Elftes Kapitel.

[199] Wie eine Koppel Spürhunde, die vergebens einem Hasen nachgesetzt, mit gesenkter Schnauze und eingezogenem Schwanze zu ihrem Herrn zurückkommt, so kehrten die Bravi in jener wilden Nacht abgehetzt und muthlos nach dem Palaste Don Rodrigo's zurück. Dieser schritt im Dunkeln in einem alten, unbewohnten Zimmer des oberen Stockwerks, welches nach dem Platze herauslag, auf und nieder. Zuweilen stand er still, horchte auf und blickte durch die Spalten der morschen Fensterladen. Er war ungeduldig und unruhig, nicht allein über das Gelingen des Unternehmens, denn dieses war in der That das Aergste und Gewagteste, welches der gute Mann noch unternommen hatte, sondern auch wegen der Folgen, die es möglicherweise nach sich ziehen konnte. Der Gedanke jedoch, daß bei der That mit aller Vorsicht zu Werke gegangen würde und daß alles sorgfältig vermieden sei, was Verdacht erwecken könnte, ermuthigte ihn wieder. – Was den Verdacht betrifft – dachte er – den verlache ich. Den Wagehals möchte ich doch kennen lernen, der hier herauf käme, um zu sehen, ob ein Mädchen hier ist oder nicht. Den frechen Kerl wollten wir schön empfangen. – Auch der Mönch soll uns nur kommen, er soll nur kommen. Aber die Alte? sie wird nach Bergamo aufs Gericht laufen und alles zusammen schreien. Immerhin. Die Gerechtigkeit? Pah, die Gerechtigkeit! der Richter ist weder ein dummer Junge noch ein Narr. Und in Mailand? Wer kümmert sich in Mailand um das Volk hier? Wer wird sie anhören? Wer kennt das Gesindel, das vogelfrei umherläuft, das nicht einmal ein[199] Oberhaupt hat und Niemandem angehört? Weg damit, nur keine Furcht! Wie wird Attilio morgen früh sich erstaunen! Er wird sehen, ob ich nur ein ohnmächtiger Prahler bin. Und dann .... wenn wirklich die Geschichte unangenehm ablaufen sollte .... wenn irgend ein Feind diesen Streich benutzen wollte, oder was weiß ich .... so ist Attilio der Mann, der guten Rath bei der Hand hat, denn die Ehre der ganzen Verwandtschaft stünde hierbei auf dem Spiele. – Der Gedanke aber, bei dem er am meisten verweilte, weil er in ihm zugleich eine Beschwichtigung seiner Zweifel und eine Nahrung für seine Leidenschaft zu Lucia fand, war der Gedanke, wie er sie durch Schmeicheleien und Versprechungen für sich gewinnen wollte. – Sie wird sich so fürchten, sich hier allein unter all den Fratzen zu sehen, daß sie ..... denn meiner Treu, das menschlichste Ansehn habe ich hier, daß sie wohl ihre Zuflucht zu mir nehmen muß; sie wird mich sogar bitten .... und wenn sie mich bittet ....

Während er so alles sehr schön überlegte, hörte er ein Geräusch von Tritten; er geht ans Fenster, öffnet ein wenig und steckt den Kopf hinaus; sie sind es. – Und die Sänfte? Teufel! wo ist die Sänfte? – Drei, fünf, acht, keiner fehlt, auch der Graue ist dabei; aber die Sänfte haben sie nicht. Hölle und Teufel! das soll mir der Graue entgelten.

Als die Bande eingetreten war, stellte der Graue in einen Winkel des untern Zimmers seinen Pilgerstab, legte Hut und Mantel ab und ging, wie es sein Posten gebot, um welchen ihn in diesem Augenblicke Keiner beneidete, die Treppe hinauf, um Don Rodrigo über den Verlauf des Unternehmens Bescheid zu bringen. Dieser erwartete ihn schon oben an der Treppe und als er ihn mit der verlegenen, dummen Miene eines angeführten Schurken ankommen sah, schrie er ihm zu: »Nun, Herr Eisenfresser, Herr Klugsprecher, Herr Lassen-Sie-mich-nur-machen?«

»Es ist hart«, antwortete der Graue, auf der ersten Stufe stehen bleibend, »es ist hart, auch noch mit Vorwürfen überhäuft zu werden, nachdem man redlich wie für seine eigene Sache gehandelt und sogar noch sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt hat.«[200] »Wie ist es abgelaufen? Laß hören, laß hören«, sagte Don Rodrigo und schritt nach seinem Zimmer, wohin der Graue ihm folgte. Dieser stattete nun eiligst seinen Bericht ab; was er angeordnet und gethan, gesehen und nicht gesehen, was er gehört, gefürchtet und verhütet hatte; er erzählte dies Alles durcheinander, in der Verwirrung und Betäubung, wie sie natürlich nach solchen Vorfällen alle seine Vorstellungen beherrschen mußte.

»Du bist nicht Schuld daran, du hast dich gut dabei benommen«, sagte Don Rodrigo, »du hast deine Schuldigkeit gethan; aber ... aber wenn unter meinem Dache hier ein Spürhund wäre! Wenn einer hier ist und ich erwische ihn, und wir erwischen ihn gewiß, dann will ich ihn dir zurichten; ich sage dir, Grauer, ich will ihn durchgerben, daß ihm das Aufstehen schwer fallen soll.«

»Auch mir, Herr«, fuhr der Graue fort, »ist schon dieser Verdacht durch den Sinn gefahren; und wenn es so wäre, wenn sich ein solcher Hallunke hier fände, dann müssen der gnädige Herr ihn mir überliefern. Einen Kerl, der sich einen Spaß gemacht hat, mich eine solche Nacht erleben zu lassen, einen solchen Schuft muß ich ablohnen. Indessen, wenn ich mir alles so recht überlege, so hat es mir doch den Anschein, als müßte irgend eine Intrike dahinter stecken, aus der man noch nicht klug werden kann. Morgen, Herr, morgen soll uns darüber ein Licht aufgehen.«

»Seid ihr wenigstens nicht erkannt?«

Der Graue antwortete, daß er es nicht hoffe; und das Ende der Unterredung war, daß Don Rodrigo ihm für den nächsten Morgen drei Dinge anbefahl, auf welche dieser auch wohl von selbst verfallen wäre. Mit dem frühesten Morgen sollte er zwei Leute abschicken, um dem Schulzen jene gewisse Weisung zu ertheilen, was auch geschah, wie wir schon erfahren haben; zwei Andere sollten bei dem verfallenen Hause die Wache halten, um jeden Müßiggänger, der sich dort herumtrieb, zu verscheuchen und die Sänfte allen neugierigen Blicken zu entziehen; diese sollte in der nächsten Nacht abgeholt werden, weil man sich jetzt nicht rühren dürfe, um keinen Verdacht zu erregen; endlich sollte sich[201] der Graue selbst unter das Volk mischen und zugleich einige Andere, auf deren Klugheit und Schlauheit man sich verlassen könne, auf Entdeckungen aussenden, um die Ursache von dem Wirrwarr dieser Nacht zu erforschen. Nachdem Don Rodrigo diese Befehle gegeben, ging er schlafen und ließ auch den Grauen zu Bette gehen; er verabschiedete ihn mit vielen Lobeserhebungen, die offenbar die Absicht verriethen, ihm die übereilten Schimpfreden und Vorwürfe abzubitten, womit er ihn empfangen hatte.

»Geh schlafen, armer Grauer; du bist müde und die Ruhe wird dir gut thun. Armer Grauer! Du warst den ganzen Tag und die halbe Nacht hindurch auf den Beinen; dabei die Gefahr, den Bauern in die Klauen zu fallen, und um den Raub eines tugendhaften Mädchens dir noch einen Preis mehr auf deinen Kopf setzen zu lassen, als schon darauf stehen; und dann auf eine solche Weise empfangen zu werden! Aber so vergelten die Menschen fast immer die Treue. Du hast jedoch bei dieser Gelegenheit sehen können, daß die Vergeltung einmal an uns Alle kommt, früher oder später, aber sie kommt. Geh jetzt zu Bett; vielleicht belehrst du uns einst eines Bessern.«

Den nächsten Morgen hatte der Graue schon wieder alle Hände voll zu thun, als Don Rodrigo sich aus dem Bette erhob. Dieser suchte sogleich den Grafen Attilio auf, der, als er ihn hereintreten sah, ihm sogleich mit höhnischem Gelächter entgegenrief: »Sankt Martin, Vetter!«

»Ich kann Euch weiter nichts darauf antworten«, erwiderte Don Rodrigo und trat auf ihn zu, »als daß ich die Wette bezahle; aber das ist es nicht, was mich am meisten wurmt. Ich hatte Euch nichts davon gesagt, weil, ... ich gesteh' es, weil ich Euch diesen Morgen damit zu überraschen dachte. Aber ... ich will Euch jetzt Alles erzählen.«

»In dieser Geschichte hat auf jeden Fall der Mönch die Hand mit im Spiele«, sagte Graf Attilio, nachdem er alles mit gespannterer Aufmerksamkeit angehört hatte, als man von einem so wunderlichen Menschen hätte vermuthen sollen. »Jenen Mönch, sage ich Euch«, fuhr er fort, »der sich so dumm anstellte und so einfältige Reden führte, ihn halte ich für einen schlauen,[202] abgefeimten Schurken. Ihr habt mir niemals anvertraut und rein heraus gesagt, was für eine schöne Rede er Euch neulich hier gehalten hat.« – Don Rodrigo theilte die Unterredung mit dem Pater Cristoforo mit. – »Und so viel Ausdauer habt Ihr gehabt«, rief Graf Attilio aus, »und habt ihn so ruhig wieder abziehen lassen?«

»Hätte ich mir etwa alle Kapuziner in Italien auf den Hals hetzen sollen?«

»Ich weiß nicht«, bemerkte der Graf, »ob ich in dem Augenblick daran gedacht haben würde, daß außer diesem vermessenen Schurken noch andere Kapuziner in der Welt sind. Doch genug, ich lasse die Klugheit und Vorsicht gelten; giebt es denn aber gar kein Mittel, an so einem Kapuziner Rache zu nehmen? Man muß bei Zeiten seine Artigkeiten gegen den ganzen Orden verdoppeln und dann kann man auch einen Einzelnen einmal mit einem Dutzend Stockschlägen nach Hause schicken. Genug, er ist der Strafe jetzt entgangen, die ihm zukam; jetzt werde ich es mit ihm aufnehmen und will mir das Vergnügen machen, ihm beizubringen, wie man zu Unsersgleichen spricht.«

»Macht die Sache nur nicht schlimmer.«

»Verlaßt Euch nur auf mich, ich werde Euch als Verwandter und als Freund beistehen.«

»Was denkt Ihr zu thun?«

»Noch weiß ich es nicht; aber dem Mönch will ich den Kopf zurechtsetzen. Ich will es mir überlegen und ... der gräfliche Herr Oheim im geheimen Rathe kann mir diesen Dienst erweisen. Der liebe Oheim! Wie ergötzt es mich jedesmal, wenn ich ihn für mich kann arbeiten lassen, einen Politiker von diesem Kaliber. Uebermorgen bin ich in Mailand, und auf die eine oder die andere Weise soll der Mönch klug gemacht werden.«

Das Frühstück, welches unterdessen aufgetragen war, unterbrach dieses wichtige Gespräch nicht. Graf Attilio schwätzte, ohne sich stören zu lassen, fort; und obgleich er so lebhaften Antheil nahm, als die Freundschaft für seinen Vetter und die Ehre des gemeinsamen Namens nach den Vorstellungen, die er von Freundschaft und Ehre hatte, es forderten, so konnte er hin und[203] wieder sich doch nicht enthalten, über das Mißgeschick seines Vetters in ein lautes Gelächter auszubrechen. Don Rodrigo aber, der die Veranlassung davon war, weil er gemeint hatte, ganz in der Stille einen recht pfiffigen Streich auszuführen, der ihm nun durch den Lärm nicht gelungen war, wurde von stärkeren Leidenschaften bewegt und von verdrießlicheren Gedanken geplagt. »Eine schöne Klatscherei wird das Gesindel hier in der ganzen Gegend davon machen«, sagte er, »aber was geht's mich an? Die Gerechtigkeit verlache ich; Beweise haben sie nicht; und wenn sie auch welche hätten, ich würde sie auch verlachen. Aus Vorsicht habe ich aber diesen Morgen den Schulzen benachrichtigen lassen, er solle sich in Acht nehmen, von dem Vorfalle etwas bekannt zu machen. Es wird also nichts weiter erfolgen; wenn die Geschichte aber überall herumkäme, das würde mich ärgern. Es ist schon genug, daß ich auf so schändliche Weise angeführt bin.«

»Das habt Ihr sehr klug gemacht«, antwortete Graf Attilio. »Euer Bürgermeister hier ist ein Starrkopf, ein Dummkopf, ein langweiliger Kerl ....., dabei aber ein rechtschaffener Mensch, der seine Pflicht kennt; und wenn man mit solchen Leuten zu thun hat, muß man sich sehr in Acht nehmen, sie in böse Händel zu verwickeln. Wenn so ein Taugenichts von einem Schulzen eine Anzeige macht, so muß der Bürgermeister, und wenn er auch noch so wohlgesinnt ist, doch ....«

»Ihr aber«, unterbrach ihn Don Rodrigo ärgerlich, »Ihr verderbt mir meine Angelegenheiten mit euren ewigen Widersprüchen, Ihr gebt ihm immer gleich Eins drauf, sowie er den Mund aufthut und habt ihn bei Gelegenheit auch wohl zum Besten. Zum Teufel, kann denn ein Bürgermeister nicht ein Dummkopf sein, wenn er sonst nur ein Ehrenmann ist?«

»Wißt Ihr, Vetter«, sagte der Graf und blickte ihn verwundert an, »wißt Ihr, ich fange an zu glauben, daß Ihr Euch fürchtet? Ihr haltet den Bürgermeister für eine gar zu wichtige Person ....«

»Geht, geht, habt Ihr es nicht selbst ausgesprochen, daß man sich mit solchen Leuten in Acht nehmen muß?«[204]

»Das habe ich freilich gesagt, und handelt es sich wirklich um eine ernste Sache, so werde ich Euch beweisen, daß ich kein Kind bin. Wißt Ihr, was ich im Stande bin, für Euch zu thun? Ich bin entschlossen, stehenden Fußes dem Herrn Bürgermeister einen Besuch abzustatten. Wie wird er sich dadurch geehrt fühlen! Ich bin im Stande, Vetter, ihn eine halbe Stunde lang vom Grafen Herzog, von unserm spanischen Castellan schwätzen zu lassen, ihm in allen Stücken Recht zu geben, auch wenn er den gröbsten Unsinn hervorbrächte. Ich ließe dann so ein Wörtchen vom Grafen Oheim im geheimen Rathe fallen, und Ihr kennt die Wirkung, die solche Worte auf den Herrn Bürgermeister machen. Wenn wir die Sache genau betrachten, so bedarf er unser mehr als wir seiner.«

Nach diesen und ähnlichen Worten ging Graf Attilio auf die Jagd, und Don Rodrigo erwartete in ängstlicher Spannung die Rückkehr des Grauen. Um die Mittagsstunde kam dieser endlich zurück und stattete seinen Bericht ab.

Der Lärm in der Nacht war so arg gewesen, das Verschwinden der drei Menschen aus dem kleinen Dorfe war ein solches Ereigniß, daß natürlich aus Theilnahme sowohl als aus Neugierde die eifrigsten Nachforschungen angestellt wurden; und auf der andern Seite wußten schon zu Viele von der Sache, als daß man sie noch hätte verschweigen können. Perpetua durfte sich nur blicken lassen, so wurde sie auch schon von dem Einen oder dem Andern angehalten und mit Fragen bestürmt, wer denn eigentlich ihrem Herrn eine solche Angst und Furcht eingejagt habe; und dachte Perpetua über alle Umstände des Vorgefallenen nach, wie Agnese sie so listig angeführt hatte, dann gerieth sie über diese Falschheit in eine solche Wuth, daß es ihr ein wahres Bedürfniß war, ihrem Herzen Luft zu machen. Don Abbondio mochte ihr immerhin streng anbefehlen und sie herzlich bitten, still zu schweigen; sie wiederholte ihm stets, daß er gar nicht nöthig habe, ihr über eine so klare Sache, die sich von selbst verstünde, gute Lehren einzuschärfen. Gervaso, dem es ganz unglaublich vorkam, einmal mehr zu wissen als Andere und dem es kein geringer Ruhm schien, eine so große Angst ausgestanden zu haben, brannte vor[205] Verlangen, sich seines Heldenmuthes zu rühmen; und obgleich sein Bruder Tonio, der schon ängstlich an alle die Untersuchungen und Processe dachte, ihm unter allerlei Drohungen auf die Seele band, an Niemand etwas zu verrathen, so war es doch unmöglich, ihm den Mund zu stopfen. Uebrigens konnte auch Tonio, da er in jener Nacht zu ungewöhnlicher Stunde außer dem Hause gewesen und erst spät in sehr aufgeregtem Gemüthszustande heimkehrte, das Geschehene vor seinem Weibe nicht verhehlen; diese aber war auch nicht stumm. Wer am wenigsten sprach, war Menico; denn kaum hatte er seinen Eltern die Geschichte und den Grund seiner Absendung erzählt, so schien es diesen eine so fürchterliche Sache, daß ihr Sohn dazu geholfen habe, ein Vorhaben Don Rodrigo's zu hintertreiben, daß sie den Knaben mit seiner Erzählung gar nicht zu Ende kommen ließen. Sie befahlen ihm sogleich mit den stärksten Drohungen, er solle sich hüten, ein Wort davon zu verrathen; und als sie sich am folgenden Morgen auch dadurch noch nicht gesichert genug glaubten, beschlossen sie, ihn mehrere Tage unter Schloß und Riegel zu Hause zu halten. Aber siehe da! als sie darauf mit den Leuten aus dem Dorfe schwatzten und die Rede auf die Flucht unserer drei Unglücklichen, auf das Wie? Warum? das Wohin? kam, erklärten sie selbst, ohne daß sie es wollten, als sei es eine ganz bekannte Sache, daß die Aermsten sich nach Pescarenico geflüchtet. So kam auch dieser Umstand unter die Leute.

Bei all diesen Redereien, hier und da noch gehörig ausgeschmückt, wie es zu geschehen pflegt, kam am Ende eine Geschichte heraus, so wahr und überzeugend, daß sie auch der klügste Kopf nicht in Zweifel gezogen hätte. Nur der Einbruch der Bravi, der ein zu wichtiges Ereigniß war, um übergangen zu werden, ein Ereigniß, von dem Niemand eine genaue Kenntniß hatte, hüllte die Geschichte in Dunkel. Man murmelte den Namen Don Rodrigo's, und über diesen Punkt waren Alle einig; im Uebrigen herrschte die größte Unklarheit.

Der Graue hatte Don Rodrigo den ganzen Hergang ausführlich mitgetheilt und dieser war froh, daß kein Verräther dabei[206] im Spiele gewesen und daß seine Mitwirkung keine Spuren hinterlassen hatte; aber dies war nur eine vorübergehende Heiterkeit.

»Zusammen entflohen!« schrie er, »zusammen! Und dieser Schurke von Mönch! Dieser Mönch!« Er murmelte die Worte mit heiserer Stimme nur undeutlich zwischen den Zähnen, die an den Nägeln kauten; sein Anblick war widerwärtig, wie seine Leidenschaften. »Der Mönch soll es mir büßen, Grauer, oder ich bin nicht der ich bin .... ich muß wissen .... heute Abend noch muß ich es wissen, wo sie sind. Ich habe nicht eher Ruhe. Sogleich nach Pescarenico! geschwind, damit wir wissen, woran wir sind. Heute noch muß ich es wissen. Und dieser Schurke! .... dieser Mönch! ....«

Der Graue ging von Neuem auf Entdeckungen aus, und am Abend desselben Tages konnte er seinem würdigen Schutzherrn die gewünschte Nachricht überbringen; man höre, auf welche Weise.

Unser Autor hat nicht ergründen können, durch wie vieler Leute Mund das Geheimniß, welches der Graue erforschen sollte, schon gegangen war. So viel aber steht fest, daß der gute Mann, der die beiden Frauen nach Monza gebracht hatte, als er mit seinem Karren um die Vesperstunde nach Pascarenico zurückkehrte, ehe er noch sein Haus erreichte, einen guten Freund traf und diesem ganz im Vertrauen das gute Werk, das er gethan, und den Erfolg erzählte; ebenso ist es Thatsache, daß der Graue zwei Stunden darauf nach dem Palaste eilen konnte, Don Rodrigo zu hinterbringen, daß Lucia und ihre Mutter in einem Kloster in Monza eine Zufluchtsstätte gefunden hätten und daß Renzo nach Mailand gegangen sei.

Don Rodrigo empfand eine boshafte Freude über diese Trennung; er schöpfte wieder Hoffnung, seine schändliche Absicht zu erreichen. Er dachte über die Art und Weise einen großen Theil der Nacht hindurch nach und stand schon früh mit zwei Plänen auf, von denen der eine fest beschlossen und der andere schon entworfen war. Der erste war, den Grauen so schnell als möglich nach Monza zu schicken, um noch genauere Nachrichten über Lucia einzuziehen und zu erfahren, ob sich daselbst etwas unternehmen ließe. Sein Getreuer mußte also sogleich kommen; erdrückte ihm vier Scudi[207] in die Hand, lobte seine Gewandtheit, für die er sie verdient hatte, und gab ihm den schon vorher überlegten Auftrag.

»Herr ....«, sagte der Graue zögernd.

»Nun? habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?«

»Wenn Sie irgend einen Andern schicken könnten ...«

»Wie?«

»Gnädiger Herr, ich bin immer bereit, das Leben für Sie zu wagen; es ist meine Schuldigkeit; aber ich weiß auch, daß Sie das Leben Ihrer Untergebenen nicht tollkühn aufs Spiel setzen.«

»Nun weiter?«

»Euer Gnaden wissen, daß schon verschiedene Preise auf meinen Kopf gesetzt sind ... und ... hier bin ich unter Eurer Gnaden Schutz, hier sind wir eine ganze Bande, der Herr Bürgermeister ist ein Freund des Hauses, die Häscher haben Respekt vor mir, und auch ich – es ist nicht gerade ehrenvoll ... um ruhig zu leben ... behandle sie wie gute Freunde.«

»So wie in Mailand Euer Gnaden Livree bekannt ist, so kennt man mich in Monza. Und Euer Gnaden wissen, wer mich der Gerechtigkeit ausliefert, oder ihr meinen Kopf vorzeigt, ich sage es nicht, um mich zu rühmen, aber der würde einen guten Fang thun. Hundert Scudi, einen nach dem andern aufgezählt und das Recht, zwei Banditen frei zu machen.«

»Ei zum Teufel«, sagte Don Rodrigo, »so hab ich jetzt einen alten nichtsnutzigen Hund an dir, der kaum das Herz hat, von seinem Strohe aufzuspringen und einem Vorübergehenden in die Beine zu fahren ... der sich erst umsieht, ob ihm das Volk im Hause auch beisteht, und der sich nicht herauswagt!«

»Ich glaube doch Proben gegeben zu haben, gnädiger Herr ...«

»Also?«

»Also«, fuhr der Graue gereizt fort, als er sich so behandelt sah, »thun Euer Gnaden, als hätte ich nichts gesagt. Muthig wie ein Löwe, flink wie ein Hase, so bin ich bereit aufzubrechen.«

»Ich habe aber nicht gesagt, daß du allein gehen sollst. Nimm einige von den Besten mit ... die Schmarre und den Treffer. Gehe guten Muthes. Was Teufel! Wer würde drei solche Gesichter nicht gern ruhig vorbei lassen, wenn sie ihm in den Weg[208] kommen? Die Häscher in Monza müßten ihres Lebens sehr satt geworden sein, wenn sie es für hundert Scudi aufs Spiel setzen wollten. Und dann glaube ich auch nicht, so unbekannt dort zu sein, daß man es nicht für etwas gelten lassen sollte, mein Diener zu heißen.«

Nachdem er so den Grauen ein wenig beschämt hatte, gab er ihm noch genauere Anweisungen. Der Graue nahm die beiden Gefährten und zog mit heiterer, kecker Miene ab, obgleich er in seinem Herzen Monza, die Kopfpreise, die Frauen und die Grillen seines Herrn verwünschte.

Der andere Plan, den Don Rodrigo geschmiedet hatte, betraf die Art und Weise, wie man verhindern könnte, daß Renzo jemals wieder in Lucia's Nähe käme, noch je wieder einen Fuß ins Dorf setzte. Um diesen Zweck zu erreichen, beschloß er, Gerüchte von Drohungen und Verfolgungen aussprengen zu lassen, die irgend ein Freund ihm hinterbringen sollte, damit ihm die Lust verginge, sich in der Gegend wieder blicken zu lassen. Der sicherste Weg aber, dachte er, wäre, wenn man es fertig bringen könnte, ihn ganz aus dem Staate zu vertreiben; aber er sah ein, daß, um dies durchzusetzen, ihm die Gerechtigkeit weit mehr als die Gewalt dienen konnte. Man könnte zum Beispiel den gemachten Versuch im Pfarrhause als einen Ueberfall, als eine aufrührerische Handlung auslegen und mit Hilfe des Doktors dem Bürgermeister beibringen, daß dieser Fall durchaus einen scharfen Verhaftsbefehl gegen Renzo nöthig mache. Der kluge Mann bedachte jedoch auch sogleich, daß es sich für ihn nicht schicke, sich mit dem unsaubern Handel zu befassen, und ohne sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, beschloß er, den Doktor Händel-Fischer zu Rathe zu ziehen. – Gerichtliche Verordnungen haben wir genug! – dachte Don Rodrigo, und der Doktor ist keine Gans; irgend etwas wird er doch auffinden können, das für meine Angelegenheit zu brauchen ist, und das er dem Grobian anhängen kann; sonst taufe ich ihn um. – Aber ..... wie es oftmals in der Welt zugeht .... während Don Rodrigo an den Doktor, als an den fähigsten Mann dachte, der ihm hierbei dienen könnte, arbeitete schon ein anderer Mann, den Keiner errathen würde, denn Renzo[209] war es selbst, aus allen Kräften ihm in die Hände, sicherer und schneller als der Doktor es jemals mit all seinen Verordnungen und mit all seiner Schlauheit vermocht hätte.

Nach der schmerzlichen Trennung, von der wir erzählt haben, wanderte Renzo von Monza gegen Mailand. Wie ihm zu Muthe war, kann sich Jeder leicht denken. Er hatte sein Haus, seine Heimat verlassen, und was ihm am schmerzlichsten war, er hatte sich von Lucia trennen müssen. Wenn er über alle diese Dinge nachdachte, so ergriff ihn eine fürchterliche Wuth und er versank ganz und gar in Rachegedanken, so daß er auf dieser Reise Don Rodrigo wenigstens zwanzigmal in seinem Herzen leben und sterben ließ. Der Weg war von zwei hohen Ufern eingeschlossen, voll von Koth und Steinen, von tiefen Räderfurchen durchschnitten, stand nach einem starken Regen unter Wasser und war fast ungangbar. Hier und da zeigte ein schmaler, steiler Fußpfad, der sich stufenartig die eine Uferseite heraufzog, daß andere Wanderer ihren Weg durch die Felder genommen hatten. Renzo erstieg auf einem dieser Pfade die Anhöhe, schaute vor sich hin und sah nur den ungeheueren Dombau aus der Ebene emporragen, der nicht aus einer Stadt, sondern aus einer Wüste aufzusteigen schien. Der Jüngling vergaß sein Leid und stand still, um aus der Ferne dieses achte Wunder der Welt zu betrachten, von dem er in seiner Kindheit schon so viel sprechen gehört hatte. Als er sich aber nach einigen Minuten umwandte, gewahrte er am Horizonte die Spitzen der Gebirge, die sich hier und da erhoben; er sah deutlich seinen Resegone hervorragen und fühlte sein Herz bei diesem Anblick stärker schlagen; traurig stand er eine Weile still, dann drehte er sich rasch um und setzte seinen Weg fort. Allmählich entdeckte er Thürme, Kirchenspitzen, Kuppeln und Dächer; so wanderte er noch eine Strecke fort und als er erkannte, daß er der Stadt ziemlich nahe war, trat er auf einen Wanderer zu, grüßte ihn höflich und sagte: »Erlauben Sie, mein Herr.« –

»Was wollt Ihr, junger Mensch?«

»Könnten Sie mir wohl den kürzesten Weg angeben, um zu dem Kapuzinerkloster zu kommen, wo Pater Buonaventura wohnt?«[210] Der Mann, an welchen Renzo sich wandte, war ein wohlhabender Bewohner der Umgegend, der sich am Morgen dieses Tages in Geschäften nach Mailand begeben hatte, und der jetzt unverrichteter Sache zurückkehrte. Da er sehr eilig war und so schnell als möglich wieder zu Hause sein wollte, so ließ er sich durch diese Anrede nur ungern aufhalten. Ohne jedoch seine Ungeduld merken zu lassen, antwortete er höflich: »Mein lieber Sohn, es giebt hier in Mailand der Klöster mehr als eins; Ihr müßt mir genauer angeben, welches Ihr sucht.«

Renzo zog nun den Brief des Paters Cristoforo aus seinem Busen und zeigte ihn dem Manne, der, nachdem er die Aufschrift »am Thore Orientale« gelesen, ihm denselben zurückgab und sagte: »Das trifft sich gerade gut, junger Mensch; das Kloster, das Ihr sucht, ist nicht mehr weit von hier. Schlagt diesen kleinen Weg da zur Linken ein, er ist der kürzeste; nach einigen Minuten werdet Ihr an ein langes, niedriges Gebäude kommen, das ist das Krankenhaus; haltet Euch nur immer an den Graben, der da vorbeifließt, so gelangt Ihr an das Thor Orientale. Wenn Ihr hineingetreten seid, so werdet Ihr nach drei- oder vierhundert Schritten einen Platz mit schönen Ulmen vor Euch sehen; dort ist das Kloster. Ihr könnt's nicht verfehlen. Gott mit Euch, mein Sohn.« Er begleitete die letzten Worte mit einer freundlichen Handbewegung und ging weiter. Renzo blieb ganz erstaunt stehen und konnte sich nicht genug wundern, daß die Städter ein so artiges Benehmen gegen die Landleute hatten; er wußte nicht, daß dies ein außergewöhnlicher Tag war, ein Tag, an welchem die Mäntel sich vor den Jacken erniedrigten. Er schlug den ihm bezeichneten Weg ein und erreichte das Thor Orientale. Der Leser muß sich aber bei diesem Namen nicht etwa die Vorstellungen machen, die jetzt damit verbunden sind. Als Renzo durch das Thor trat, ging der Weg außerhalb, das ganze Krankenhaus gerade entlang, dann aber lief er krumm und eng zwischen zwei Hecken hin. Das Thor bestand aus zwei Pfeilern, über welchen ein Dach, um die Flügel zu schirmen; auf der einen Seite befand sich ein ärmliches Haus für den Zolleinnehmer. Die Basteien senkten sich in unregelmäßigen Abhängen herab, der[211] Boden war eine feuchte, unebene Fläche mit Schutt und Scherben bedeckt, die zufällig hingeworfen waren. Die Straße der Vorstadt, die sich dem Hineintretenden durch dieses Thor öffnete, könnte man sehr richtig mit derjenigen vergleichen, in die man heute durch das Tosathor gelangt. Ein kleiner Graben durchlief sie in der Mitte bis auf wenige Schritte vom Thore und theilte sie dann in zwei kleine Wege, die je nach der Jahreszeit voll Staub und Schmutz lagen. Da, wo jetzt noch das Gäßchen, die Borghetto genannt, mündet, floß der Graben in einen andern Fluß, der längs der Mauer hinlief. Hier stand eine Säule mit einem Kreuze dar auf, die Säule des heiligen Dionysius genannt; rechts und links waren Gärten, hin und wieder von Bleichern bewohnte Hütten.

Renzo ging durch das Thor; keiner der Zollbeamten achtete auf ihn. Das ist ihm etwas ganz Neues; denn von den Wenigen aus seinem Dorfe, welche sich rühmen konnten, in Mailand gewesen zu sein, hatte er Wunderdinge erzählen gehört, wie Jeder, der von außerhalb in die Stadt kam, mit Fragen und Untersuchungen geplagt würde. Die Straße war menschenleer, und hätte er nicht ein fernes Geräusch gehört, welches eine große Bewegung verrieth, so würde er geglaubt haben, er befinde sich in einer ganz verlassenen Stadt. So schritt er vorwärts und wußte nicht, was er davon denken sollte; da wurde er auf dem Pflaster weiße Streifen gewahr, als wäre es Schnee; aber Schnee konnte es nicht sein, der fällt weder in Streifen, noch um diese Jahreszeit. Er bückte sich, sah genauer hin, untersuchte mit den Händen und erkannte, daß es Mehl war. – Hier in Mailand – dachte er – muß ein großer Ueberfluß sein, wenn man die Gottesgabe auf diese Weise verschwendet. Uns wollen sie weiß machen, daß die Theuerung überall sei, hier ist aber nichts davon zu merken. Da sieht man, wie sie es machen, um die armen Leute auf dem Lande hinzuhalten. – Aber kaum war er einige Schritte weiter gegangen und kam an die Säule, so erblickte er am Fuß derselben etwas noch Seltsameres; auf den Stufen des Untergestelles sah er Dinge liegen, die sicherlich keine Kieselsteine waren, und hätten sie auf dem Brette in einem Bäckerladen gelegen, so würde[212] er keinen Augenblick angestanden haben, sie für Brode zu halten. – Wir wollen doch einmal untersuchen, was es ist – dachte er – und trat dicht an die Säule heran, bückte sich und nahm eines dieser seltsamen Dinge auf; es war wirklich ein rundes weißes Brod, so weiß wie Renzo es nur an Festtagen zu verzehren pflegte. – Wahrhaftig, es ist Brod! – sagte er laut, so groß war seine Verwunderung; wirft man hier zu Lande so damit herum? bei dieser Theuerung? und es nimmt sich nicht einmal Einer die Mühe, es aufzuheben, wenn er es liegen sieht? Ist hier vielleicht das gelobte Land? – Nach zehn Meilen Weges in der frischen Morgenluft erregte das Wunderbrod seine Eßlust. – Soll ich davon essen? – überlegte er – Pah! sie haben es hier für die Hunde hingeworfen; so wird sich wohl auch ein ehrlicher Christ daran satt essen dürfen. – Und wenn wirklich der Eigenthümer dazu kommt, so bezahle ich's ihm. – Indem er so dachte, steckte er das Brod, welches er schon in der Hand hatte, in die Tasche, nahm noch eins auf, steckte es in die andere Tasche und fing davon an zu essen. So machte er sich wieder auf den Weg und war begierig, über diese Begebenheit aufgeklärt zu werden. Kaum hatte er einige Schritte gethan, so sah er aus dem Innern der Stadt Leute daherkommen und faßte die ersten, die sich zeigten, aufmerksam ins Auge. Es war ein Mann, eine Frau, und einige Schritte dahinter ein Knabe; alle drei trugen eine Last auf dem Rücken, die über ihre Kräfte zu gehen schien; sie waren in einem seltsamen Aufzuge. Die Kleider, oder vielmehr die Lumpen voller Mehl, die Gesichter, die erhitzt und verzerrt waren, auch voller Mehl. Sie schleppten sich mühsam fort, als hätten sie zerbrochene Glieder. Der Mann trug mühsam einen großen Mehlsack auf den Schultern; dieser hatte hier und da Löcher, durch welche bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung etwas herausfiel. Noch übler aber war das Aussehen der Frau; ein unförmlich dicker Bauch, Arme, die ihn nur mühsam zu halten schienen und die zwei gebogenen Eimerhenkeln glichen; die Füße, die vorwärts wankten, waren bis zum Knie entblößt. Renzo sah genauer hin und erkannte, daß der dicke Bauch ein Rock war, den die Frau aufgenommen hielt; er war mit Mehl gefüllt, so viel er nur fassen[213] konnte und noch darüber, so daß bei jedem Schritt ein weiße: Staub aufflog. Der Knabe trug auf dem Kopfe mit beiden Händen einen Korb voll Brode; da er aber kleinere Beine als seine Eltern hatte, so blieb er immer ein wenig hinter ihnen zurück, und wenn er dann anfing zu laufen, um sie wieder einzuholen, verlor der Korb das Gleichgewicht und einige Brode fielen auf die Erde.

»Wenn du noch eins fallen läßt, du Taugenichts« – sagte die Mutter mit den Zähnen knirschend und sah grimmig den Jungen an.

»Ich lasse sie nicht fallen, sie fallen von selbst heraus«, antwortete der Junge. »Wie soll ich es denn machen?«

»Sei froh, daß ich die Hände nicht frei habe«, fing die Frau wieder an und bewegte die Fäuste, als wollte sie dem armen Jungen einen Hieb versetzen. Bei dieser Bewegung stieg eine neue Mehlwolke auf, aus der man hätte mehr backen können, als die zwei Brode, die der Knabe hatte fallen lassen.

»Nur vorwärts, vorwärts«, sagte der Mann, »wenn wir zurückkommen, wollen wir sie wieder aufnehmen, wenn sie nicht ein Anderer aufnimmt. Wir haben lange genug Elend und Noth ausgehalten; jetzt, wo wir einmal etwas haben, wollen wir es auch in Ruhe und Friede genießen.«

Während dessen kamen noch mehr Leute dazu; Einer trat auf die Frau zu und fragte sie: »Wo holt man das Brod her?«

»Vorwärts, vorwärts«, erwiederte sie, und als sie etwa zehn Schritte weit entfernt waren, sagte sie mürrisch: »Diese Bauernschelme möchten auch noch die Backöfen und die Vorrathskammern ausräumen, damit für uns gar nichts mehr übrig bleibt.«

»Es kriegt ein Jeder genug, du Quälgeist«, sagte der Mann.

Aus Diesem und Aehnlichem, was Renzo sah und hörte, fing er an zu begreifen, daß er sich in einer aufrührerischen Stadt befinde und dies ein Tag der Plünderung sei, wo nämlich ein Jeder nach Herzenslust zugriff und mit Schlägen bezahlte. So sehr wir nun auch wünschen, unsern armen Bergbewohner eine gute Rolle spielen zu lassen, so zwingt uns doch die historische Treue, zu gestehen, daß diese Zustände sich im ersten Augenblicke[214] seines Beifalls erfreuten. Er hatte so wenig Ursache, mit dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zufrieden zu sein, daß er sich geneigt fühlte, jede Veränderung, wie sie auch sei, zu billigen. Und da er übrigens kein Mann war, der sich über sein Jahrhundert erhob, so theilte er auch die allgemeine Meinung und legte die Theuerung des Brodes den Aufkäufern und Bäckern zur Last; er hielt daher jedes Mittel für recht und gut, das diesen Wucherern die Nahrungsmittel entriß, die sie, nach jener Meinung, einem ganzen hungrigen Volke vorenthielten. Jedoch beschloß er, sich von dem Aufruhr fern zu halten und war froh, auf dem Wege zu einem Kapuziner zu sein, bei dem er bleiben konnte und der sich seiner annehmen wollte. So schritt er nachdenklich weiter, betrachtete die glücklichen Eroberer, die, mit Beute beladen, heimzogen, und erreichte nach einer kurzen Strecke das Kloster.

Wo sich jetzt der schöne Palast mit dem hohen Altane erhebt, war damals und noch vor wenigen Jahren ein kleiner Platz und am Ende desselben die Kirche und das Kloster der Kapuziner, vor welchem vier große Ulmen standen.

Wir wünschen nicht ohne Neid denjenigen unserer Leser Glück, die diesen Zustand der Dinge – denn die Unruhstifter waren noch zu jung, um über ihren Unfug nachzudenken – nicht mitangesehen haben.

Renzo ging gerade auf die Pforte des Klosters zu, steckte das übrige halbe Brod in den Busen, nahm den Brief hervor, um ihn sogleich bei der Hand zu haben, und zog die Klingel. Es öffnete sich ein Pförtchen mit einem Gitter, an dem sich der Bruder Pförtner zeigte, welcher fragte, wer da sei.

»Einer vom Lande, der dem Pater Buonaventura einen wichtigen Brief vom Pater Cristoforo bringt.«

»Gebt her«, sagte der Pförtner und steckte die Hand durchs Gitter.

»Nein, nein«, sagte Renzo, »ich muß ihn in seine eigenen Hände abgeben.«

»Er ist jetzt nicht im Kloster.«

»So erlaubt, daß ich eintrete und ihn erwarte.«[215] »Thut, wie ich Euch sage«, antwortete der Mönch, »geht so lange, bis er zurückkehrt, in die Kirche und betet. In das Kloster darf ich jetzt Niemand einlassen.« Mit diesen Worten verschloß er das Pförtchen wieder.

Renzo blieb, mit seinem Brief in der Hand, verdutzt stehen. Er that ungefähr zehn Schritte nach der Kirchthüre zu, um dem Rathe des Pförtners zu folgen; aber es fiel ihm ein, doch erst noch einmal nach dem Aufruhr zu sehen. Er ging über den kleinen Platz, trat an die Ecke der Straße, blieb mit über der Brust verschränkten Armen stehen und blickte dahin, wo das Gewühl am dichtesten und am lärmendsten war. Der Strudel zog den Zuschauer an. – Ich will mir doch die Sache einmal mitansehen – dachte er – zog das Brod wieder hervor und machte sich kauend auf den Weg.

Wir wollen indessen so kurz als möglich die Ursachen und den Anfang jenes Aufruhrs erzählen.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 199-216.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten. Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert
Die Verlobten: Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert (insel taschenbuch)
Die Verlobten: Eine Mailändische Geschichte aus dem Siebzehnten Jahrhundert

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon