Zweiunddreißigstes Kapitel.

[183] Da es immer schwieriger ward, den drängenden Forderungen der Umstände zu genügen, so war am 4. Mai im Rathe der Decurionen beschlossen worden, bei dem Statthalter Hülfe nachzusuchen; und am 22. wurden zwei Mitglieder nach dem Lager abgesandt, um ihm das Elend und die Noth der Stadt vorzustellen: die ungeheuren Ausgaben, den Geldmangel, wie die Einkünfte der nächsten Jahre schon verpfändet wären und die laufenden Abgaben nicht bezahlt würden wegen der allgemeinen Noth, die durch so viele Ursachen entstanden, besonders durch die Verwüstung der Truppen; sie sollten ihm auseinandersetzen, daß nach herkömmlichem Gesetz und Brauch und nach einer ausdrücklichen Verordnung Karls V. die Kosten der Pest dem Fiscus zur Last fielen; in der Pest von 1576 habe der Statthalter Marquis von Ayamonte nicht nur alle Kammersteuern erlassen, sondern der[183] Stadt aus derselben Kammer eine Beisteuer von vierzigtausend Scudi gegeben; sie sollten endlich vier Dinge von ihm verlangen: daß die Abgaben erlassen würden, wie damals; daß die Kammer Geld vorschösse; daß der Statthalter den König von dem Elende der Stadt und der Provinz benachrichtige; daß er das schon verwüstete Land mit neuen militärischen Einquartierungen verschone. Der Statthalter schrieb als Antwort Beileidsbezeigungen und neue Ermahnungen; es thue ihm leid, daß er nicht in der Stadt anwesend sein könne, um seine ganze Sorgfalt auf Erleichterung des Elends zu verwenden; er hoffe aber, daß der Eifer der Herren alles ersetzen würde; in einer solchen Zeit müsse man keine Ausgaben scheuen und sich in jeder Weise anstrengen. Was die ausdrücklichen Forderungen beträfe, so sollten sie, sobald Zeit und Umstände es erlaubten, aufs Beste berücksichtigt werden. Als Unterschrift ein Gekritzel, was Ambrogio Spinola heißen sollte, so deutlich wie seine Versprechungen. Der Großkanzler Ferrer schrieb ihm zurück, daß jene Antwort von den Decurionen mit großer Trostlosigkeit gelesen worden wäre. Man trug sich mit Fragen und Antworten hin und her, aber ich finde nicht, daß man zu einem eigentlichen Beschlusse kam. Einige Zeit nachher, als die Pest am heftigsten wüthete, übertrug der Statthalter durch ein Patent dem Großkanzler Ferrer die Herrschaft, indem er, wie er schrieb, mit dem Kriege zu schaffen habe. Nachdem dieser Krieg, beiläufig gesagt, eine Million Menschen, ohne von den Soldaten zu sprechen, durch das Contagium hingerafft hatte, in der Lombardei, in Venedig, Piemont, Toscana und einem Theile des Römischen, nachdem er die Orte, die er durchzog, verwüstet, wie wir schon gesehen haben, und man stelle sich den Kriegsschauplatz vor, endigte man nach der Einnahme und gräßlichen Plünderung von Mantua damit, daß alle den neuen Herzog anerkannten, um den zu verstoßen, um welchen der Krieg unternommen worden war. Man muß jedoch sagen, daß jener verpflichtet war, an den Herzog von Savoyen ein Stück von Monferrato, dessen Einkünfte fünfzehntausend Scudi, abzutreten und an den Herzog Ferrante von Guastalla andere Ländereien von sechstausend Scudi Einkünften und daß dabei noch ein anderer Theilungsvertrag im[184] Geheimen bestand, durch welchen der genannte Herzog von Savoyen Pignerol an Frankreich abtrat, ein Vertrag, der einige Zeit darauf unter andern Vorwänden und mit teuflischer List vollzogen ward.

Zugleich mit diesem Entschluß hatten die Decurionen einen andern gefaßt; sie baten den Kardinal Erzbischof um eine feierliche Prozession, in welcher der Leichnam des heiligen Carlo durch die Stadt getragen werden sollte. Der gute Prälat schlug es aus vielen Gründen ab. Es mißfiel ihm das Zutrauen in ein willkürliches Mittel und er fürchtete, wenn der Erfolg ihm nicht entspräche, so würde das Zutrauen sich in Aergerniß verwandeln. Er fürchtete noch mehr, daß, wenn es wirklich solche Salber gäbe, so wäre die Prozession eine nur zu bequeme Gelegenheit zu Verbrechen; wenn es deren nicht gäbe, so müßte eine Versammlung von so vielen Menschen das Contagium immer mehr ausbreiten: eine weit wesentlichere Gefahr. Der eingeschlafene Argwohn gegen die Salbereien war inzwischen allgemeiner und heftiger als vorher wieder erwacht.

Man hatte von neuem gesehen, oder dieses Mal zu sehen gemeint, daß Mauern, Eingänge zu öffentlichen Gebäuden, Hausthüren und Thürklopfer beschmiert gewesen. Die Neuigkeit von solchen Entdeckungen flog von Mund zu Mund, und wie es meistens zu geschehen pflegt, wenn die Gemüther schon eingenommen sind, machte das Hören schon die Wirkung des Sehens. Die von den Leiden der Gegenwart immer mehr verbitterten Gemüther ergriffen, von der drängenden Gefahr geängstigt, um so eifriger jenen Glauben; denn der Zorn will strafen, und wie bei dieser Gelegenheit ein geistreicher Mann sehr scharfsinnig bemerkte, er will lieber die Leiden einer menschlichen Bosheit zuschreiben, als sie für etwas erkennen, wogegen sich nichts thun läßt, als sich darein zu ergeben. Ein ausgesuchtes, plötzlich wirkendes, schnell durchdringendes Gift, das waren Worte, die mehr als genügten, um die Heftigkeit und alle die dunkeln, unregelmäßigen Erscheinungen der Krankheit zu erklären. Man sagte, dieses Gift sei aus Kröten und Schlangen, aus dem Eiter und Speichel der Pestkranken und aus noch Schlimmerem zusammengesetzt,[185] aus Allem, was eine wilde, verkehrte Einbildungskraft nur Abscheuliches und Widerwärtiges ersinnen kann. Man fügte noch die Hexenkünste hinzu, durch welche jede Wirkung möglich, jeder Einwurf entkräftet, jede Schwierigkeit gelöst wurde. Wenn man nach jener ersten Einsalbung nicht gleich die Wirkungen gesehen hatte, so begriff man den Grund sehr leicht; es war ein mißlungener Versuch von Neulingen in der Hexerei gewesen; jetzt war die Kunst vervollkommnet, und der Wille zu dem höllischen Vorhaben noch ergrimmter. Wer jetzt noch behauptet hätte, daß es ein böser Streich gewesen, wer das Vorhandensein eines tückischen Anschlages geleugnet hätte, der würde für einfältig, für starrköpfig gegolten haben, wenn er nicht in den Verdacht fiel, in eigennütziger Absicht die Aufmerksamkeit des Publikums von der Wahrheit abzulenken, ein Mitschuldiger, ein Salber zu sein; das Wort ward schnell gang und gäbe, gewichtig und furchtbar. Mit einer solchen Ueberzeugung, daß es Salber gäbe, mußte man sie fast unfehlbar entdecken; alle Augen spähten umher; jede Geberde konnte Argwohn erregen. Und der Argwohn wurde leicht zur Gewißheit, die Gewißheit zur Wuth.

Zwei Beispiele davon führt Ripamonti mit dem Bemerken an, daß er sie nicht als die schlimmsten von denen ausgewählt habe, die täglich vorkamen, sondern weil er von beiden nur zu sehr Zeuge gewesen wäre.

In der Kirche Sanct Antonio wollte eines Tages, ich weiß nicht bei welcher Feierlichkeit, ein mehr als achtzigjähriger Greis, nachdem er eine Weile knieend gebetet hatte, sich setzen und stäubte zuvor mit dem Mantel die Bank ab. »Der Greis da salbt die Bänke!« schrien auf einmal einige Weiber, als sie es sahen. Die Leute, die sich in der Kirche befanden – in der Kirche! – fallen über den Alten her; raufen ihm die weißen Haare aus, versetzen ihm Faustschläge und Fußtritte; theils schleifen, theils stoßen sie ihn hinaus, und wenn sie ihn nicht umbrachten, so geschah es, um ihn halbtodt nach dem Gefängniß, vor Gericht, auf die Folter zu schleppen. »Ich sah ihn, während sie ihn so fortschleppten«, sagt Ripamonti, »und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist; doch glaube ich, daß er nur noch wenige Augenblicke hat leben können.«[186]

Der andere Fall, am Tage darauf, war ebenso seltsam, wenn auch nicht ebenso unglücklich. Drei junge Franzosen, ein Gelehrter, ein Maler, ein Mechanikus, die nach Italien gekommen waren, um die Alterthümer zu studiren und um Gelegenheit zu suchen, etwas zu verdienen, hatten sich, ich weiß nicht welcher Außenseite des Domes genähert und betrachteten sie aufmerksam. Ein Vorübergehender sah sie und blieb stehen, andere gesellten sich zu ihm; es bildete sich ein Kreis von Zuschauern, die alle Diejenigen im Auge behielten, deren Kleidung, Haarschnitt, Reisesäcke sie als Fremde bezeichnete und, was noch schlimmer war, als Franzosen. Wie um sich zu überzeugen, ob es Marmor wäre, streckten jene die Hand aus, um anzufühlen. Das war genug. Sie wurden umringt, ergriffen, gemißhandelt und unter fürchterlichen Schlägen nach dem Kerker getrieben. Zum Glück ist der Gerichtshof nicht weit von dem Dome und zum großen Glück wurden sie unschuldig erfunden und wieder frei gelassen.

Solche Dinge fielen aber nicht bloß in der Stadt vor; der Wahnsinn hatte sich wie das Contagium fortgepflanzt. Der Wanderer, der von Landleuten abseits der Landstraße angetroffen ward, oder der auf dieser langsam seines Weges ging, sich hier und da umschaute, oder sich niederlegte um auszuruhen, mußte ein Salber sein, ebenso jeder Unbekannte, bei dem man etwas Absonderliches, etwas Verdächtiges im Gesichte oder in der Tracht fand; auf die erste Anzeige des ersten besten, auf den Schrei eines Knaben, läutete man Sturm, lief man zusammen; die Unglücklichen wurden gesteinigt, oder festgenommen und unter allgemeiner Wuth ins Gefängniß geschleppt. So erzählt auch Ripamonti. Das Gefängniß war bis zu einer gewissen Zeit ein Rettungshafen.

Die Decurionen aber ließen sich durch die Weigerung des weisen Prälaten nicht entmuthigen; sie wiederholten ihr Gesuch, dem die öffentliche Stimme lärmend beistimmte. Federigo widerstand noch einige Zeit, suchte sie zu überzeugen; das war Alles, was der Verstand eines Mannes gegen die Gewalt der Zeiten und die Beharrlichkeit der Menge vermochte. Bei jenem Stande der Meinungen, mit der Vorstellung der Gefahr, so verworren wie[187] sie damals war, so bestritten und weit entfernt von der Wahrheit, die sie jetzt gewonnen hat, ist es nicht schwer zu begreifen, wie seine guten Gründe auch in seinem Geiste von den schlechten anderer unterjocht werden konnten. Ob an der Nachgiebigkeit, die er dann zeigte, ein schwacher Wille Antheil hatte oder nicht, das sind Geheimnisse der menschlichen Seele. Wenn es irgend wo scheint, daß man überhaupt einen Irrthum der Erkenntniß beimessen und das Gewissen frei sprechen kann, so ist dies sicherlich bei den Wenigen der Fall – und dieser gehörte wohl zu dieser Zahl – aus deren ganzem Leben ein unerschütterlicher Gehorsam gegen das Gewissen hervorgeht, ohne Rücksicht auf zeitliche Vortheile irgend einer Art. Auf wiederholtes Drängen gab er also nach, bewilligte die Prozession, ging auch auf den Wunsch, auf das allgemeine Verlangen ein, daß der Sarg, in dem die Gebeine des heiligen Carlo ruhten, nachher acht Tage auf dem Hochaltar des Domes ausgestellt bliebe.

Ich finde nicht, daß die Gesundheitsbehörde, oder sonst wer in irgend einer Art Schwierigkeiten oder Einwendungen gemacht hätte. Nur die genannte Behörde traf einige Vorkehrungen, die, ohne der Gefahr vorzubeugen, nur die Furcht davor anzeigten. Sie schrieb strengere Regeln für die Zulassung von Personen in die Stadt vor, und damit dieselben um so sicherer befolgt würden, ließen sie die Thore verschließen; um ferner so viel als möglich Angesteckte und Verdächtige von der Versammlung auszuschließen, ließ sie die Eingänge der abgesperrten Häuser vernageln; deren waren ungefähr fünfhundert, wenn man in einer solchen Thatsache der einfachen Bestätigung eines Schriftstellers und zwar eines Schriftstellers aus jener Zeit Glauben schenken kann.

Drei Tage wurden mit Vorbereitungen zugebracht; am 11. Juni, der dafür festgesetzt war, setzte sich die Prozession mit Tagesanbruch vom Dome aus in Bewegung. Voran ging eine lange Reihe Volk, zum größten Theile Frauen, das Gesicht mit dichten Schleiern verhüllt, viele barfuß und in Sacktuch gekleidet. Dann kamen die Zünfte mit vorangetragenen Fahnen, die Brüderschaften in ihren an Schnitt und Farbe verschiedenen Anzügen; dann die Mönche, dann die Weltgeistlichen, ein Jeder mit den Zeichen seiner[188] Würde und mit einer Kerze oder Fackel in der Hand. In der Mitte, bei dem Glanze einer größeren Menge von Lichtern, unter lauterem Klange von Gesängen, unter einem reichen Baldachin kam der Sarg, getragen von vier Domherren, in vollem Ornate, die sich von Zeit zu Zeit abwechselten. Durch das Krystall schien der verehrte Leichnam in reiche bischöfliche Gewänder gehüllt, mit der Bischofsmütze auf dem Schädel, und aus den zerstörten und verstümmelten Formen konnte man noch Spuren des ehemaligen Aussehens erkennen, wie ihn die Bilder darstellen und wie einige sich erinnern ihn im Leben gesehen und verehrt zu haben.

Hinter der sterblichen Hülle des todten Seelenhirten, – sagt Ripamonti, dem wir hauptsächlich diese Beschreibung entnehmen – ihr zunächst, sowohl dem Verdienst, der Abstammung und der Würde als jetzt auch der Person nach, kam der Erzbischof Federigo. Ihm folgte der übrige Theil des Klerus; dann die Obrigkeit im höchsten Schmucke; dann die Edelleute, einige prächtig gekleidet, um ihre andächtige Verehrung darzuthun, andere zum Zeichen der Zerknirschung in Trauerkleidern, oder barfuß und in Mäntel gehüllt, die Kapuze über das Gesicht gezogen; alle mit Fackeln. Den Schluß bildete anderes gemischtes Volk.

Die ganze Straße war festlich geschmückt; die Reichen hatten die kostbarsten Hausgeräthe ausgestellt; die Vorderseiten der armen Häuser waren von wohlhabenden Nachbaren oder auf öffentliche Kosten geschmückt worden; hier waren statt der Festgehänge, dort über denselben grüne Zweige; überall hingen Gemälde, Inschriften, Sinnbilder; auf den Fensterbrüstungen standen Vasen, alte Kunstwerke und verschiedene Kostbarkeiten zur Schau; überall Lichter. An vielen der Fenster sahen abgesperrte Kranke der Prozession zu und begleiteten sie mit ihren Gebeten. Die andern Straßen still und öde; außer daß Einige auch von den Fenstern aus nach dem umherziehenden Gesumse hinhorchten; andere, und unter diesen sah man sogar Nonnen, waren auf die Dächer gestiegen, um von hier aus der Ferne den Sarg, den Zug oder irgend etwas zu sehen.

Die Prozession zog durch alle Viertel der Stadt; bei jedem Kreuzwege, oder jedem der kleinen Plätze, wo die Hauptstraßen[189] in die Vorstädte münden und die damals noch den alten Namen Carrobi führten, den jetzt nur noch eine führt, hielt man an und setzte den Sarg neben die Kreuze nieder, welche der heilige Carlo in der früheren Pest in einer jeden hatte errichten lassen und von denen einige noch heute stehen; Mittag war schon vorüber, als man nach dem Dome zurückkehrte.

Und siehe da! am folgenden Tage, während noch jenes eingebildete Zutrauen, sogar in vielen eine fanatische Gewißheit herrschte, daß die Prozession der Pest ein Ende gemacht haben müsse, nahmen die Todesfälle in jedem Stande, in jedem Theile der Stadt plötzlich in solchem Uebermaße zu, daß Niemand war, der nicht die Ursache oder die Veranlassung in der Prozession selbst gesehen hätte. Aber – o wunderbare und traurige Gewalt eines allgemeinen Vorurtheils! – nicht dem so langen Zusammengedrängtsein so vieler Menschen, nicht der unendlichen Vervielfältigung zufälliger Berührungen schrieben die Meisten diese Wirkung zu; sie schrieben sie der Leichtigkeit zu, mit welcher dabei die Salber ihre gottlosen Absichten im Großen auszuführen vermocht hätten. Man sagte, daß sie, unter der Menge vertheilt, so viele als möglich mit ihren Salben bestrichen hätten. Da aber dies weder ein hinreichender noch angemessener Grund zu einer so ungeheuren und unter allen Klassen von Menschen verbreiteten Sterblichkeit schien, und da es sogar dem scharfen und doch so leicht sich versehenden Auge des Argwohns nicht möglich gewesen war, Salben oder Flecken irgend einer Art auf den Mauern oder sonst wo zu bemerken, so nahm man zur Erklärung der Thatsache seine Zuflucht zu der schon alten und damals in die allgemeine Wissenschaft Europa's aufgenommenen Entdeckung der giftigen und verhexten Pulver. Man sagte, daß solche Pulver, die Straßen entlang und besonders auf den Halteplätzen ausgestreut, an den Schleppen der Kleider hängen geblieben wären und vorzüglich an den Füßen, die an jenem Tage in großer Anzahl nackt umhergegangen. »Man sah«, sagt ein gleichzeitiger Schriftsteller, »an dem Tage der Prozession die Frömmigkeit mit der Gottlosigkeit im Streite, die Treulosigkeit mit der Aufrichtigkeit, den Verlust mit dem Gewinn.« Und statt[190] dessen war es der arme menschliche Verstand, der mit den selbstgeschaffenen Trugbildern kämpfte.

Von diesem Tage an nahm die Heftigkeit des Contagiums immer mehr zu; in kurzer Zeit gab es fast kein Haus mehr, das nicht ergriffen war; die Bevölkerung des Krankenhauses stieg nach der Aussage des oben angeführten Schriftstellers Somaglia von zweitausend auf zwölftausend; später kam sie nach der Aussage fast aller bis auf sechszehntausend. Am 4. Juli, wie ich in einem andern Briefe der Gesundheitsbehörde an den Statthalter finde, stieg die tägliche Sterblichkeit über fünfhundert; späterhin, als die Seuche am heftigsten wüthete, betrug sie nach allgemeiner Berechnung zwölf- bis fünfzehnhundert, und wenn wir Tadino glauben wollen, mehr als dreitausend fünfhundert. Derselbe behauptet auch, daß nach genau angestellter Berechnung die Bevölkerung von Mailand nach der Pest wenig mehr als vierundsechzigtausend Seelen zählte und daß sie vorher zweihundertfünfzigtausend betragen hatte. Nach Ripamonti betrug sie nur zweimal hunderttausend; an Todten, sagt er, ergaben die Civillisten hundertvierzigtausend, außer denen, die man nicht im Stande war anzugeben. Andere sagen mehr oder weniger, aber noch zufälliger.

Man denke sich, in welcher Bedrängniß sich jetzt die Decurionen befinden mußten, denen die Last auferlegt war, für die öffentlichen Bedürfnisse zu sorgen und abzuwenden, was sich bei einem solchen Unglück abwenden ließ. Jeden Tag mußte man die öffentlichen Wärter in ihren verschiedenen Verrichtungen ersetzen und vermehren: die Monatti, die Apparitori, die Commissare. Die ersteren waren zu den beschwerlichsten und gefährlichsten Diensten bei der Pest bestimmt, die Leichname aus den Häusern, von der Straße, aus dem Lazareth wegzuschaffen, sie auf Karren nach den Gruben zu bringen und zu beerdigen, die Kranken ins Lazareth zu tragen, oder zu führen und sie zu beaufsichtigen, die angesteckten, verdächtigen Sachen zu reinigen, zu verbrennen. Ripamonti meint, daß der Name von dem griechischen monos komme; Gaspare Bugatti – in einer Beschreibung der frühern Pest – meint aus dem lateinischen monere; richtiger aber vermuthet man, daß es[191] ein deutsches Wort sei, denn die angeworbenen Männer waren zum größten Theil aus der Schweiz und aus Graubünden. Es würde auch durchaus nicht absonderlich sein, es für eine Abkürzung des Wortes monatlich zu halten; denn in der Ungewißheit, wie lange die Noth dauern könnte, ist es wahrscheinlich, daß man sie von Monat zu Monat anstellte. Das besondere Amt der Apparitori war, vor dem Karren herzugehen und mit einer Klingel diejenigen, die sich auf der Straße befänden, zu warnen, damit sie sich zurückzögen. Die Commissare beaufsichtigten diese wie jene unter den unmittelbaren Befehlen der Gesundheitsbehörde. Das Lazareth mußte mit Aerzten, Wundärzten, mit Arzeneien, mit Lebensmitteln, mit allen Bedürfnissen eines Krankenhauses versorgt gehalten werden. Man mußte neue Wohnungen für die Erkrankten einrichten, die täglich hinzukamen. Zu diesem Zwecke ließ man eiligst Hütten aus Holz und Stroh in dem innern Raume des Krankenhauses errichten; man schlug ein neues Lazareth auf, nur aus Hütten mit einem Bretterverschlage, das viertausend Menschen faßte. Da auch dies nicht hinreichte, so wurden noch zwei andere beschlossen, man nahm sie auch schon in Angriff, aber aus Mangel an Mitteln jeder Art blieben sie unvollendet. Mittel, Menschen und Muth nahmen nach und nach ab, je höher die Noth stieg.

Die Ausführung blieb nicht nur immer hinter den Entwürfen und Verordnungen zurück, man sorgte nicht nur für viele, wo es die nur so sehr erkannte Nothwendigkeit gebot, sparsam, selbst mit Worten; man kam aus Ohnmacht und Verzweiflung so weit, daß man sich um viele, die in der arbarmungswerthesten Noth waren, in keiner Weise mehr bekümmerte. So starb zum Beispiel aus gänzlichem Mangel an Fürsorge eine große Anzahl von Kindern, deren Mütter an der Pest gestorben waren; die Gesundheitsbehörde schlug vor, es sollte für diese wie für Wöchnerinnen eine Zufluchtsstätte errichtet werden, damit etwas für sie geschähe; doch konnte sie nichts erreichen. »Man mußte nichtsdestoweniger«, sagt Tadino, »noch die Decurionen der Stadt bemitleiden, die von dem zügellosen, nichtsachtenden Kriegsvolke gebeugt, bedrückt und niedergeschlagen wurden, um so mehr in dem unglücklichen[192] Herzogthume, wenn man bedenkt, daß sie von dem Statthalter weder auf irgend eine Hülfe noch auf einen Rath rechnen konnten, weil Kriegszeiten wären und die Soldaten gut behandelt werden müßten.« So wichtig war die Einnahme von Casale! So schön schien der Ruhm des Sieges, unabhängig von der Ursache, von dem Zwecke, für welche man kämpfte.

So geschah es, als die große, aber einzige Grube, die in der Nähe des Lazarethes gegraben worden, voll von Leichnamen war, und die neuen Leichname, die sich täglich mehr anhäuften, überall unbeerdigt liegen blieben, daß die Obrigkeit, nachdem sie vergebens für die traurige Arbeit nach Armen gesucht hatte, sich zu der Erklärung gezwungen sah, nicht mehr zu wissen, was sie anfangen solle; ohne eine außerordentliche Hülfe ließe sich kein Ende absehen. Der Präsident der Gesundheitsbehörde nahm in Verzweiflung, mit Thränen in den Augen seine Zuflucht zu jenen beiden wackern Mönchen, die dem Krankenhause vorstanden, und Pater Michele verpflichtete sich, binnen vier Tagen alle Leichname aus der Stadt fortzuschaffen, und erklärte, daß acht Tage hinreichend wären, nicht nur dem gegenwärtigen Bedürfniß, sondern auch den schlimmsten Aussichten für die Zukunft abzuhelfen. Mit einem ihn begleitenden Pater und einigen Beamten, die der Präsident ihm dazu überwies, ging er zur Stadt hinaus und suchte Bauern aufzutreiben; theils durch das Ansehen der Behörde, theils durch das seines Gewandes und durch seine Ueberredung brachte er ungefähr zweihundert zusammen, durch welche er drei große Gruben graben ließ; dann schickte er aus dem Krankenhause Monatti aus, die Todten zusammen zu holen, so daß an dem bestimmten Tage sein Versprechen sich erfüllt hatte.

Einmal war das Krankenhaus ohne Aerzte und nur durch Anerbietung hoher Bezahlung und Ehren konnte man mit Mühe und nicht sogleich deren haben, aber weit weniger als man bedurfte. Oft war auch gänzlicher Mangel an Lebensmitteln, so daß man für den Hungertod fürchtete, und mehr als einmal, während man nicht mehr wußte, wo einem der Kopf stand, um das Nothwendigste herbeizuschaffen, kamen zu rechter Zeit Vorräthe im Ueberfluß an, als ein unerwartetes Geschenk der Barmherzigkeit[193] einzelner; denn mitten in der allgemeinen Betäubung, in der Gleichgültigkeit gegen Andere, die aus der unaufhörlichen Furcht für sich selbst hervorging, gab es immer noch dem Mitleid offene Gemüther, gab es Manchen, in welchem bei dem Aufhören jeder irdischen Fröhlichkeit das Mitleid entstand, und während Viele, denen Aufsicht und Vorsorge übertragen war, unterlagen oder entflohen, hielten Einige stets gesund und guten Muthes auf ihrem Posten aus; auch waren Einige, die, von der christlichen Liebe angetrieben, Sorgen übernahmen und muthig darin ausharrten, zu denen sie nicht verpflichtet waren.

Wo sich jedoch eine mehr allgemeine und bereitwillige Treue gegen die schwierigsten Pflichten der Umstände kund gab, das war bei den Geistlichen. In den Lazarethen, in der Stadt fehlte es niemals an ihrem Beistande; wo es Leidende gab, waren sie; immer sah man sie unter den Hinfälligen und Sterbenden, selbst oft hinfällig und sterbend; sie unterstützten mit geistlicher und weltlicher Hülfe so viel sie konnten; jeden Dienst, den die Umstände erforderten, leisteten sie. Mehr als sechszig Pfarrer, nur aus der Stadt, starben am Contagium, ungefähr von neun immer acht.

Federigo feuerte Alle, wie es von ihm zu erwarten war, durch sein Beispiel an. Fast seine ganze erzbischöfliche Dienerschaft starb um ihn her und Verwandte, hohe Würdenträger, benachbarte Fürsten machten ihm Vorstellungen, sich nach irgend einem entlegenen Landgute vor der Gefahr zu flüchten; er wies einen solchen Rath zurück und widerstand allen Bitten mit eben dem Muthe, mit welchem er an die Pfarrer schrieb: »Seid bereit, eher dieses sterbliche Leben als unsere Familie, unsere Kinder zu verlassen; geht der Pest mit Liebe entgegen, wie einer Belohnung, wie einem Leben, als ob ihr dadurch Christus eine Seele gewinnen könnte.« Er unterließ keine Vorsicht, die ihn nicht hinderte, seine Pflicht zu thun, – wie er auch hierin dem Klerus Lehren und Vorschriften ertheilte – und bei alledem achtete er der Gefahr nicht, er schien sie nicht einmal zu bemerken, wenn er ihr nahen mußte, um wohl zu thun. Ohne von den Geistlichen zu sprechen, mit denen er immer war, um ihren Eifer zu loben und zu leiten, um[194] den von ihnen zu ermuntern, der gleichgültig ans Werk ginge, um sie an die Posten zu senden, wo andere gestorben waren, wollte er, daß auch jedem Andern, der seiner bedürfe, der Zugang zu ihm offen wäre. Er besuchte die Lazarethe, um die Kranken zu trösten und die Wärter zu ermuthigen; er durcheilte die Stadt, um den in den Häusern eingesperrten Armen Hülfe zu bringen, verweilte an den Thüren, unter den Fenstern, um ihre Klagen anzuhören und mit ihnen Worte des Trostes und der Ermuthigung auszutauschen. Kurz, er lebte und verkehrte mitten in der Pest, selbst am Ende verwundert, glücklich davon gekommen zu sein.

So sah man im allgemeinen Unglück, in langen Unterbrechungen der sogenannten gewohnten Ordnung ein Steigen, eine Erhebung der Tugend; aber nur allzu oft erhebt sich auch die Bosheit neben ihr. Und hier war dies vorzüglich der Fall. Die Schurken, welche die Pest verschonte und nicht niederbeugte, fanden in der allgemeinen Verwirrung, in dem Nachlassen der öffentlichen Gewalt eine neue Gelegenheit zum Handeln und für einige Zeit eine neue Sicherheit vor Strafe. Ja die Ausübung der öffentlichen Gewalt selbst befand sich zum großen Theile in den Händen der Schlimmsten unter ihnen. Zu dem Amte der Monatti und Apparitori eigneten sich im allgemeinen nur Menschen, über welche der Reiz des Raubes und der Zügellosigkeit mehr vermochte, als der Schrecken vor dem Contagium und jeder natürliche Abscheu. Man hatte ihnen die genausten Vorschriften gegeben, mit den härtesten Strafen gedroht, ihnen ihre Posten angewiesen, Commissare zu ihren Vorgesetzten ernannt; über diesen wie jenen standen in allen Stadtvierteln Magistratspersonen und Edelleute, die ermächtigt waren, bei jedem Vorfalle nach Gutdünken einzuschreiten. Eine solche Einrichtung that ihre Wirkung bis zu einer gewissen Zeit; so wie aber die Todesfälle und die Bestürzung täglich zunahmen, wurden jene so zu sagen aller Aufsicht entbunden, und hauptsächlich machten sich die Monatti zu unumschränkten Herren über alles. Sie traten als Gebieter, als Feinde in die Häuser, und ohne von den Diebstählen zu sprechen und wie sie die Unglücklichen behandelten, welche die Pest dahin gebracht hatte, in solche Hände zu fallen,[195] legten sie ihre angesteckten, verruchten Hände an die Gesunden, an Kinder, Eltern, an Weiber und Männer und drohten sie ins Lazareth zu schleppen, wenn sie mit Geld sich nicht loskauften oder loskaufen ließen. In andern Fällen setzten sie einen Preis für ihre Dienstleistungen fest und weigerten sich die schon in Fäulniß übergegangenen Leichname für weniger als so und so viel Scudi wegzuschaffen. Man sagte – und bei der Leichtgläubigkeit der einen und der Ruchlosigkeit der andern ist es gleich unsicher daran zu glauben und nicht zu glauben – man sagte, und auch Tadino bestätigt es, daß Monatti und Apparitori mit Fleiß angesteckte Sachen von den Karren fallen ließen, um die Pest fortzupflanzen und zu erhalten, die für sie ein Einkommen, ein Vorrecht, ein Fest geworden war. Andere Verruchte, die sich für Monatti ausgaben und Schellen an den Füßen trugen, wie es diesen als Unterscheidungs- und Warnungszeichen vorgeschrieben war, drangen in die Häuser, um darin jede Willkür zu begehen; in einige, die offen und menschenleer standen, oder nur von einem Reichen, von einem Sterbenden bewohnt waren, drangen die Diebe unbehindert ein, um zu rauben; andere wurden von Häschern überfallen, die es nicht besser machten und noch ärgere Dinge darin verübten. Mit der Ruchlosigkeit wuchs der Wahnsinn; alle schon mehr oder weniger herrschenden Irrthümer erhielten durch die Bestürzung und Aufregung der Gemüther eine außerordentliche Kraft und brachten viel schnellere und größere Wirkungen hervor. Und alle dienten dazu, jene Hauptfurcht vor den Einsalbungen zu verstärken und zu vergrößern, die in ihren Wirkungen und in ihren Ausbrüchen oft eine andere Ruchlosigkeit war, wie wir gesehen haben. Die Vorstellung dieser vermeinten Gefahr bedrängte und marterte die Gemüther weit mehr als die wirkliche und gegenwärtige Gefahr. »Während man die Leichname«, sagt Ripamonti, »einzeln oder in Haufen überall vor den Augen, vor den Füßen hatte, welche die ganze Stadt zu einer einzigen Leichenschau machten, lag in jenem wechselseitigen Grimme, in jener Zügellosigkeit und in jenem abscheulichen Argwohn etwas noch Häßlicheres und Düstereres ..... Man scheute sich nicht blos vor dem Nachbar, dem Freunde, dem Gaste; sondern auch die Benennungen[196] Mann und Weib, Vater und Sohn, Bruder und Bruder, diese Bande der menschlichen Liebe flößten Schrecken ein; und es ist gräßlich und entwürdigend es auszusprechen! der häusliche Tisch, das eheliche Bett fürchtete man wie einen Hinterhalt, wie einen Schlupfwinkel der Giftmischerei.«

Der eingebildete Greuel, die Seltsamkeit des Anschlages verwirrte alles Urtheil, erschütterte alle Gründe des gegenseitigen Zutrauens. Glaubte man anfangs nur, daß jene vermeintlichen Salber von dem Ehrgeiz und der Habsucht bewegt wurden, so träumte man in der Folge von einer gewissen teuflischen Wollust bei diesem Salben, von einer Anziehungskraft, die den Willen beherrsche, und glaubte daran. Die Fieberphantasien der Kranken, die sich selbst dessen anklagten, was sie von den Andern gefürchtet hatten, schienen Enthüllungen und bewirkten gewissermaßen, daß man einem Jeden alles zutraute. Und noch schlagender als Worte mußten die Erscheinungen sein, wenn es geschah, daß irreredende Pestkranke jene Bewegungen machten, wie sie in ihrer Einbildung die Salber machen sollten; eine zugleich sehr wahrscheinliche Sache, die geeignet ist, mehr Aufklärung über die allgemeine Ueberzeugung und die Versicherungen vieler Schriftsteller zu geben. So dienten in der langen und traurigen Zeit der Hexenprozesse die Bekenntnisse der Angeklagten, die nicht immer erpreßt waren, nicht wenig dazu, die Meinung zu fördern und zu erhalten, die über sie herrschte; denn wenn eine Meinung schon lange Zeit und in einem großen Theil der Welt herrscht, so endigt sie damit, sich auf alle Weise auszudrücken und alle Wege zu versuchen, um alle Grade der Ueberzeugung zu durchlaufen; und es ist schwer, daß alle oder sehr viele auf die Länge glauben, daß eine seltsame Sache sich ereigne, ohne daß nicht Jemand auftreten sollte, welcher glaubt sie zu thun.

Unter den Geschichten, die jene Verrücktheit der Salbungen hervorrief, verdient eine wegen des Ansehens und der Verbreitung, die sie erlangte, erwähnt zu werden. Man erzählte, nicht alle auf dieselbe Weise, – denn das würde ein zu besonderes Vorrecht der Fabeln sein –, aber ungefähr so: ein Gewisser habe an einem gewissen Tage auf dem Domplatze einen Sechsspänner[197] ankommen sehen, und drinnen mit andern eine hohe Persönlichkeit mit düsterm, gebräuntem Gesichte, mit brennenden Augen, zu Berge stehendem Haar und drohendem Ausdruck der Lippen. Während jener Gewisse noch aufmerksam hinblickte, war die Kutsche stehen geblieben, und der Kutscher hatte ihn eingeladen einzusteigen; er hatte nicht Nein zu sagen vermocht. Nachdem sie eine Strecke gefahren, waren sie an der Thür eines gewissen Palastes ausgestiegen, wo er, mit der Gesellschaft eingetreten, Anmuth und Schrecken, Einöden und Gärten, Höhlen und Säle gefunden habe, in denen Gespenster zu Rathe saßen. Endlich hatte man ihm große Kassen mit Geld gezeigt und gesagt, er möge so viel davon nehmen, als ihm beliebe, unter der Bedingung jedoch, daß er eine Salbbüchse annehme und mit dieser in der Stadt umhergehen sollte, um zu salben. Als er aber darauf nicht eingegangen, so habe er sich plötzlich wieder an dem Orte befunden, wo er abgeholt worden war. Diese Geschichte, die man hier im Volke allgemein glaubte, und die, wie Ripamonti sagt, von einigen bedeutenden Männern nicht hinreichend verspottet wurde, lief durch ganz Italien und weiter. In Deutschland machte man einen Kupferstich dazu; der Kurfürst, Erzbischof von Mainz, fragte brieflich bei dem Kardinal Federigo an, was man von den Wunderdingen glauben dürfe, die man sich von Mailand erzählte; er erhielt darauf zur Antwort, daß es Träume seien.

Von gleichem Werthe, wenn nicht durchaus von gleicher Natur waren die Träume der Gelehrten; wie die Wirkungen derselben denn auch gleich unheilvoll waren. Die Meisten von ihnen sahen die Ankündigung und zugleich den Grund des Elends in einem Kometen, der im Jahre 1628 erschienen war, und in einer Conjunction des Saturns mit Jupiter, »indem«, schreibt Tadino, »die besagte Conjunction sich über dieses Jahr 1630 so klar herabneigte, daß jeder sie verstehen konnte. Mortales parat morbos, miranda videntur.« Diese Weissagung, die, wie sie sagten, aus einem Buche, betitelt: Specchio degli almanacchi perfetti, gedruckt in Turin 1623, entnommen sei, lief von Mund zu Mund. Ein anderer Komet, der im Juni desselben Jahres der Pest erschien, wurde für eine neue Anzeige gehalten,[198] sogar für einen offenbaren Beweis der Salbereien. Man fischte in Büchern und fand darin eine Menge Beispiele von Pestseuchen, die, wie man sagte, auf solche Weise erzeugt seien. Man führte Livius, Tacitus, Dio, was sage ich? Homer und Ovid und viele andere Alte an, die ähnliche Thatsachen erzählt oder berührt haben; an Neuern hatte man deren im Ueberfluß. Hundert andere Schriftsteller führte man an, die über Gifte, Zaubereien, Salben, Pulver wissenschaftlich abgehandelt oder beiläufig gesprochen haben: Cesalpino, Cardano, Grevino, Salio, Pareo, Schenchio, Zachia und zuletzt den unseligen Delrio, der, wenn der Ruhm der Schriftsteller zu dem Guten oder Bösen im Verhältniß wäre, das ihre Werke gestiftet haben, einer der berühmtesten sein müßte; jener Delrio, durch dessen Werke mehr Menschen das Leben verloren als durch das Unternehmen irgend eines Eroberers; jener Delrio, dessen Disquisizioni magiche – der Inbegriff alles dessen, was die Menschen bis zu seiner Zeit über diesen Gegenstand gebrütet hatten – war die größte, unumstößlichste Autorität geworden, und länger als ein Jahrhundert war er eine Richtschnur und ein mächtiger Antrieb zu gesetzlichen, abscheuerregenden, ununterbrochenen Zankereien.

Von den Erdichtungen der ungebildeten Menge nahmen die Gebildeten an was mit ihren Begriffen übereinstimmte; von den Erdichtungen der gebildeten Leute nahm das ungebildete Volk an was es davon fähig war zu begreifen; und aus Allem bildete sich eine allgemeine Verrücktheit, die jedes Maß überschritt.

Noch mehr Erstaunen erregt es aber, die Aerzte zu sehen, die Aerzte nämlich, welche schon anfangs an die Pest geglaubt hatten, besonders Tadino, der sie vorher gesagt, der sie kommen gesehen und in ihrem Fortschreiten gewissermaßen im Auge behalten, der gesagt und gepredigt hatte, es sei die Pest, sie übertrage sich durch Berührung, wenn man ihr nicht einen Damm entgegensetze, so werde das ganze Land davon ergriffen werden, wie dieser aus den nämlichen Dingen einen sichern Beweis der vergifteten und verhexten Salbungen zog. Tadino, der an jenem Carlo Colonna, dem zweiten der in Mailand an der Pest Gestorbenen, den Wahnsinn als eine Erscheinung der Krankheit beobachtet[199] hatte, führte als einen Beweis der Salbungen und teuflischer Beschwörungen folgenden Fall an: zwei Zeugen haben ausgesagt, sie hätten von einem kranken Freunde erzählen hören, wie eines Nachts Leute in seine Kammer gekommen wären, die ihm Gesundheit und Geld versprochen, wenn er die benachbarten Häuser salben wolle, auf sein Weigern hätten sich jene entfernt und statt ihrer wären ein Wolf unter dem Bette und drei garstige Katzen auf demselben zurückgeblieben, die bis zum Anbruch des Tages dort verweilten.

Wäre es nur ein Einzelner gewesen, der sich so ausließ, so würde man ihn einen verschrobenen Kopf genannt haben und man hätte nicht weiter davon gesprochen; da es aber viele, sogar fast Alle waren, so ist es die Geschichte des menschlichen Geistes, und man kann daraus beobachten, wie sehr ein geordneter und vernünftiger Ideengang von einem andern Ideengang, der sich ihm entgegen wirft, verwirrt werden kann. Uebrigens war jener Tadino einer der angesehensten Männer seiner Zeit.

Zwei aufgeklärte und wohlverdiente Schriftsteller haben versichert, der Kardinal Federigo hätte die Salbungen als Thatsache bezweifelt. Wir möchten gern dem berühmten und liebenswürdigen Andenken ein noch vollständigeres Lob ertheilen und den guten Prälaten in dieser, wie in so vielen andern Sachen den meisten seiner Zeitgenossen als überlegen darstellen, aber wir sind statt dessen gezwungen, in ihm aufs neue ein Beispiel einer herrschenden Meinung auch über die edelsten Gemüther zu erkennen. Man kann wenigstens aus dem, was Ripamonti sagt, ersehen, wie er von Anfang an wirklich im Zweifel war; er hielt immer daran fest, daß an jener Meinung die Leichtgläubigkeit, die Unwissenheit, die Furcht, der Wunsch, sich zu entschuldigen, daß man nicht eher das Contagium erkannt und auf Schutzmittel gedacht habe, großen Theil hätte. In der ambrosianischen Bibliothek bewahrt man ein von seiner Hand geschriebenes Werkchen über jene Pest auf, worin er diese Auffassung öfter angedeutet hat und sogar einmal ausdrücklich ausspricht. »Die Meinung war allgemein«, sagt er ungefähr, »daß diese Salben an verschiedenen Orten bereitet würden, und daß man auf allerlei Weise sie[200] anzuwenden suchte, wovon uns einiges wahr scheint, anderes erfunden.«

Seine eigenen Worte lauten: Unguenta vero haec aiebant componi conficique multifariam, fraudisque vias fuisse complures; quarum sane fraudum et artium, aliis quidem assentimur, alias vero fictas fuisse commentitiasque arbitramur.

Es gab jedoch auch Solche, die bis zuletzt und so lange sie lebten alles für Einbildung hielten; wir wissen es aber nicht von ihnen selbst, denn Niemand war dreist genug, öffentlich eine Meinung kund zu geben, die der des Publikums so entgegengesetzt war; wir wissen es von den Schriftstellern, die sie verspotten, sie tadeln oder widerlegen als ein Vorurtheil Einiger, als einen Irrthum, den man sich nicht getraute offen zu bekämpfen, der aber doch bestand; wir wissen es auch von Jemand, der aus Ueberlieferung davon Kunde hatte.

»Ich habe kluge Leute in Mailand gekannt«, sagt der gute Muratori an der oben angeführten Stelle, »die von ihren Vorfahren genaue Berichte hatten, und die nicht sehr überzeugt waren, daß die Thatsache von den vergifteten Salben wahr sei.« Man sieht, daß die Wahrheit heimlich sich Luft machte, daß man wieder Vertrauen faßte; der gesunde Sinn war da; aber er hielt sich aus Furcht vor der allgemeinen Gesinnung verborgen.

Die täglich verringerte und immer mehr bestürzte und verwirrte Obrigkeit wandte die wenige Entschlossenheit, deren sie fähig war, eigentlich nur dazu an, um die Salber zu suchen. Unter den Handschriften aus der Zeit der Pest, die man in dem schon genannten Archiv aufbewahrt, befindet sich ein Brief, – ohne irgend eine andere bezügliche Urkunde – in welchem der Großkanzler allen Ernstes und mit großer Besorgniß den Statthalter unterrichtet, eine Anzeige erhalten zu haben, daß man in einem Landhause der Brüder Girolamo und Giulio Monti – mailändische Edelleute – Gift in solcher Menge bereite, daß vierzig Menschen en este exercicio beschäftigt wären mit der Hülfe von vier Edelleuten, welche die Materialien aus dem Venezianischen kommen ließen – scheinbar die Gift-Fabrik. Er fügt hinzu, daß er ganz im geheim die nöthigen Anstalten[201] getroffen hatte, um den Stadtrichter von Mailand und den Physikus der Gesundheitsbehörde mit dreißig Mann Kavallerie dahin abzuschicken; daß jedoch einer der Brüder nur zu zeitig benachrichtigt worden war, um die Beweise des Verbrechens bei Seite schaffen zu können; wahrscheinlich von dem Physikus selbst, seinem Freunde, der Ausreden machte, um nicht abzureisen; dessen ungeachtet aber, heißt es ferner, war der Stadtrichter mit den Soldaten abgegangen, um das Haus zu untersuchen, ob sich Gift daselbst befände, um Erkundigungen einzuziehen und alle Schuldigen zu verhaften.

Die Sache mußte grundlos sein, denn die Schriftsteller jener Zeit, welche von dem Verdacht sprechen, der auf jenen Edelleuten ruhte, führen keine Beweise an. Aber nur zu sehr glaubte man sie bei einer andern Gelegenheit gefunden zu haben.

Die Prozesse, die in Folge dessen entstanden, waren sicherlich nicht die ersten in ihrer Art, und man kann sie durchaus nicht als eine Seltenheit in der Geschichte der Rechtsgelehrsamkeit betrachten. Um von dem Alterthum ganz zu schweigen und nur Einiges aus den Zeiten anzuführen, die der näher stehen, die wir behandeln – so wurden in Palermo 1526, in Genf 1530, dann 1545, dann wieder 1574, in Casale Monferrato 1536, in Padua 1555, in Turin 1599 und in dem nämlichen Jahre 1630 bald dieser und jener, bald viele Unglückliche gerichtlich verfolgt und meistens zu den grausamsten Qualen verdammt, weil man sie beschuldigte, die Pest durch Pulver, durch Salben, durch Hexerei oder durch alles zusammen fortgepflanzt zu haben. Wie aber die Geschichte der sogenannten mailänder Salbungen die berühmteste war, so ist sie vielleicht auch die beobachtenswertheste, oder wenigstens ist hier ein großes Feld, um Beobachtungen darüber zu machen, weil umständlichere und glaubwürdigere Urkunden davon überblieben sind. Und obgleich ein eben erst gelobter Schriftsteller sich damit beschäftigt hat, indem er sich vornahm, nicht sowohl die eigentliche Geschichte zu geben, als vielmehr einen Beitrag von Beweisen zu einem größern Unternehmen von unmittelbarerer Wichtigkeit, so hat es uns dennoch geschienen daß die Geschichte der Stoff zu einer neuen Arbeit sein könnte. Ueber diese Sache aber[202] läßt sich nicht mit wenig Worten hingehen, und hier ist nicht der Ort, sie mit der Ausführlichkeit zu behandeln, die sie verdient. Außerdem würde der Leser, nachdem er sich bei diesen Begebenheiten aufgehalten hat, gewiß nicht mehr nach dem übrigen Verlauf unserer Geschichte verlangen. Indem wir einem andern Schriftsteller die Geschichte und Untersuchung jener Begebenheiten überlassen, kehren wir endlich zu unsern Personen zurück, um sie nicht eher zu verlassen als am Ende.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 183-203.
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