieder ans Fenster treten, als er sich von der Menge unten so laut rufen hörte; und als er die zahlreiche Hülfe sah, bereuete er, sie herbeigerufen zu haben.
»Was ist denn geschehen? – Was haben sie Ihnen gethan? – Wer sind sie? – Wo stecken sie?« – schrien ihn fünfzig Stimmen auf einmal an.
»Es ist Keiner mehr hier; ich danke euch; geht nur wieder nach Hause.«
»Aber wer ist es denn gewesen? – Wo sind sie hingegangen? – Was ist denn vorgefallen?«
»Schlechtes Gesindel, Volk, das sich Nachts herumtreibt; sie haben sich schon durchgemacht; geht nur wieder heim; es ist vorbei; es ist Alles gut. Ein andermal, meine Kinder; ich danke euch[152] für euren guten Willen.« Nach diesen Worten schloß er das Fenster und trat zurück.
Hierauf fing der Eine an zu brummen, ein Zweiter fluchte, ein Dritter spottete, Andere zuckten die Achseln und entfernten sich. Da kommt plötzlich Einer ganz außer Athem angelaufen, der kaum die Worte herausbringt. Dieser wohnte unsern Frauen fast gerade gegenüber. Er war über jenem Lärm ans Fenster getreten und hatte in dem Höfchen das Gewimmel der Bravi gesehen, die der Graue sich bemühte wieder zusammen zu bringen. Als er wieder Athem schöpfen konnte, schrie er: »Was macht ihr hier, Kinder? unten, am Ende des Dorfes, im Hause der Agnese Mondella, da ist der Teufel los; Bewaffnete sind drin; es scheint, sie wollen einen Pilger ermorden; wer kanns wissen, was der Teufel vor hat!«
»Was? – Was? – Was? –« Und ein stürmischer Rath wird gehalten. – »Man muß hin. – Man muß doch sehen. – Wie viele sind ihrer? – Wer sind sie? – Wie stark sind wir? – Der Schulze! Der Schulze!«
»Hier bin ich«, antwortete der Schulze schon unter der Menge. »Hier bin ich, aber ihr müßt mir behülflich sein, ihr müßt mir gehorchen. Also geschwind; wo ist der Küster? Bei der Glocke, bei der Glocke! Geschwind; Einer läuft nach Lecco und holt Hülfe; kommt alle hin ....«
Man läuft herbei, man rennt von Einem zum Andern, man schlägt sich durch; der Aufruhr war groß, als noch ein Anderer hinzukommt, der die Räuberbande in eiligem Trabe hatte abziehen sehen. »Lauft, Kinder! Spitzbuben oder Banditen, die mit einem Pilger entwischen; schon sind sie zum Dorfe hinaus; auf, setzt ihnen nach!« Bei dieser Nachricht machten sich die Bauern sogleich auf den Weg, ohne die Befehle ihres Anführers abzuwarten und strömten in Masse das Dorf hinab; sowie das Heer sich aber vorwärts bewegt, bleiben viele von dem Vortrabe in der Schnelligkeit des Laufens zurück und schließen sich an die Hauptschaar an; die Hintersten dringen vor und der ordnungslose Schwarm erreicht endlich den bezeichneten Ort und kommt so an das Haus der Agnese Mondella. Die Spuren des Einbruchs waren noch ganz frisch und[153] deutlich zu erkennen; die Thüre weit auf, das Schloß losgerissen; die Thäter aber verschwunden. Man tritt in den Hof; man geht an die Thür des untersten Stockwerks; auch die ist gewaltsam erbrochen; man ruft: »Agnese! Lucia!« man ruft den Pilger. Aber wo ist der Pilger? Stefano muß geträumt haben. – Nein, nein; Carlandrea hat ihn auch gesehen. »Holla! Pilger! – Agnese! Lucia!« Niemand giebt Antwort. »Sie haben sie mit fortgeschleppt! Sie haben sie mit fortgeschleppt!« Einige schlugen nun vor, man müsse den Entführern nachsetzen; es sei eine unerhörte Schandthat; es würde eine Schmach für das Dorf sein, wenn jedweder Schurke ungestraft hereinschleichen dürfte, um Frauen wegzuschleppen, wie der Hühnergeier die Küchlein von einer leeren Tenne. Ein neuer, noch stürmischerer Rath wurde gehalten; Einer jedoch, man hat niemals erfahren, wer es gewesen, schrie in den Haufen hinein, Agnese und Lucia hätten sich in ein Haus gerettet. Das Wort geht von Mund zu Mund und findet schnell Glauben; man spricht nicht mehr davon, den Flüchtigen nachzujagen; die Menge geht auseinander und jeder kehrt nach Hause zurück.
Nun ward geflüstert, gelärmt, an die Thüren geklopft und geöffnet; Lichter erschienen und verschwanden wieder; die Weiber fragten von den Fenstern, von der Straße ward geantwortet. Sobald diese wieder still und menschenleer geworden, wurden die Gespräche in den Häusern so lange fortgesetzt, bis sie durch Gähnen und Schlaf abgebrochen wurden, um am nächsten Morgen wieder zu beginnen.
Sonst trug sich weiter nichts zu, als daß an dem nämlichen Morgen, als der Schulze auf seinem Acker stand, die eine Hand an das Kinn gelegt, die andere auf dem Griff des halb in die Erde gestochenen Spatens und einen Fuß auf den Tritt desselben; als der Schulze so dastand, sage ich, und über die Geheimnisse der verflossenen Nacht nachgrübelte und überlegte, was er thun und nicht thun müßte, sah er zwei Männer von sehr verwegenem Aussehen auf sich zukommen, beide mit langen Haaren, wie zwei fränkische Könige aus dem ersten Geschlechte, und im Uebrigen glichen sie auf ein Haar den Beiden, die vor fünf Tagen Don Abbondio angefallen[154] waren, wenn es nicht gar die nämlichen waren. Ohne viel Umstände zu machen, kündigten sie dem Schulzen an, daß er sich wohl hüten sollte, von dem Vorfall dem Gerichtsvogt Meldung zu machen; und wenn er eines natürlichen Todes zu sterben wünsche, so solle er die Wahrheit verschweigen; falls er gefragt würde, solle sich vor allem Plaudern in Acht nehmen und sich das Geschwätz der Bauern vom Halse halten.
Ohne ein Wort zu sprechen, legten unsere Flüchtlinge eine gute Strecke zurück, und bald wandte sich der Eine, bald der Andere um, zu sehen, ob ihnen nicht etwa Jemand folge. Alle waren niedergeschlagen durch die Mühseligkeit der Flucht, durch die Angst und Unruhe, die sie erduldet, durch den Verdruß über den schlechten Erfolg ihres Unternehmens, wie durch die Furcht vor der neuen Gefahr, die ihnen nur undeutlich vorschwebte. Die Wanderer befanden sich auf einem öden Felde, und da sich rings umher nichts regte, so fingen sie an langsamer fortzuschreiten. Agnese schöpfte zuerst wieder Athem, brach das Stillschweigen, fragte Renzo, wie es abgelaufen sei, fragte Menico, wer jener Teufel im Hause wäre. Renzo theilte seine traurige Geschichte in aller Kürze mit; darnach wandten sich alle Drei an den Knaben, der nun über den Bescheid des Paters ausführlicher berichtete und erzählte, in welcher Gefahr er selbst geschwebt hatte; was die Warnung des Paters nur zu sehr bestätigte. Die Zuhörer begriffen mehr, als Menico zu sagen wußte. Bei dieser Entdeckung überfiel sie ein neuer Schauder; sie standen auf einmal still und sahen einander entsetzt an; dann liebkosten sie den Knaben, der für sie ein Schutzengel geworden war, indem der Eine ihm die Hand auf den Kopf, der Andere auf die Schultern legte. »Jetzt geh nach Hause, damit die Deinigen sich nicht länger um dich abängstigen«, sagte Agnese und erinnerte sich dabei der zwei versprochenen Parpagliolen, nahm viere aus der Tasche und gab sie ihm. »Da, lieber Junge«, sagte sie, »bete zu Gott, daß wir uns bald wiedersehen und dann ....« Renzo gab ihm eine neue Berlinga und schärfte ihm noch recht ein, ja nichts von dem Auftrage des Paters auszuschwätzen; Lucia liebkoste ihn noch einmal und sagte ihm gerührt Lebewohl; der Knabe grüßte alle wehmüthig und ging zurück.[155]
Diese setzten nun gedankenvoll ihren Weg fort, die Frauen voran, Renzo, wie zum Schutze, dicht hinter ihnen. Lucia hing sich fest an den Arm der Mutter und wußte geschickt dem Jüngling auszuweichen, ohne ihn zu verletzen, wenn er ihr bei den beschwerlichen Stellen des schlechten Feldweges seine Hülfe anbot; selbst in dieser Verwirrung schämte sie sich, daß sie so lange schon allein und vertraulich in seiner Nähe geblieben, obgleich sie erwartet hatte, in wenig Augenblicken sein Weib zu werden. Jetzt, da dieser Traum verschwunden war, bereuete sie, so weit gegangen zu sein. Unter den vielen Ursachen, die sie zittern machten, zitterte sie auch noch aus Schamhaftigkeit, aber nicht aus der Schamhaftigkeit, die aus der traurigen Erkenntniß des Bösen entsteht, sondern aus der, die sich selbst nicht kennt, der Furcht des Kindes ähnlich, das im Finstern zittert, ohne zu wissen wovor.
»Und das Haus?« sagte mit einem Mal Agnese. Aber wie wichtig auch diese Frage war, es antwortete ihr Keiner, weil Keiner eine genügende Antwort geben konnte. Schweigend setzten sie ihren Weg fort und langten endlich auf einem Platze vor der Kirche des Klosters an.
Renzo trat an die Thür der Kirche und stieß leise daran. Die Thür ging wirklich auf, und das Mond licht, welches durch die Spalte fiel, schien auf das bleiche Gesicht und auf den Silberbart des Bruder Cristoforo, der schon erwartungsvoll dastand. Als er sah, daß Niemand fehlte, sagte er: »Gott sei gelobt« und hieß sie eintreten. Neben ihm stand ein anderer Kapuziner, ein Laienbruder, der das Amt des Küsters versah; ihn hatte er mit Bitten und Gründen zu überreden gewußt, mit ihm zu wachen und die Thüren unverschlossen zu lassen, um die armen Bedrohten aufzunehmen. Es bedurfte des ganzen Ansehens des Paters und seines heiligen Rufes, um den Laien zu einer so unbequemen, gefährlichen und außergewöhnlichen Willfährigkeit zu bewegen. Nachdem die Ankömmlinge eingetreten waren, verschloß Pater Cristoforo leise die Thür. Nun aber konnte der Küster sich nicht mehr beherrschen, er nahm den Pater bei Seite und raunte ihm ins Ohr: »Aber Pater, Pater! bei Nacht ... in der Kirche ... mit Frauen.. eingeschlossen ... die Regel ... aber Pater!« – Dabei schüttelte[156] er den Kopf. Während er aber diese bedeutungsvollen Worte sprach, dachte Bruder Cristoforo: Seht einmal! Wenn es ein verfolgter Straßenräuber wäre, würde Bruder Fazio ihm nicht die mindeste Schwierigkeit in den Weg legen, und eine arme Unschuldige, die sich aus den Klauen des Wolfes flüchtet .... »Omnia munda mundis« – sagte er darauf, indem er sich plötzlich zum Bruder Fazio umwandte und nicht daran dachte, daß dieser kein Latein verstand. Aber gerade darum that dieser Ausspruch seine Wirkung. Hätte Bruder Cristoforo sich auf Gründe eingelassen, so würde es dem Küster nicht an Gegengründen gefehlt haben, und weiß der Himmel, wann und wie die Sache geendet hätte. Als er aber jene ihm unverständlichen, geheimnißvollen Worte hörte, die so entschieden ausgesprochen wurden, da schien es ihm, als müßten sie die Lösung aller seiner Zweifel enthalten. Er gab sich zufrieden und sagte: »Nun wohl, Sie wissen davon mehr als ich.«
»Verlaßt Euch darauf«, antwortete der Pater. Dann näherte er sich bei dem düstern Schein der Ampel, die vor dem Altar brannte, den Geretteten, die voll Zweifel und Ungewißheit dastanden. »Kinder«, sagte er, »danket es dem Herrn, daß er euch aus einer großen Gefahr errettet hat. In diesem Augenblicke vielleicht ...« Und nun theilte er ihnen Alles mit, was er durch den kleinen Boten nur anzudeuten vermocht hatte, denn er ahnte nicht, daß sie schon mehr als er davon wußten, und setzte voraus, daß Menico sie noch ruhig in ihrem Hause angetroffen habe, noch ehe die Räuberbande daselbst angekommen sei. Keiner hatte den Muth, ihn aus seinem Irrthum zu reißen, nicht einmal Lucia, die doch über eine solche Verstellung gegen einen solchen Mann heimliche Gewissensbisse empfand; es war aber nun einmal eine Nacht voll Verwirrung und Verstellung.
»Dennoch, seht ihr wohl ein, Kinder«, fuhr der Mönch fort, »daß ihr jetzt in diesem Dorfe nicht mehr sicher seid. Es ist eure Heimat, ihr seid darin geboren, ihr habt Niemandem etwas Böses gethan; aber Gott will es so. Es ist eine Prüfung für euch, Kinder; ertragt sie mit Geduld, mit Ergebung, ohne Groll und seid versichert, daß eine Zeit kommen wird, wo ihr[157] Gott danken werdet, daß er es so gefügt hat. Ich bin darauf bedacht gewesen, für den ersten Augenblick eine Zufluchtstätte für euch auszufinden. Ich hoffe, ihr werdet bald ohne Gefahr in euer Haus zurückkehren können; in jedem Falle wird Gott Alles zu euerm Besten lenken. Und ihr«, fuhr er, zu den beiden Frauen gewandt, fort, »ihr könnt euch in *** so lange aufhalten. Ihr seid dort außer aller Gefahr und zugleich nicht allzu fern von eurem Hause. Sucht dort unser Kloster auf, laßt euch den Pater Guardian herausrufen und übergebt ihm diesen Brief; er wird euch ein zweiter Bruder Cristoforo sein. Und du, mein Renzo, du mußt dich jetzt vor deiner eigenen Wuth, wie vor der Wuth anderer sicher stellen. Nimm diesen Brief und trage ihn zu dem Pater Bonaventura aus Lodi, in unserm Kloster am Thore Orientale in Mailand. Er wird dich wie seinen Sohn halten, dich leiten, dir Arbeit verschaffen, bis du in der Heimat wieder ruhig leben kannst. Geht an das Ufer des Sees, dicht an der Mündung des Bione«, – dieser Fluß liegt wenig Schritte von Pescarenico – »dort werdet ihr einen Nachen sehen; ruft nur: Barke! Und wenn man euch fragt für Wen? dann antwortet: San Francesco. Die Barke wird euch aufnehmen und euch an das andere Ufer übersetzen, wo ihr einen Karren finden werdet, der euch geradewegs nach *** bringt.«
Wer etwa fragen könnte, wie Bruder Cristoforo diese Transportgelegenheiten zu Wasser und zu Lande so schnell zu ermöglichen wußte, der würde dadurch zu erkennen geben, daß er von der Macht eines im Rufe der Heiligkeit stehenden Kapuziners keinen Begriff habe.
Es bliebe also nur noch an die Verwahrung der Häuser zu denken. Der Pater empfing die Schlüssel derselben und übernahm es, sie denen zuzustellen, die Renzo und Agnese ihm bezeichnen würden. Die Letztere reichte ihm den ihrigen mit einem tiefen Seufzer dar, denn es fiel ihr ein, daß in diesem Augenblicke das Haus offen stand, daß der Teufel drin gehaust und daß wohl schwerlich etwas zu verwahren noch übrig sei!
»Ehe ihr aber aufbrecht«, sagte der Pater, »wollen wir Alle zusammen zu Gott beten, daß er euch auf diesem Wege geleite[158] und immerdar mit euch sei; daß er euch Kraft und Ausdauer schenke, seinen Willen zu vollbringen.« Bei diesen Worten kniete er nieder, die Andern mit ihm. Nachdem sie einige Minuten im Stillen gebetet hatten, erhob sich Bruder Cristoforo schnell und sagte: »Jetzt geht, Kinder, wir haben keine Zeit zu verlieren. Gott schütze euch; sein Engel geleite euch, geht!« Und während sie sich in jener Gemüthsbewegung, die keine Worte findet und doch so beredt ist, auf den Weg machten, fügte der Pater noch mit gerührter Stimme hinzu: »Mir sagt's das Herz, wir werden uns bald wiedersehen.«
So viel ist gewiß, wer auf das Herz hört, dem weissagt es immer etwas von dem, was geschehen wird. Aber was weiß denn das Herz? Es hat kaum eine Ahnung von dem, was schon geschehen ist.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Bruder Cristoforo schnell zurück. Die Reisenden verließen die Kirche, und Bruder Fazio schloß die Thüre und sagte ihnen gleichfalls mit bewegter Stimme Lebewohl. Jene machten sich still nach dem ihnen bezeichneten Ufer auf; sie sahen den Nachen bereit stehen, sie gaben das Losungswort und stiegen ein. Der Fährmann drückte mit dem Ruder gegen das Ufer und stieß ab; dann ergriff er auch das andere, ruderte mit beiden Armen und steuerte über die weite Fläche des Sees dem entgegengesetzten Ufer zu. Nicht ein Lüftchen wehte, glatt und eben lag der weite See da; er würde unbeweglich geschienen haben, wenn die volle Mondscheibe, die vom hohen Himmel herab sich darin spiegelte, nicht auf seiner Fläche geflimmert und gezittert hätte. Man hörte nur die todte, träge Welle, die sich an den Kieseln des Ufers brach, das ferne Rauschen des Wassers, das an den Brückenpfeilern hindurch strömte, und das gleichmäßige Schlagen der beiden Ruder, welche die dunkelblaue Fläche des Sees durchschnitten, triefend hervorkamen und wieder untertauchten. Während die Welle vom Nachen durchschnitten ward und hinter ihm wieder zusammenfloß, bezeichnete ein gekräuselter Streif, der vom Ufer sich immer weiter entfernte, den zurückgelegten Weg. Die schweigsamen Reisenden hatten das Gesicht zurückgewandt und blickten auf die Gebirge und auf die umherliegende[159] Ebene, auf die der helle Mond hie und da seine Schatten warf. Sie erkannten die Dörfer, die Häuser, die Hütten; sie erkannten Don Rodrigo's Schloß mit seinem flachen Thurme, wie es sich aus dem elenden Häuserhaufen am Abhange des Vorgebirges heraushob, gleich einem Wütherich, der zur Nachtzeit wacht und inmitten einer Schaar vor ihm liegender Schläfer dasteht und auf ein Verbrechen sinnt. Lucia sah ihn und schauderte; ihr Blick schweifte über den Abhang hinunter bis nach ihrem Dörfchen hin, sie erkannte am äußersten Ende desselben ihr Häuschen, sie sah das dichte Laub des Feigenbaumes, der über die Mauer des Hofes emporragte, sah das Fenster ihrer Stube; und wie sie am Boden der Barke da saß, legte sie den Ellenbogen auf den Rand, drückte die Stirn in die Hand, als wollte sie schlafen, und weinte heimlich.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
|
Buchempfehlung
Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«
52 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro