Siebenzehntes Kapitel.

[295] Ein Wunsch ist oftmals schon genug, um den Menschen zu verstimmen; nun denke man sich, wenn zwei auf einmal ihn beherrschen, der eine mit dem andern im Kampfe. In dem armen Renzo tobten schon seit mehreren Stunden zwei solcher Wünsche; er wollte seinen Weg fortsetzen, und zugleich sollte ihn Niemand sehen. Die unglücklichen Reden des Kaufmanns hatten diese beiden Wünsche über alle Maßen gesteigert. Sein Abenteuer hatte also Lärm gemacht; man ging darauf aus, ihn einzufangen; wer weiß, wie viele Häscher unterwegs waren, um auf ihn Jagd zu machen! Als er Gorgonzola verließ, läuteten die Glocken zum Ave Maria, und die einbrechende Dunkelheit ließ die Gefahr immer mehr verschwinden; dennoch blieb er nur sehr ungern auf der Landstraße, und nahm sich vor, den ersten Seitenweg einzuschlagen, der ihm die Richtung zu verfolgen schien, die er zu nehmen hatte. Die vereinzelten Wanderer, die er anfangs noch traf, redete er nicht an; seine ängstliche Besorgniß, sich zu verrathen, band ihm die Zunge. Bald darauf bemerkte er zur Linken einen kleinen Nebenweg, den er einschlug. Wenn er jetzt Jemand angetroffen hätte, so würde er nicht mehr Anstand genommen haben, ihn nach dem Wege zu fragen; aber es zeigte sich keine Seele. Er ging also immer vorwärts.

Die Furcht vor Verfolgung oder Entdeckung, die ihm die Reise am Tage so sehr verbittert hatte, beunruhigte ihn jetzt nicht mehr; aber wie viele andere Dinge bestürmten ihn um so gewaltsamer! Die Finsterniß, die Einsamkeit, die immer mehr zunehmende, fast schon schmerzhafte Ermüdung; es wehte ein stiller, gleichmäßiger, aber scharfer Nachtwind, der ihm nur schädlich sein[295] konnte, denn er war noch in denselben Kleidern, in welchen er zur Trauung gehen und darnach sogleich im Triumphe nach Hause zurückkehren wollte; was aber seine Lage noch mühseliger machte, war das Herumwandern auf's Gerathewohl, dies Suchen nach einem sichern Ruhepunkt.

Wenn es sich traf, daß er durch irgend ein Dorf mußte, so schlich er behutsam vorwärts, schaute sich jedoch überall um, ob irgendwo eine Thür noch offen stände; aber er sah nichts als hier und da einen schwachen Lichtschein, der durch irgend ein papiernes Fenster schimmerte und der vermuthen ließ, daß die Leute im Hause noch wachten. Wenn er sich auf der einsamen Landstraße allein befand, so blieb er oft stehen und horchte, ob er nicht das erwünschte Geräusch der Adda vernähme; aber vergebens. Er hörte nichts als Hundegeheul, welches bald kläglich, bald drohend aus irgend einem einsamen Gehöfte durch die Lüfte drang. Näherte er sich einem solchen, so ging das Geheul in ein heftiges, wüthendes Bellen über, und wenn er vor der Thür vorüberging, sah er, wie das grimmige Thier mit der Schnauze wüthend fast gegen die Thür stieß und sein Geheul noch verdoppelte; dann verging ihm die Lust anzuklopfen und um ein Obdach zu bitten. Wenn aber auch kein bellender Hund dagewesen wäre, so würde er doch nicht den Versuch gewagt haben. –

So ging's weiter und immer weiter; endlich kam er in eine Gegend, wo das angebaute Land sich in eine Haide von Binsen und Farrenkraut verlor. Er meinte aus diesen Zeichen auf die Nähe eines Flusses schließen zu dürfen und wanderte auf dem Fußpfade immer weiter in die Haide hinein. Nach einigen Schritten stand er still und horchte; umsonst. Die Trostlosigkeit der Wanderung wuchs mit der Oede der Gegend; kein Maulbeerbaum, keine Rebe, noch irgend ein anderes Zeichen des menschlichen Fleißes, woran er vorher auf seinem Wege noch eine Art Unterhaltung gefunden hatte. Nichtsdestoweniger schritt er immer vorwärts, und um gewisse Bilder und Erscheinungen, von denen er als Kind hatte erzählen hören, sich aus dem Sinne zu schlagen oder zu beschwichtigen, sagte er im Gehen mit halblauter Stimme Gebete für die Todten her.[296]

Nach und nach gerieth er zwischen höheres Gesträuch von Dorngebüsch, Schlehen und jungen Eichen. Er schritt immer vorwärts, viel mehr aus Ungeduld, als aus Lust; hin und wieder erblickte er einen einzelnen Baum, und bemerkte endlich, noch immer denselben Fußpfad verfolgend, daß er in einen Wald trat. Er empfand einen gewissen Schauder, hinein zu gehen; doch überwand er ihn und schritt gleichsam wider Willen vorwärts. Je tiefer er hinein kam, je unheimlicher wurde ihm zu Muth. Die Bäume, die er von Weitem sah, stellten sich ihm als seltsame, unförmliche Wundergestalten dar; der Schatten der leicht bewegten Wipfel, der auf dem mondhellen Pfade zitterte, erfüllte ihn mit grauenhaften Gefühlen; selbst das Rascheln der trockenen Blätter unter seinen Füßen klang seinem Ohre widerwärtig. Die Beine wollten immer vorwärts eilen, und doch vermochten sie ihn kaum noch vor Müdigkeit zu tragen. Kalt und feucht blies ihm der Nachtwind ins Gesicht; es schauerte ihn und der letzte Rest von Lebenskraft schien ihm zu schwinden. Es war ihm, als wollte der Unmuth und das Entsetzen, mit welchen seine Seele schon eine Weile kämpfte, ihn plötzlich übermannen. Er war nahe daran, ganz zu verzagen; er fürchtete sich vor sich selber und versuchte den alten Muth in sein Herz wieder zurückzurufen. Indem er sich so auf einen Augenblick wieder neu belebt fühlte, stand er still und sann nach; er beschloß, auf dem schon zurückgelegten Wege die Wildniß wieder zu verlassen und auf das letzte Dorf, durch welches er gekommen, geradeweges loszugehen, zu Menschen zurückzukehren und dort, wär's auch in einem Wirthshause, ein Obdach zu suchen. Während er noch so dastand, während das Geräusch seiner Tritte im Laubwerk am Boden schwieg, und kein Laut sich rings umher vernehmen ließ, da ist ihm, als höre er ein fernes Gemurmel, das Rauschen eines Flusses. Er steht ganz Ohr; es ist kein Zweifel mehr, »es ist die Adda!« ruft er laut in seiner Herzensfreude aus, als hätte er einen Bruder, einen Freund, einen Retter aus der Noth, gefunden. – Verschwunden ist die Ermüdung, das Blut strömt wieder in den Adern, er fühlt sich frei und leicht, die Seele faßt neuen Muth, die Furchtbarkeit seiner Lage ist gehoben, und keinen Augenblick besann er sich, dem rettungbringenden Geräusche[297] der Wellen folgend, sich immer weiter in den Wald hinein zu vertiefen.

Nach wenigen Minuten gelangte er an das Ende der Ebene, an den Rand eines hohen Ufers, blickte durch die Gebüsche, welche es weit umher bedeckten, und sah in der Tiefe das fließende Wasser glänzen. Dann erhob er den Blick und sah die weite Ebene des andern Ufers, an dem hier und da eine Dorfschaft lag, darüber hinaus Anhöhen, und auf einer derselben gewahrte er eine große weiße Fläche, in welcher er eine Stadt zu erkennen meinte, die gewiß keine andere als Bergamo war. Er stieg von dem Abhang ein wenig herunter, bog mit Armen und Händen das Gesträuch auseinander, blickte hinab, ob vielleicht irgend eine Barke auf dem Flusse zu sehen sei, und lauschte, ob sich Ruderschläge vernehmen ließen; doch er sah und hörte nichts. Wäre es ein kleineres Wasser gewesen, so würde Renzo sich schnell hinein gemacht haben, um es zu durchwaten; bei der Adda aber, wußte er wohl, war ein solcher Versuch nicht ohne Gefahr zu wagen.

Indessen ging er ruhig und kaltblütig mit sich selbst zu Rathe, was er beginnen sollte. Auf einen Baum klettern und dort die Morgenröthe erwarten, die vielleicht noch sechs Stunden ausbleiben konnte, bei der Nachtluft, in solcher Kleidung würde ihn die Kälte ganz erstarrt haben. Die ganze Zeit über hin und her laufen, um sich in Bewegung zu erhalten, würde gegen die feuchte kalte Luft wenig geholfen haben; auch hätte er seinen armen Beinen zu viel zugemuthet, die schon mehr als ihre Schuldigkeit geleistet hatten. Da fiel ihm ein, daß er auf einem der Felder an der wüsten Haide eine der kleinen Hütten gesehen hatte, welche mit Stroh gedeckt, aus Stämmen und Zweigen gebaut, die mit Lehm verbunden sind, den mailändischen Bauern dazu dienen, um während des Sommers die Ernte der benachbarten Felder aufzubewahren, und in denen sie die Nacht zuzubringen pflegen, um ihr Gut zu bewachen; in den übrigen Jahreszeiten stehen sie verlassen. Renzo gedachte sogleich die Hütte zu seiner Nachtherberge zu wählen; er machte sich auf dem Fußpfad wieder zurück, ging durch den Wald, durch Gebüsch und Haide, kam auf das beackerte Feld und schritt auf die Hütte zu. Eine kleine wurmstichige, auseinander[298] gegangene Thür, ohne Schloß und Riegel, war an den Eingang angelehnt. Renzo öffnete sie und trat hinein. Drinnen sah er ein Geflecht aus Bast und Zweigen liegen, eine Art Hängematte; auf dem Boden lag etwas Stroh herum, und er dachte, daß sich hier wohl ein angenehmes Schläfchen halten ließe.

Ehe er sich aber auf das Lager hinstreckte, welches ihm die Vorsehung bereitet hatte, knieete er nieder, um ihr für diese Wohlthat und für allen Beistand, den sie ihm in diesen schrecklichen Tagen geleistet hatte, zu danken. Darnach sprach er sein gewöhnliches Gebet und bat Gott um Vergebung, daß er es am Abend vorher unterlassen hatte, und, um mit seinen eigenen Worten zu reden, wie ein Hund schlafen gegangen sei, wenn nicht gar noch ärger.

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, so begann in seiner Erinnerung, oder in seiner Einbildung – ich vermag nicht genau zu sagen wo – ein solches Hin- und Herwogen von Menschen, daß an Schlaf für ihn nicht zu denken war. Der Kaufmann, der Notar, die Häscher, der Schwertfeger, der Gastwirth, Ferrer, der Proviantverwalter, die Gesellschaft im Wirthshause, all das Getümmel in den Straßen, dann Don Abbondio, Don Rodrigo, alle diese Gestalten, mit denen Renzo zu thun gehabt hatte und deren Erinnerung mit Schmerz oder Groll vermischt war, stiegen vor ihm auf.

Nur an drei Gestalten knüpften sich für ihn keine bitteren Erinnerungen und unter diesen waren es vorzüglich zwei, die, obwohl sehr verschieden von einander, doch in dem Herzen des Jünglings eng verbunden waren: ein schwarzer Zopf und ein weißer Bart. Was für eine Nacht, armer Renzo! welche die fünfte seines Ehestandes hätte sein sollen! Was für ein Hochzeitbette! nach was für einem Tage! und was wird der nächste Morgen bringen, was für Tage werden ihm noch folgen! – Wie Gott es will – dachte Renzo. Sein Wille geschehe. Er wird uns nicht lange, nicht lange leiden lassen. So seufzte er dem kommenden Morgen entgegen und maß mit Ungeduld den trägen Lauf der Stunden. Er maß ihn, sage ich, denn mit jeder halben Stunde hörte er in der tiefen Stille, die rings umher herrschte, die lauten Schläge einer[299] Thurmuhr. Ich denke mir, es muß die Uhr von Trezzo gewesen sein. – Als die Glockenschläge zum ersten Male so ganz unerwartet an sein Ohr schlugen, ohne daß er sich irgend eine Vorstellung machen konnte, woher sie kämen, machten sie einen geheimnißvollen, feierlichen Eindruck auf ihn, wie die Warnungsstimme eines unbekannten Wesens.

Endlich schlug die Glocke fünf Uhr. Um diese Zeit wollte Renzo wieder aufbrechen. Er richtete sich halb erstarrt in die Höhe, kniete, sprach andächtiger als sonst sein Morgengebet, streckte und reckte die Glieder, um sie wieder zu beleben, blies in die Hände, rieb sie und öffnete dann die Hütte. Zuerst ließ er die Augen rings umher schweifen, ob vielleicht Jemand in der Nähe zu sehen wäre; da sich aber Niemand blicken ließ, so versuchte er den Fußsteig vom vorigen Abend wieder zu finden; er fand ihn bald und setzte seinen Weg fort.

Der Himmel verhieß einen schönen Tag; auf der einen Seite stand der blasse Mond und blickte glanzlos aus dem unermeßlichen Raume eines gräulich schimmernden Himmelsblau, das sich gegen Osten hin in ein gelbliches Rosenroth auflöste. Tiefer unten am Horizonte zogen sich einige dunkelblaue Wolken zusammen; die fernsten waren mit einem feurigen Streifen umsäumt, der immer klarer und heller wurde; im Süden zogen andere leichte Wölkchen herauf und glänzten, so zu sagen, in tausend unbestimmten Farben; es war der lombardische Himmel in seiner ruhigen Schönheit und Pracht. Wenn Renzo sich zu seinem Vergnügen hier befunden hätte, so würde er gewiß aufwärts geschaut und diese Morgendämmerung bewundert haben, die ein ganz anderes Ansehen hatte, wie er sie in seinen Bergen gewohnt war zu sehen; aber er achtete nur auf seinen Weg, schritt eilig vorwärts, um sich zu erwärmen und schnell das Ziel zu erreichen. Er ging durch Felder, durch Gestrüpp und Büsche hindurch, durchzog den Wald, schaute sich nach allen Seiten um, und fast schämte er sich jetzt seiner Angst und Furcht, die er vor wenig Stunden erst hier ausgestanden hatte. So kommt er an das Ufer des Flusses und schaut hinab; zwischen den Hecken hindurch erblickt er einen kleinen Fischernachen, der langsam stromaufwärts fährt und sich dicht an den Rand des Ufers[300] hält. Augenblicklich klettert er auf dem kürzesten Wege zwischen den Dorngebüschen hinab und steht am Ufer; er ruft ganz leise dem Fischer zu und winkt ihm, als wollte er ihn um einen nur ganz geringfügigen Dienst bitten, daß er landen möchte. Der Fischer überläuft mit einem Blick das ganze Ufer, blickt aufmerksam vor sich und hinter sich, wird endlich unsers Renzo ansichtig und landet. Renzo, der am äußersten Rande des Ufers mit einem Fuße schon fast im Wasser stand, erfaßt die Spitze des Nachens und springt hinein.

»Würdet Ihr mich wohl für Geld und gute Worte«, sagte er, »nach dem andern Ufer übersetzen?«

Der Fischer hatte es schon errathen und lenkte den Nachen nach jener Seite hin. Während dessen sah Renzo auf dem Boden der Barke ein anderes Ruder liegen, bückt sich und ergreift es.

»Sachte, sachte«, rief ihm der Schiffer zu; als er aber sah, mit welcher Geschicklichkeit der Jüngling das Ruder zu handhaben wußte, sagte er: »Aha, ich sehe wohl, Ihr versteht das Handwerk.«

»Ein Bischen«, antwortete Renzo und setzte das Ruder mit einer Kraft und Gewandtheit in Bewegung, die den Meister verrieth. Indem er so rüstig zuruderte, warf er zuweilen einen scheuen Blick nach dem Ufer, von welchem sie sich entfernten, schaute dann ungeduldig nach dem andern hinüber und es verdroß ihn, daß sie die Ueberfahrt nicht schneller machen konnten, weil der Strom zu reißend war, um ihn geradeweges zu durchschneiden; die Barke mußte theils mit der Strömung, theils gegen dieselbe hinüber zu kommen suchen. Wie in allen nicht ganz reinen Angelegenheiten die Schwierigkeiten erst während der Ausführung sich zeigen, so empfand auch unser Renzo jetzt, als er die Adda so zu sagen fast hinter sich hatte, eine peinliche Unruhe, weil er nicht sicher war, ob an jenem Ufer auch wirklich die Grenze sei, oder ob nicht vielleicht nach Ueberwindung dieses Hindernisses ihm wieder ein neues entgegentrete. Er rief also dem Fischer zu und deutete mit dem Kopfe nach jener weißen Fläche, die schon in der Nacht vorher seine Aufmerksamkeit erregt hatte und die ihm[301] jetzt noch deutlicher erschien. »Ist jene weiße Fläche dort Bergamo?« fragte er.

»Die Stadt Bergamo«, antwortete der Fischer.

»Und jenes Ufer dort ist auch bergamaskisch?«

»Das Land steht unter dem Schutze San Marco.«

»San Marco soll leben!« rief Renzo. Der Fischer schwieg.

Sie stoßen endlich ans Ufer; Renzo springt aus der Barke, dankt Gott still in seinem Herzen und dem Fährmann mit Worten; dabei griff er in die Tasche, zog eine Berlinga heraus, was bei seinen Umständen jetzt keine kleine Entäußerung war, und reichte sie dem braven Manne hin. Dieser warf noch einen Blick auf das mailändische Ufer, sah den Fluß herauf und herunter, streckte die Hand aus, nahm die Gabe, steckte sie ein, legte den Zeigefinger an die Lippen und sagte dann mit einem bedeutungsvollen Blick »Glückliche Reise!« und fuhr zurück.

Damit die so schnelle Dienstfertigkeit dieses Fischers gegen einen Unbekannten den Leser nicht allzu sehr in Erstaunen setze, müssen wir ihm mittheilen, daß dieser Mann öfters von Banditen und Schleichhändlern um eine gleiche Gefälligkeit angegangen wurde, und daß er gewöhnt war, ihnen diesen Dienst zu erweisen, nicht allein des geringen Gewinnes wegen, sondern auch, um sich unter dieser Menschenklasse keine Feinde zu machen.

Renzo stand noch einen Augenblick am Ufer still und betrachtete das gegenüber liegende Land, dessen Boden noch kurz vorher ihm fast unter den Füßen brannte. – Gott sei Dank, daß ich heraus bin! war sein erster Gedanke. – Fahr wohl, verwünschtes Land – war sein zweiter, der Abschied vom Vaterlande. Dann aber dachte er an diejenigen, die er in der Heimat zurückließ. Er kreuzte die Arme über der Brust, blickte in das Wasser hinab, das zu seinen Füßen rauschte und seufzte: O schlimme Welt! Doch genug; Gottes Wille geschehe. –

Darauf kehrte er den traurigen Gegenständen den Rücken, machte sich auf den Weg und nahm jene weiße Fläche am Abhange des Berges als Zielpunkt, bis er Jemand fände, der ihn zurechtweisen könnte. Man mußte sehen, mit welcher Ungezwungenheit er auf die Wanderer zutrat und, ohne Zaudern oder[302] viele Worte zu machen, den Namen jenes Dorfes nannte, wo sein Vetter wohnte, und sie nach dem Wege dahin fragte. Von dem Ersten, an den er sich wandte, erfuhr er, daß er noch neun Miglien zurückzulegen hatte.

Die Wanderung dahin war keine angenehme. Ohne von den Sorgen zu sprechen, die Renzo sich machte, wurde sein Auge jeden Augenblick durch traurige Gegenstände gefesselt, aus denen er schließen konnte, daß er in dem Lande, welches er jetzt betrat, denselben Mangel wieder finden würde, den er in der Heimat verlassen hatte.

– Wer weiß, – überlegte er, – ob ich dort mein Auskommen habe? ob die Arbeit noch so geht, wie in den früheren Jahren? doch Bartolo hat es immer gut mit mir gemeint, er ist ein braver Junge und hat mich so oft gebeten hin zu kommen; er wird mich nicht verlassen. Und die Vorsehung, die mir bis jetzt beigestanden hat, die wird mir auch weiter helfen. –

Indessen nahm seine Eßlust, die er schon seit einiger Zeit verspürte, von Meile zu Meile zu; und obwohl Renzo meinte, die zwei oder drei Miglien, die er noch zu machen hatte, sich ohne Einkehr behelfen zu können, so dachte er doch wieder, daß es unanständig wäre, wenn er bei seinem Vetter gleich wie ein hungriger Bettler erscheine, der ihm zum ersten Gruß entgegen ruft: »Gieb mir zu essen.« Er zog seinen ganzen Reichthum aus der Tasche und zählte ihn auf der flachen Hand zusammen. Die Rechnung erforderte keine große Rechenkunst; indessen hatte er noch so viel, um eine kleine Mahlzeit bezahlen zu können. Er trat also in ein Wirthshaus, stillte seinen Hunger und behielt sogar, als er die Zeche bezahlt hatte, noch einige Soldi übrig.

Beim Heraustreten sah er vor der Thüre so dicht, daß er fast darüber gestolpert wäre, zwei Frauen am Boden liegen, eine bejahrte und eine jüngere, mit einem kleinen Kinde an der Brust, das, nachdem es vergebens zu saugen versucht hatte, jämmerlich schrie; alle drei bleich wie der Tod; neben ihnen stand ein Mann, an dessen Gesicht und Körperbau man noch die Spuren ehemaliger Kraft sehen konnte, die jetzt durch das lange Elend fast gänzlich[303] gebrochen schien. Alle drei streckten Renzo die Hand entgegen; Keiner sprach ein Wort; welche Bitte wäre beredter gewesen?

»Die Vorsehung hilft!« sagte Renzo und griff gleich in die Tasche, nahm die wenigen Soldi, die er noch übrig hatte, heraus, legte sie in die Hand, die ihm am nächsten war, und setzte seinen Weg fort.

Die Mahlzeit und das gute Werk (wir sind nun einmal aus Leib und Seele zusammengesetzt) hatten alle seine Gedanken wieder ermuthigt und heiter gestimmt. Sicherlich gewann er dadurch, daß er seine letzten Soldi auf diese Weise weggegeben, mehr Vertrauen zu der Zukunft, als er gewonnen haben würde, wenn er zehnmal so viel gefunden hätte. Denn wenn die Vorsehung die letzten Heller eines armen Flüchtlings, der selbst nicht wußte, wovon er leben sollte, für diese Unglücklichen bestimmte, die ohne ihn heute hier am Wege umgekommen wären, wie sollte sie ihn im Stiche lassen, dessen sie sich zu dem guten Werke bedient, und dem sie ein so lebhaftes, so starkes und so festes Vertrauen zu ihrer Sorgfalt eingeflößt hatte? Dies war ungefähr der Gedanke des Jünglings; wenn auch nicht so klar, als ich ihn hier ausgedrückt habe. Indem er während des übrigen Weges seine Lage überdachte, wurde er nach und nach ruhiger und klarer über dieselbe. Die Theuerung mußte doch endlich wieder aufhören und jedes Jahr brachte ja eine neue Ernte; dabei hatte er seinen Vetter Bartolo und sein Handwerk; auch hatte er zu Hause noch ein kleines Sümmchen Geld, mit dem er sich helfen konnte und das er sich sogleich wollte nachschicken lassen. Damit konnte er im schlimmsten Falle so lange, bis die Theuerung aufhörte, sein Leben fristen. Und ist dann endlich die gute Zeit wieder da – fuhr Renzo in seinen Gedanken fort – so wird die Arbeit auch wieder tüchtig gehen; die Brodherren reißen sich um die mailändischen Arbeiter, weil diese sich auf das Handwerk am besten verstehen; die mailändischen Arbeiter tragen die Nase sehr hoch; wer geschickte Leute haben will, muß sie bezahlen; man hat sein Auskommen und kann noch ein wenig auf die Seite legen; man läßt den Frauen dann schreiben, daß sie nachkommen sollen .... Doch warum so lange warten? Hätten wir nicht drüben mit der kleinen[304] Ersparniß auch den Winter über durchkommen müssen? So können wir auch hier damit auskommen, und Pfarrer giebt's überall.

Er kam in dem Dorfe des Vetters an; ehe er noch einen Fuß hinein gesetzt hatte, fällt ihm schon ein hohes Haus mit ungewöhnlich großen Fenstern in die Augen; er erkennt eine Spinnerei, geht hinein und fragt zwischen dem Getöse der Räder, die durch Wasser getrieben wurden, mit lauter Stimme, ob ein gewisser Bartolo Castagneri hier wohne.

»Herr Bartolo? dort ist er.«

– Herr! ein gutes Zeichen – dachte Renzo, sieht seinen Vetter und läuft auf ihn zu. Dieser dreht sich um, erkennt den Jüngling und ruft: »Hier bin ich.« Ein Ih! der Ueberraschung; beide umarmen und umhalsen sich wechselseitig. Nach dem ersten herzlichen Empfang zieht Bartolo unsern Jüngling aus dem Geräusch der Werkstatt, wie aus den Augen der Neugierigen mit sich fort in eine andere Stube und sagt: »Ich freue mich, dich zu sehen, aber du bist doch ein verwünschter Junge. Ich hatte dich so oft eingeladen und du wolltest immer nicht kommen; jetzt kommst du nun gerade zu einer so schlimmen Zeit.«

»Was soll ich dir sagen«, sprach Renzo, »ich bin nicht aus freien Stücken gekommen.« Darauf erzählte er in aller Kürze, jedoch nicht ohne große Gemüthsbewegung, seine traurige Geschichte.

»O armer Renzo!« sagte Bartolo. »Du hast auf mich gebaut und ich werde dich nicht verlassen. Es ist freilich jetzt keine Nachfrage nach Arbeitern; es behält ein Jeder nur die seinigen, um das Geschäft nicht ins Stocken gerathen zu lassen; aber der Herr will mir wohl und sein Geschäft blüht. Und wenn ich aufrichtig zu dir sprechen soll, so verdankt er es zum größten Theile mir; ich will mich nicht damit rühmen, aber es ist so; er hat's Geld und ich die Geschicklichkeit. Ich bin hier der beste Arbeiter, weißt du? um es dir gerade heraus zu sagen, das Factotum. Arme Lucia Mondella! Ich erinnere mich ihrer so gut, als ob ich sie gestern noch gesehen hätte; ein gutes Mädchen! Immer die Andächtigste in der Kirche; und wenn man an ihrem kleinen Häuschen vorüber ging .... mir ist, als sähe ich es vor mir, das Häuschen,[305] draußen vor dem Dorfe, mit dem schönen Feigenbaum, der über die Mauer ragt ....«

»Laß uns nicht davon sprechen.«

»Ich wollte auch nur sagen, daß man an dem Häuschen vorübergehen konnte, wann man wollte, man hörte immer die Haspel, die sich drehte und drehte. Und dieser Don Rodrigo! der war schon zu meiner Zeit auf schlimmen Wegen; aber jetzt wird er ja ganz und gar des Teufels, wenn ihm der liebe Herrgott nicht bald einen Zügel anlegt. Also, wie ich dir schon sagte, man hat auch hier ein wenig von dem Hunger zu leiden .... aber, da fällt mir ein, wie steht's denn mit deinem Appetit?«

»Ich habe erst kürzlich unterwegs gegessen.«

»Und mit dem Gelde, wie steht's da?«

Renzo streckte die eine Hand aus, führte sie zum Mund und blies leicht darüber hin.

»Thut nichts«, sagte Bartolo, »ich habe welches. Verliere nur den Muth nicht; wir können nur wünschen, daß mit Gottes Hülfe die Dinge so bald als möglich ein anderes Ansehen bekommen; dann giebst du mir's wieder, wenn du's übrig hast.«

»Ich habe noch eine kleine Baarschaft zu Hause; die will ich mir schicken lassen.«

»Schön; indessen aber rechne auf mich. Gott hat mir Gutes gethan, damit ich wieder Gutes thun kann. Und wenn ich es nicht an Verwandten und Freunden thue, an wem soll ich's thun?«

»Ich habe auch auf die Vorsehung vertraut!« rief Renzo aus und drückte dem guten Vetter tiefgerührt die Hand.

»In Mailand haben sie also einen solchen Lärm gemacht«, fing dieser wieder an, »die sind wohl dort Alle toll geworden. Auch hier war schon die Rede davon; du mußt mir die Geschichte ausführlicher erzählen. Was werden wir uns Alles miteinander zu erzählen haben! Hier geht's ruhiger her, wie du siehst, und sie fangen die Sache doch etwas klüger an. Die Stadt hat zweitausend Last Getreide von einem Händler aus Venedig gekauft; es ist zwar aus der Türkei, aber wenn man Hunger hat, nimmt man's nicht so genau. Jetzt höre aber erst das Neueste; das Neueste ist, daß die hohen Herren von Verona und Brescia den[306] Durchgang versperren und sagen: hier kommt kein Getreide durch. Was thun die Bergamasker? Sie schicken Lorenzo Torre nach Venedig, einen Mann, der dir den Mund auf dem rechten Fleck hat. Dieser ist dann schnell hingereist, hat sich dem Dogen vorgestellt und gesagt, was denn den hohen Herren eigentlich einfiele? Und eine Rede soll er gehalten haben! eine Rede, sagen sie, die man drucken lassen könnte. Sie haben doch Respect vor einem Manne, der die Worte zu setzen versteht! Denn gleich kam der Befehl, das Getreide durchzulassen; und nicht allein, daß die hohen Herren es jetzt durchlassen, sie müssen ihm auch noch ein Geleite zur Bewachung mitgeben; er ist jetzt unterwegs. Und so hat man auch an die Dörfer gedacht. Ein anderer Mann, Giovanbatista Biava, Nunzio von Bergamo in Venedig, der hat dem Senat begreiflich gemacht, daß die Leute hier auf dem Lande auch Hunger litten, und sogleich hat der Senat viertausend Scheffel Hirse bewilligt. Die wird jetzt auch mit zum Brode verbraucht. Und dann, brauche ich es erst noch zu sagen? wenn kein Brod mehr da ist, essen wir Zukost. Jetzt aber will ich dich zu meinem Herrn führen; ich habe ihm schon so oft von dir gesprochen, er wird dich gut aufnehmen. Ein guter Bergamasker von altem Schlage; ein biederer Mann. Er erwartet dich freilich jetzt nicht, aber wenn er deine Geschichte hört .... und dann weiß er auch die Arbeiter zu schätzen, denn die Theuerung geht vorüber, aber das Geschäft geht fort. Doch vor allen Dingen muß ich dich auf Etwas aufmerksam machen. Weißt du, wie sie uns Mailänder hier nennen?«

»Nun, wie denn?«

»Füchse.«

»Das klingt gerade nicht schön.«

»Es ist aber so; wer im Mailändischen geboren ist und im Bergamaskischen leben will, der muß sich den Namen ruhig gefallen lassen. Das Volk hier nennt einen Mailänder gerade so einen Fuchs, wie's einen Edelmann Euer Gnaden nennt.«

»Nun, wer sich's bieten läßt, denke ich ....«

»Mein Junge, wenn du dir den Fuchs hier nicht gefallen lassen willst, so denke nicht daran, hier leben zu wollen. Du[307] müßtest das Messer immer bei der Hand haben; und nehmen wir einmal an, du hättest zwei, drei oder vier abgestochen, so würde man dich am Ende auch abschlachten, um dann hernach mit drei oder vier Mordthaten auf dem Gewissen vor Gottes Richterstuhl zu erscheinen!«

»Ja, du hast Recht; am Ende meinen sie es auch nicht so schlimm ....«

»Nun, wenn du so denkst, so wird alles gut gehen. Komm also mit zum Herrn und fasse Muth.«

Es ging auch wirklich alles gut, wie es Bartolo verheißen hatte; wir halten es daher für überflüssig, dar über noch ausführlicher zu berichten. Es waltete in der That eine Vorsehung, denn wir werden gleich sehen, ob Renzo sich auf die kleine Baarschaft, die er zu Hause hinterlassen, Rechnung machen konnte.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 295-308.
Lizenz:
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