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[95] Zwei Tage waren seitdem verstrichen. Gestern war der Baumeister im Hirschwinkel gewesen; er hatte sich mit den Intentionen des Gutsherrn vollkommen einverstanden erklärt und ein möglichst rasches Vorgehen in Aussicht gestellt. Herr Markus hatte ihn bei Besichtigung der Vorwerksgebäude begleitet – selbstverständlich hatte er die Schwelle der Hausthür nicht überschritten, dazu war er ja viel zu standhaft in seinen Beschlüssen; aber er konnte es doch nicht hindern, daß der Amtmann an das Fenster kam, um ihm für den Korb feinen Weines, den er sofort nach seiner Heimkehr auf das Vorwerk geschickt, in feuriger Lobpreisung der edlen Gabe zu danken. Er hatte es auch dankend acceptieren müssen, daß ihm ein Gegenbesuch in Aussicht gestellt wurde – und er war auch gekommen, der alte Herr, einige Stunden darauf, so zwischen »hell und dunkel«.

Herr Markus hatte in dem Pavillon auf der Mauer gesessen und da waren zwei Gestalten am Rand des Gehölzes erschienen – eine männliche, die, den Gehstock schwerfällig aufstapfend, mühselig dahergehumpelt war, und ein weibliches Wesen, auf dessen Arm sich der alte Mann gestützt hatte ... Hatte Frau Griebel nicht gesagt, daß das Fräulein Gouvernante genau eine solche Hopfenstange sei, wie die fremde Magd? – Nun ja, das war sie gewesen, eine große, schlanke Dame in elegant sitzender, weichfallender, dunkler Robe – ein grauer Schleier hatte vom kleinen, weißen Strohhut geweht und auch wie ein grauverstaubtes Spinnengewebe über dem Gesicht gelegen.

Geradezu lächerlich aber war es gewesen, zu sehen, wie die erbitterte schöne Dame bei Herrn Markus' Heraustreten auf das Freitreppchen dem Onkel eilig etwas zugeflüstert hatte, um gleich darauf mit wenigen Schritten in das Gehölz zu fliehen und spurlos zu verschwinden ... Und der alte Herr hatte seinen Stock mitten auf den Weg gestemmt, hatte mit steifgewendetem Nacken der Entflohenen verblüfft nachgestarrt und ein heiliges Donnerwetter hinterdrein geschickt, bis ihm die Erleichterung geworden war, sich auf den Arm des herbeigeeilten Gutsherrn stützen und über die alberne Prüderie der jetzigen jungen Frauenzimmer erbost schimpfen zu können.[95]

Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihn das Freitreppchen hinauf zu bringen; droben aber hatte er sich behaglich in den weichen Eckdiwan gedrückt und vergnüglich das »allerliebste Junggesellennestchen« auf der Mauer gemustert. Gleich darauf hatten Zigarren und zwei grünfunkelnde Römer auf dem Tische gestanden, und der köstliche Duft des edlen Rheinweines war der langhalsigen Flasche entquollen. Herr Markus hatte die neue Hängelampe des Pavillonstübchens angezündet, und mit dem Aufflammen des weißen Lichtes war auch die zwischen »hell und dunkel« verlegte Besuchsstunde motiviert worden – es war ein gar zu fadenscheiniger, sorgsam geflickter Rock gewesen, der über den hageren Schultern des alten Herrn wie über einem Kleiderstock gehangen hatte. Aber die Wäsche war bezüglich der Weiße und Sauberkeit tadellos gewesen, und auf dem Oberhemd hatte ein imitierter Stein in altmodischer Fassung als Busennadel geglänzt.

Und das konnte sich Herr Markus nicht verhehlen – es war eine sehr angenehme Stunde gewesen, die er da verlebt. Der alte Mann hatte höchst interessant über Welt und Leben gesprochen und sich als wissenschaftlich gebildet entpuppt, und der seltsame Zug in der Natur dieses leichtlebigen Verschwenders, nach welchem er allezeit und in allen Dingen den besten und wohlbegründetsten Rat für andere, nie aber für sich selber gehabt haben sollte, war dadurch als vollkommen bewahrheitet hervorgetreten.

Später hatte der Gutsherr seinen Besuch selbst nach Hause geführt – das war nun wieder nicht zu vermeiden gewesen;[96] denn allein konnte der Halbgelähmte nicht so weit gehen, und es war niemand gekommen, ihn abzuholen. Zwar hatte Herr Markus' scharfes Ohr ein verdächtiges Schlüpfen durch die Stämme an der Wegseite hin aufgefangen; aber diejenigen, die es so verletzend vermieden, mit ihm in Berührung zu kommen – mochte es nun Fräulein Gouvernante oder die verhaßte Prüde sein – die ignorierte er auch; und so hatte er im Weiterschreiten laut zu dem etwas schwerhörigen Amtmann gesagt, es müsse sich Wild in das kleine Gehölz verirrt haben, er höre es vorbeischlüpfen; und mit einem leisen, spöttischen Auflachen war er weitergegangen, auf dem rechten Arm die ganze Last des weinseligen alten Herrn, und im linken ein Paket Bücher, welche sich der Amtmann vom Eckbrett herabgeholt mit dem Bemerken, daß er nach guter Lektüre förmlich lechze; er habe ja aus Mangel an Raum seine ganze kostbare Bibliothek, in die er Tausende gesteckt, verkaufen, respektive zu Schandpreisen verschleudern müssen ...

Mit Pachter Griebel hatte sich Herr Markus rasch verständigt. Der Wackere hatte sich sofort bereit erklärt, den Gutsherrn bei seinem Samariterwerk zu unterstützen, und seine brave Ehehälfte hatte mit dem Bemerken acceptiert, was ihr Peter einmal wolle, das geschehe ja doch, und wenn er zehnmal seine duckmäuserische stille Miene aufstecke – er habe es eben faustdick hinter den Ohren, und da sage sie denn in Gottesnamen Ja und Amen. Aber verwehren könne es ihr doch niemand, wenn sie den Kopf schüttele und die Hände zusammenschlage über den jungen Herrn, dem's jedenfalls zu wohl sei, denn sonst ginge er doch wohl nicht so tanzlustig aufs Eis ... Mit der Frau Amtmann und allenfalls der Fräulein Gouvernante würde sich's ja vielleicht leben lassen – es käme ihr nicht darauf an, die alte Frau zu heben und zu tragen und des Nachts bei ihr zu wachen – das thäte sie recht gerne, und die stolzen Mucken der Gouvernante, na, die brauche man ja nicht zu sehen. Aber mit dem Amtmann, dem Faulpelz, dem Schlecker, dem Besserwisser, da gäb's Krieg, das wolle sie nur gleich von vornherein sagen – und wenn sie seine Kuh mit Butterbrot und die paar abgelebten Hühner mit Eierkuchen füttere, er habe doch zu nergeln, das wisse sie ... Und die Magd in ihrem abgetakelten Stadtfähnchen und mit dem städtischen Gethue passe auch nicht aufs Gut, wo im groben Bauernrock und ohne Scheuleder gearbeitet würde. Das aparte Ding mache nur das Gesinde rebellisch, und ihr sei sie geradezu[97] unleidlich; und wie der Zufall diese Abneigung auch noch motivieren half, das sollte der Gutsherr heute bis zur Evidenz erfahren.

Er hatte einen umfangreichen Bericht seines Buchhalters erhalten und war genötigt, verschiedene dringliche Punkte sofort zu erledigen. Deshalb saß er schon seit Stunden am Schreibtisch im Erker, so angestrengt arbeitend, daß er der Außenwelt vollkommen entrückt war. Von der Pachterfamilie war heute noch niemand heraufgekommen. Er hatte das durch eine Magd servierte Mittagessen allein eingenommen, und nach ihrem Weggang war das Kritzeln seiner Feder das einzige Geräusch gewesen, das die tiefe Stille des Erkerzimmers unterbrochen. Nun aber wurde die Thür resolut geöffnet, und Frau Griebels Lederschuhe knarrten – sie brachte wie immer den Nachmittagskaffee eigenhändig.

»'s ist wahr, ein hübsch kühles Eckchen ist unser Gutshaus doch!« sagte sie, nachdem ihr Herr Markus von seinem Platze aus begrüßend die Hand gereicht hatte. »Draußen ist's schwül, Herr Markus, kochheiß wie in einem Backofen.« Sie fuhr sich mit dem kühlen Schürzenzipfel über Gesicht und Hals. »Ich war heute schon mit meiner Luise in den Morcheln, und einen Korb voll Erdbeeren haben wir auch zusammengelesen. Um vier Uhr in der Frühe sind wir schon aus den Federn und haben uns auf den Weg gemacht; wir müssen gar weit laufen – bei uns gibt's keine Morcheln. Aber drüben im Grafenholz, da schießen sie massenhaft – ich sage Ihnen, Kerle, halb so groß wie meine Faust – aus der Erde; da wachsen sie auf den alten Meilerstätten ... Ja, wär' das nicht, da brächten mich nicht zehn Pferde in das Grafenholz. Ich kann den Forstwärter dort nicht leiden; der thut gerade so dick und protzig wie die auf dem Vorwerk. Und dabei muß ich Ihnen nur gleich sagen, daß ich für künftig mit der fremden Magd bei Amtmanns nicht unter einem Dache hause – das geht ein für allemal nicht, schon meiner Luise wegen, wenn die in die Ferien kommt. Ich habe heute mein blaues Wunder gesehen! Ja, was meinen Sie denn – kommt uns doch das Mädchen in aller Frühe, sage halb fünf, aus dem Forstwärterhaus entgegen – hui, was Ihnen für 'ne Feuerfahne übers Gesicht fährt! Ja, nicht wahr, ins Herz hinein muß man sich schämen, wie es die Frauenzimmer heutzutage treiben?«

Sie stellte ihm die gefüllte Tasse neben seine Schreibereien auf den Tisch. »So, nun wissen Sie den Skandal und dürfen sich nicht wundern, wenn die Griebel auch 'mal ihren Kopf aufsetzt[98] ... Müssen Amtmanns durchaus noch ein Dienstmädchen haben, dann will ich schon für ein braves sorgen; die jetzige aber kommt mir nicht herein. Sie werden gewiß ein Einsehen haben und das nicht verlangen, Herr Markus! Bei Griebels stehen Zucht und Ehrbarkeit allzeit obenan ... Und nun lassen Sie Ihren Kaffee nicht kalt werden, und schreiben Sie sich nicht krank – Ihr Kopf glüht ja wie eine Feueresse!«

Kaum war die Thür hinter ihr zugefallen, als Herr Markus aufsprang, wie wenn er gewaltsam Fesseln zerrisse, die ihn auf seinem Platz im Erker festgehalten. Die gute Griebel war ein Klatschmaul, wie andere alte Weiber auch; er hatte Mühe gehabt, sie nicht bei den Schultern zu nehmen und empört zu schütteln ... Es ließ sich ja nicht leugnen, die Verlästerte that apart und strebte in Sein und Wesen weit über ihren Stand hinaus, und das machte es nur zu begreiflich, daß sie angefeindet wurde; aber ihr Wandel war rein, und mochte sie zu allen Stunden aus dem Waldhüterhaus kommen! – Ihm verursachte es nur stets eine Art von schmerzhaftem Schrecken, wenn vor seinen Ohren das Mädchen in Verbindung mit dem Grünrock genannt wurde ... Und jetzt ging ihm ein grelles Licht auf – sein Samariterwerk, wie Pachter Griebel sein Vorhaben nannte, nahm einen ganz anderen Verlauf,[99] als er gemeint hatte. Wohl konnte er sich mit gutem Gewissen sagen, daß er von Anfang an beabsichtigt hatte, das Vermächtnis seiner Tante möglichst günstig für die Betreffenden in Kraft treten zu lassen; aber sein schleuniges, fast überstürztes Handeln war nicht dem edelsten Motiv entsprungen – er hatte dem Grünrock den Humanitätsnimbus nicht gegönnt, er hatte ihm zuvorkommen wollen und damit das Gegenteil von dem erreicht, was er im glühenden Eifer angestrebt. Die aufopferungsvolle Fürsorge des Mädchens wurde durch seine Anordnungen der Herrschaft nunmehr entbehrlich, und da konnte ja schleunigst Hochzeit gemacht werden ...

Frau Griebel hatte recht, sein Kopf glühte und das Blut hämmerte ihm fieberhaft in den Schläfen. Er durchmaß unausgesetzt das Zimmer – und da wurde er sich plötzlich vollkommen klar über das, was in ihm vorging ...

Wie, war es nicht, als sehe der Herr Oberforstmeister mit höhnischem Lächeln auf den »Schlosserssohn« nieder, in welchem das Arbeiterblut mit richtigem Instinkt »gleich und gleich« erstrebte? Es wallte auf für eine, die das Brot der Dienstbarkeit aß, für ein Mädchen im Arbeitskittel mit hartgearbeiteten Händen. Aber stand es der, welche da neben dem Hochmütigen im bräutlichen Liebreiz lächelte, auf der weißen Stirn geschrieben, daß sie adligen Blutes gewesen war? – Durfte sich das Mädchen mit dem dunklen Haargewoge nicht kühnlich an die Seite dieser Blonden stellen? War sie nicht ebenso schön, und hatte sie nicht auch diesen seelenvollen, bezwingenden Blick, der hier im Bild und dort unter dem verhüllenden Tuch hervor, das er mit kecker Hand zurückgestreift, so sonderbar an sein Herz gerührt? – Mochte es draußen noch so schwül sein, es breiteten sich doch weite Wiesenflächen hin, über denen der hohe, blaue Himmel stand, und lange Weglinien schafften den wandernden Füßen Raum im Walde – hier erdrückte ihn der niedere Plafond auf den engen vier Wänden ...

Er griff nach seinem Hut. Die hingeschleuderte Feder lag in einer Tintenlache auf einem halbbeschriebenen, sauberen Briefbogen, und verschiedene leichte Zettel waren bei seinem hastigen Aufspringen von der Tischplatte herab auf den Boden geflogen. Er hatte keinen Blick für diese Unordnung. Mochte der Buchhalter daheim noch so dringend der erbetenen Weisungen bedürfen, der Chef der großen Firma Markus, sonst der strengste und gewissenhafteste Arbeiter seines Kontors, stürmte hinaus, achtlos die geschäftlichen Interessen hinter sich lassend.[100]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 95-101.
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