[143] Eine Zigeunerin sollte sie sein, die Rätselvolle? im wilden Lagerleben wäre sie erblüht? – Mit dieser kühnen Hypothese hatte die gute Griebel gleichsam einen Ball hingeworfen, den der Gutsherr fast wider Willen aufgefangen und seit gestern und heute halb belachte, halb mit stutzigem Auge prüfte. Er lachte, wenn er sich die geistige Grazie, die fest hervortretenden Charakterzüge des Mädchens vergegenwärtigte, welche unleugbar auf Schulbildung und gesitteten Umgang hinwiesen; er lachte, daß die braunen Augen – Frau Griebel hatte sie im Zorn für schwarz erklärt – ihren ernsten Mädchenblick, die weiße Haut den Schmelz bewahrt haben sollte im wüsten Hordenleben von Kindesbeinen an – nein, eine wilde Blume war sie nicht! Und doch drängten sich ihm dunkle Vermutungen auf. Waren die rätselhaften Besucher des Forstwärterhauses vielleicht Elemente eines Lebenskreises, dem sie entflohen? Hatten sie ihr nachgespürt und machten ihr Anrecht geltend, und der Forstwärter, der »goldtreue« Kamerad beschützte die lichtscheuen Zusammenkünfte des Nomadenvolkes in seinem Hause möglicherweise nur, um die Stammesgenossen allmählich zu beschwichtigen und das Mädchen mit der Zeit loszuketten? Das war abenteuerlich, und wenn er an sie dachte, an ihre strenge Arbeit, an die beispiellose Hingebung und Pflichttreue ihrer Herrschaft gegenüber, so verwarf er jenen Gedanken als absurd, als absolut lächerlich ... Aber er hatte sie gestern abend wieder im Waldhüterhaus gesehen. Nach langem Umherirren im Walde hatte er sich – ganz gegen seinen Willen, natürlicherweise – doch auf der alten Fährte wiedergefunden; sie war für ihn der gefeite Ring, den die Seelen verstorbener Bräute, die Willis, nächtlicherweile um ein Opfer ziehen, sie war wie das Wildgatter, an welches der Hirsch vergebens sein Geweih bohrt – über den Bann hinaus, der den Hirschwinkel und das Stückchen[143] Grafenholz mit dem Forstwärterhaus umkreiste, kann auch er nicht mehr.
Nun, er hatte sie belauscht, und zwar in später Abendstunde. Ehe er sich dessen selbst versehen, hatte er auf der Bank unter den zwei mit blauen Rouleaus verhangenen Eckfenstern gestanden; von diesen Fenstern war aber auch ein bläulich blasses Licht ausgegangen, ein magischer Schein, ebenso verlockend und anziehend für ihn, wie für die aus Busch und Sumpf herbeitaumelnden Motten- und Mückenscharen. Das eine leicht verschobene Rouleau hatte ihm einen schmalen Einblick in die geheimnisvolle Eckstube gewährt, und weil es so still rings im tiefdunkelnden Walde gewesen war, so totenstill, als sei Leben und Atem unter der lastenden Schwüle erstickt, so hatte er deutlich das Murmeln einer männlichen Stimme hinter den geschlossenen Scheiben hören können. Es hatte eintönig, fast wie die Beichte eines bedrückten Gemüts geklungen und war öfter durch schweres Atemholen oder einen schmerzlichen Seufzer unterbrochen worden.
Das Lampenlicht hatte die geräumige Stube nicht zu durchdringen vermocht, die größere Hälfte derselben war im düstern Halbschatten verblieben, und da hatte das Mädchen gesessen, still, den Kopf an die hohe Stuhllehne gedrückt und den linken Arm hingestreckt – es hatte ausgesehen, als halte jemand ihre Hand in der seinen, manchmal war ein leichtes Schütteln durch den Arm gegangen. Herr Markus hatte sich nach Kräften bemüht, zu erforschen, welcher Mensch da seitwärts in der dunklen Ecke sitze, so ohne Unterbrechung in das Mädchen hineinrede und ihre Hand in der seinen festhalte, als sei sie sein unbestrittenes Eigentum; aber der unausstehliche Fensterrahmen hatte sich gerade da breit gemacht, und der Unsichtbare war durchaus nicht so gefällig gewesen, sich auch nur ein einziges Mal vorzubiegen.
So verschleiernd auch das Halbdunkel gewesen war, das blasse Mädchengesicht hatte doch hindurchgeleuchtet; schmerzhaft war sein Ausdruck gewesen, und die geschmähten Augen, die keine Thränen haben sollten, hatten umflort und trübe an dem Sprechenden gehangen. Dann hatte sie sich plötzlich horchend emporgerichtet – näherkommendes Pferdegetrappel, das Herrn Markus schon längst irritiert und beunruhigt hatte, mochte nun auch an ihr Ohr gedrungen sein. Es war hohe Zeit gewesen, den Lauscherposten zu verlassen. Herr Markus hatte das Dickicht aufgesucht, und gleich darauf war ein Reiter um die Wegecke gekommen.[144]
Ruhigen Schrittes aus dem schweigenden Walddunkel in das ungewisse Dämmerlicht des sternbesäten Nachthimmels hervortretend, hatte die Reitererscheinung förmlich riesenhafte Konturen und eine geheimnisvolle Feierlichkeit angenommen, und es war unschwer gewesen, sich zu dem Schlapphut, den der gewaltige Mann zu Pferde getragen, auch die mit Silberthalern bedeckte Jacke eines Zigeunerhauptmanns zu denken ...
Bei seinem Näherkommen hatte sich die Hausthür geräuschlos aufgethan, und ebenso leise war der Forstwärter auf die Stufen herausgetreten. Im Flüsterton hatte er den Reiter begrüßt; er hatte das Pferd beim Zügel genommen und das Tier ein paarmal auf und ab geführt, während der andere abgestiegen und in das Haus gegangen war.
Vielleicht wäre in dieser Stunde das Rätsel gelöst worden, wenn Mosje Dachs nicht interveniert hätte. Der Köter hatte, plötzlich aus dem Hause springend, das Pferd kläffend umkreist, bis ihn ein Fußtritt seines Herrn zum Schweigen gebracht und aus dem Wege geschleudert hatte fast in der Richtung, wo der Lauscher hinter dem Baum gestanden.
Auf das erneute Anschlagen des Hundes hin war der Gutsherr scheinbar unbefangen aus dem Busch herausgetreten und ohne den Grünrock zu beachten, auf dem Fahrweg heimwärts geschritten. Später war er freilich nach dem Forstwärterhaus zurückgekehrt, und das blaue Licht der Eckfenster hatte auch noch immer wie ein blasser Stern in den Wald hineingeschienen; aber Roß und Reiter waren verschwunden gewesen wie ein nächtlicher Spuk; der hochlehnige Holzstuhl, auf welchem das Mädchen gesessen, hatte leer und verlassen gestanden, und von dem Murmeln aus der dunklen Ecke war auch nicht der leiseste Flüsterhauch mehr herübergekommen ... All das rätselvolle Thun und Treiben mußte ausgeflogen sein, zur Genugthuung des einsamen Hausbewohners, der nunmehr allein bei der halbverdeckten Lampe gesessen und den hübschen bärtigen Kopf vertieft über ein Buch gebückt hatte.
Und in das phantastische Gespinst, von welchem sich Herr Markus mit all seiner Selbstironie, seinem klaren Urteil nicht frei zu machen vermochte, mischten sich immer mehr Fäden von außen her. Der Jude, der von Tillroda eines Pferdehandels wegen auf den Gutshof kam, erzählte, daß eine Zigeunerbande den Ort passiere und Skandal gemacht habe, weil ihr der Aufenthalt nächtlicherweile nicht gestattet worden. Uebrigens seien es schöne, »ganz noble«[145] Leute gewesen, und Pferde hätten sie mit sich geführt, wahre Prachtexemplare einer edlen Rasse – natürlicherweise gestohlenes Gut aus den ungarischen Steppen ... Und gleich nach diesem Bericht beklagte sich ein heimkehrender Knecht bei dem Pächter, daß ihm der Forstwärter jetzt immer so grob die Hausthür vor der Nase zumache und ihn wie einen Spitzbuben draußen auf dem Fahrweg abfertige, wenn er im Auftrag seines Herrn komme – das waren allerdings frappante Streiflichter! –
Nun, er wollte den braunen Augen diesmal auf den Grund sehen! Er wollte all seinen Scharfsinn aufbieten und seine thörichte Leidenschaft niederkämpfen, um dem unbegreiflichen Mädchen klaren Kopfes gegenüber zu stehen, wenn sie kam – und sie mußte wiederkommen! Sie war zwar gestern, bis in in die tiefste Seele hinein verletzt, gegangen; aber sie hatte auch gesagt: »Ich komme wieder, um nachzusehen!« – Und daran hielt er fest, wie an dem Handschlag eines Ehrenmannes. Er behütete fast ängstlich den Verband an seiner Rechten, so lästig er ihm auch war; sie sollte sehen, daß er getreulich auf sie gewartet habe.
So hielt er standhaft aus in der wahrhaft erstickenden Nachmittagsglut, die über und in dem Pavillonstübchen brütete. Die Thür nach der Außentreppe stand weit offen, damit der »Heilgehilfe« direkt hereinkommen konnte; aber Stunde um Stunde verrann. Der Weg am Fichtenhölzchen blieb totenstill und verlassen; nicht einmal ein Schmetterling flatterte über die rissige, weißbestäubte Weglinie, auf der die erhitzte Luft flimmerte wie Backofenglut ... Noch wölbte sich der Himmel hart und dunstlos wie ein blaufunkelnder Glaskelch über der verdurstenden Erde, aber die ferne, scharfe Horizontlinie des Waldes fing an, sich zu verwischen. Ganz leise hob es sich dort drüben und schwoll und quoll empor und schaute vielgestaltig über die Wipfel in das Land herein – die ersten Wolken wieder seit vielen Tagen! Und wie sie sich dehnten und mit langen Armen in die blauen Lüfte hineingriffen und verwegen dem glühenden Sonnenball zustrebten, um ihn zu verhängen, so wuchs die Ungeduld des Wartenden – wenn sie sich verspätet, bis der Gewittersturm losbrach, dann sah er sie heute nicht mehr.
Er nahm seinen Hut, schloß die Glasthür hinter sich und stieg das Balkontreppchen hinab, und in dem Augenblick, wo er den Weg betrat, da wurde es auch lebendig hinter der äußersten Gehölzecke. Das stürmische Herzklopfen des harrenden Mannes erwies sich aber als gänzlich unmotiviert – es war nicht das verhaßte[146] und doch so heiß herbeigesehnte »Scheuleder«, das über dem niederen Fichtendickicht auftauchte – ein Strohhütchen mit wehenden blauen Bändern auf den Blondzöpfen, kam Luischen dahergesprungen, und hinterdrein trabte die dicke, brave Mama.
Frau Griebel blieb auf halbem Wege stehen. »Gott sei Lob und Dank, da kommt Herr Markus!« rief sie mit einer Kopfschwenkung nach dem aufsteigenden Wolkengebirge zurück. »Wenn wir's kriegen – das heißt, eine rechtschaffene, gründliche Pelzwäsche, sonst dank' ich – da backe ich den Tillröder Bettelkindern morgen einen Butterkuchen, der ihnen noch nach zehn Jahren gut schmecken soll!«
Sie stellte einen großen Handkorb auf den Weg und trocknete sich den Schweiß vom Gesicht. »Das war ein heißer Gang, Herr Markus, und für mich selber wär' ich heute nicht um die Welt aus unsern kühlen vier Pfählen herausgekrochen,« sagte sie zu dem Gutsherrn, der inzwischen herbeigekommen war; »aber die neue Magd ist um Mittag auf dem Vorwerk eingetreten, und da mußte ich selber nachsehen. Und es war gut, daß ich kam! – Das dumme Mädel kommt von einem reichen Bauerngut und heult nun über die leeren Schränke und den wüsten Keller ... Ich konnte mir's schon denken und hatte deshalb Schinken und Wurst und ein paar Einmachbüchsen in den Korb da gepackt, und während sie mir in der Küche vorlamentierte, da praktizierte meine Kleine die Sachen heimlich in den Speiseschrank ... Na ja, besonders schön ist's freilich nicht da drüben – sie haben nichts in der Räucherkammer, die Schweine sind ihnen vorigen Winter abgepfändet worden – und wer eben erst an den Fleischtöpfen Aegyptens gesessen hat, der mag sich bedanken. Um deshalb sollte die Herrschaft eigentlich doppelt freundlich zu dem neuen Gesinde sein; aber den Leuten steckt ja der Amtmannsdünkel im Blut, wie die Motten im Pelze – da ist nichts zu machen! ... Wie wir in die Hausflur getreten waren, ich und meine Luise, da kam die Fräulein Gouvernante gerade die Treppe herunter. Sie hatte ihren grauen Hutschleier um den Kopf gewickelt –«
»Ja, man sah nicht viel von ihrem Gesicht,« warf Luise ein; »aber sie ist so wundervoll gewachsen und sah vornehm aus wie eine Hofdame –«
»Und die ganze Hausflur roch in dem Moment nach Veilchen, wie zu Hause mein Leinenschrank,« ergänzte Frau Griebel trocken. »Und wie ihr mein Schnattergänschen da mit seinen Blauaugen[147] ein bißchen vorwitzig ins Gesicht guckt, da dreht sie sich weg und ist zur Hausthür hinaus, kein Mensch weiß wie ... Herr Markus, es ist schauderhaft, aber die Hoffart bleibt, und wenn im Magen keine Krume Brot und auf den Schuhen keine Sohle mehr ist! Ich hörte, wie ihr der Amtmann aus dem Fenster nachrief: ›Wo hinaus, Agnes?‹ – ›In den Wald!‹ – ›Hast du auch Handschuhe an?‹ – Nun bitte ich Sie, Herr Markus!«
Er lachte. »Mein Gott, warum soll denn die Dame ihre schönen Hände nicht pflegen? – Zwei Mägde arbeiten jetzt für sie –«
»So? Zwei? – Na, Sie werden gucken, wenn ich Ihnen sage, was ich weiß ... Sehen Sie« – sie hob mit einer strafenden, gekränkten Miene den Zeigefinger – »wie Sie gestern so morose Ihre Bücher zusammenpackten und aus dem Gartenstübchen fortliefen, als wär' Feuer auf dem Dache, da dachten Sie in Ihren Gedanken: ›Die alte Katze, die!‹ Und die ›alte Katze‹ war ich! – Na, na, seien Sie nur still! – Das weiß ich so gut wie das ABC – das hab' ich Ihnen nur so von Ihrem bösen Gesicht abgelesen! Aber ich war still und dachte auch mein Teil ... Und ich hab' recht gehabt, und ein andermal trauen Sie doch lieber einer ehrlichen, alten Frau, die ihr Lebtag nicht gelogen hat, als so einem Paar schwarzen Zigeunerfunkelaugen –«
»Was ist geschehen?« schnitt er ihr heftig, in unverhehltem Schrecken die Rede ab.
»Na, ein Unglück, über das man sich alterieren müßte, doch beileibe nicht! Wie kommen Sie mir denn vor, Herr Markus? Was geht es denn im Grunde uns beide an, wenn Amtmanns Knall und Fall ihre Magd wegjagen?«
»Weggejagt, sagen Sie?«
Jetzt kam ihr unzerstörbarer Gleichmut doch ein wenig ins Schwanken. Sie sah ziemlich konsterniert dem jungen Mann ins Gesicht, der sie so grimmig anfuhr. »Sie thun ja, meiner Treu', als hätte ich das Mädel beim Kragen genommen! Da muß ich denn doch recht sehr bitten! – Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich das aparte Ding jemals in mein Herz geschlossen hätte – das ist keine nach meinem Sinn – aber ihr schaden und sie bei der Herrschaft verhetzen – nein, das brächte ich nicht übers Herz! ... Ich fragte nur so nebenbei die ›Neue‹: ›Wo steckt denn die andere?‹ Da guckt sie mich ganz dumm und perplex an und weiß von keiner andern ... Das Fräulein habe ihr das Nötige gezeigt, sagte sie, und der alte Herr schnüffele auch immer[148] in der Küche herum und kommandiere brummig und barsch wie ein Unteroffizier – ein anderes Gesicht sei ihr aber weiter nicht vor die Augen gekommen –«
»Zur Sache!« drängte der Gutsherr bebend vor Ungeduld.
»Na ja, – und wie ich nachher drin in der Stube nach dem Mädchen frage, das ich doch oft genug auf den Vorwerksäckern bei der Arbeit gesehen habe – hören Sie, da kehrt doch die alte Frau im Bette das Gesicht ganz blaß und still nach der Wand, und der Amtmann kriegt einen feuerroten Kopf und sieht mich mit Augen an, als wollt' er mich fressen, und stottert und poltert und schnauzt mich an: ›Die da? Na, die ist fort, ja, fort über alle Berge, wie es sich ganz von selbst versteht! Oder glauben Sie etwa, meine Gute, ich werde zwei solche Tagdiebe ernähren, jetzt, wo sie mir die Bude über dem Kopfe einreißen und meine ganze schöne Oekonomie stockt und stillstehen muß?‹ – Ich bitte Sie, ›die ganze, schöne Oekonomie‹, Herr Markus! Der alte Aufschneider, der! ... Und was er sich nur einbildet, daß ihm eine erfahrene Frau, wie ich, die Flunkerei mit dem Mädchen glauben soll! In der ganzen Welt läßt sich kein Dienstbote ohne richtige Kündigung fortschicken, wenn nicht ein ganz besonderer Grund vorliegt. Weshalb unsereins den Grund nicht erfahren soll, das weiß ich freilich nicht; aber den Kopf will ich mir abschneiden lassen, wenn da nicht der Henkeldukaten im Spiele ist! ... Na, wohin denn so geschwind, Herr Markus?«
Sie wandte sich um und sah mit hochgezogenen Brauen dem Gutsherrn nach, der, im Sturmschritt an ihr vorüber, den Weg einschlug, den sie gekommen war.
»Und das fragen Sie auch noch, Verehrteste?« rief er zurück. »Können Sie sich denn gar nicht denken, daß ich furchtbar neugierig bin, die unvergleichliche ›Neue‹ kennen zu lernen?« –
Er eilte weiter, als trüge ihn der erste leichte Windstoß, der an der Gehölzecke aufflog, über das Weggeröll hin. Sein Blick durchforschte das karg bestandene Gelände – irgendwo, aus einem dürftigen Aehrenfeld oder zwischen den letzten Heuhaufen der nächsten Wiese, sollte und mußte ja das weiße Kopftuch auftauchen; aber es rührte und regte sich nichts im weiten Feld; nur die so lange ersehnten Wolkenschatten liefen drüber hin, als tröstende Vorboten, als Gewitterherolde, und durch die Birnbaumwipfel des Vorwerksgartens blies ein zweiter schwacher Windstoß und schüttelte geräuschlos verschrumpfte, kleine Früchte auf den Weg.[149]
Herr Markus kam an der stillen dunklen Lindenlaube vorüber und schritt durch das Himbeergebüsch in den Hof – da wurde es endlich laut. Die Thür knarrte, Spitz hob die Nase von den Vorderpfoten und kläffte, und vom Hause her klang brummiges Schelten.
Beim Eintritt in die Hausflur sah er den Amtmann vor dem Speiseschrank in der offenen Küche stehen. In der Linken hielt der alte Herr Stock und Pfeife und mit der Rechten warf er eben die Schrankthür ins Schloß, daß sie in den Fugen ächzte. Darauf zog er den Schlüssel ab und steckte ihn in die Schlafrocktasche.
»Der Teufel soll die Wirtschaft holen!« brummte er, in die Hausflur hinkend. Er streckte die Hand dem Gutsherrn hin, dem er in diesem Augenblicke vorkam, wie ein schlechtspielender Poltron auf der Bühne. – »Liegen da, im offenen Speiseschrank eine mächtige Cervelatwurst und mindestens drei Pfund vom allerbesten Schinken! Ein paar hübsche Bissen für die Strolche und Bettelkinder, die auf dem Vorwerk herumschnüffeln! Ei Herr Jesus! – Ja, wenn freilich so in meiner Räucherkammer mit meinen Vorräten gehaust wird, da braucht man sich freilich nicht zu wundern, wenn der Profit flöten geht! ... Und die Einmachbüchsen! Ein ganzes Regiment steht in dem einen Fache aufgepflanzt!« – Er kratzte sich hinter dem Ohr. – »Das darf ich meiner guten Frau gar nicht sagen, wie ihr schöner Keller geplündert wird – und weshalb nur, ins Henkers Namen? Ich wüßte nicht, daß wir irgend ein Diner oder Souper anberaumt hätten! ... Na, wenn meine Nichte heimkommt –«
»Vielleicht kann Ihnen die Magd Auskunft geben,« warf Herr Markus hin.
»Die dort?« Er zeigte mit der Pfeife nach dem Anrichtetisch zurück, an welchem ›die Neue‹ mürrisch und verdrossen hantierte. – »Ich bitte Sie, die ist ja kaum seit zwei Stunden im Hause!« –
»Ich spreche von der andern.«
Der Amtmann sah einen Moment wie abwesend in die Luft, als müsse er sich besinnen; dann bückte er sich plötzlich, um ein paar hängengebliebene Holzspäne von seinem zerfaserten Schlafrock abzuschütteln. »Ach, die? die?« brummte er ziemlich undeutlich – er hatte die Pfeifenspitze wieder zwischen den Zähnen. – »Ist nicht mehr da – nicht mehr da! Ist fort mit Sack und Pack!« – Er richtete sich wieder auf – das Bücken hatte sein Gesicht braunrot gefärbt. »Aber kommen Sie doch herein, Herr Markus! Meine Frau wird sich freuen, und ich muß Sie notwendig sprechen,[150] des neuen Hauses wegen ... Es sind mir da doch noch allerhand Bedenken aufgestiegen. Der Salon beispielsweise –«
»Wollen Sie mir nicht vorerst sagen, wohin sich das Mädchen gewendet hat?« unterbrach ihn der Gutsherr höflich, aber nachdrücklich.
»Herr, das ist eine närrische Frage!« fuhr der Amtmann unmotiviert auf. »Pardon – aber welcher Dienstherr kümmert sich um den Aufenthalt des entlassenen Gesindes? Ich bin gewohnt, meinen abziehenden Leuten ihren Lohn hinzuzahlen, und damit Punktum! Nachher sind sie absolut tot für mich, da scher' ich mich den Teufel drum, ob sie in einen andern Dienst gehen, oder in der Welt herumzigeunern! Für mich ist das Mädel eben fort, fort, als habe sie der Wind weggeweht, als wär' sie nie dagewesen – ja ja, nie dagewesen!«
»Aber Ihre Nichte, die das Mädchen mitgebracht hat, ist sie mit dieser plötzlichen Entlassung einverstanden?«
Wieder schoß dem alten Herrn das tiefe Braunrot über das ganze Gesicht. »Meine Nichte?« wiederholte er gedehnt. »Bah, danach wird nicht gefragt!« polterte er. »Die Bedenken der Frauenzimmer kommen erst in zweiter Linie – Herr im Hause bin ich! ... Aber – lächerlich! – Da stehen wir zwei und schwatzen wie die Spittelweiber über eine Bagatelle! Kommen Sie doch näher! Ich habe nämlich eine famose Idee! Das Parkett im neuen Salon –«
»Davon später, Herr Amtmann,« unterbrach ihn der Gutsherr finster – er wich nicht von der Stelle. »Die Bagatelle interessiert mich. Ich will und muß aus Gründen näheres wissen über das Mädchen, das auf dem Felde unverdrossen für Sie gearbeitet hat, in Wind und Wetter und Sonnenbrand –«
»Ah bah – dummes Zeug! So schlimm ist's nicht,« stotterte der Alte grimmig verlegen.
»Gut denn!« sagte Herr Markus – er trat unwillkürlich in brennender Ungeduld den Boden. – »Lassen wir es sein! Ich werde an das Gerechtigkeitsgefühl Ihrer Damen appellieren.«
Er wandte sich nach der Stubenthür, allein der alte Herr vertrat ihm erschrocken den Weg. »Herr, sind Sie des Teufels!« raunte er heftig abwehrend. »Wollen Sie mir mein armes, krankes Frauchen mit Ihrem Inquisitorgesicht alterieren? Die ganze Geschichte ist auch für sie eine abgethane Sache, und daran wird nicht wieder gerührt ... Ich bitte Sie, was schlagen Sie doch[151] für einen Lärm um ein Frauenzimmer, das wie ein Schatten durch unser Haus gegangen ist und für uns nicht mehr existiert –«
»Auch für Fräulein Franz nicht mehr, der sie eine treuergebene Dienerin gewesen ist? –«
»So? Wer hat Ihnen denn das Märchen aufgebunden?« fragte der Amtmann, ihn seltsam von der Seite ansehend – ein heimliches, schlaues Lächeln, gleichsam ein Aufhellen ging durch seine verwüsteten Züge.
»Das Mädchen selber –«
»Was der Tausend, sie hat mit Ihnen gesprochen? Und hatte Ihnen selbst, wirklich selbst gesagt, daß sie speziell meine Nichte bedient habe?« – Das fatale Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. – »Sieh, sieh! Na, meinetwegen auch! Ich hab' das nicht gewußt – bis in die Mansarde versteigt sich mein miserables Fußgestell niemals. Also die Kammerjungfer!« – Er kicherte in sich hinein und zuckte die Achseln. »Ja, da wird sich meine schöne Nichte allerdings einstweilen behelfen müssen, bis sie wieder in die große Welt eintritt, oder besser noch, bis mein Goldjunge wieder da ist! Dann geht's freilich aus einem andern Tone, Herr! Der läßt sie nicht draußen, seine schöne Kousine, und wenn sie am Fürstenhofe lebte! Bah, dann sind wir selbst Regierende, Regierende von Goldes Gnaden! Dann fährt sie nicht mehr in fremder Equipage, sondern in unserer ... Herr, ich weiß ein Paar Wagenpferde« – er küßte sich auf die Fingerspitzen – »wahre Prachtkerle an Feuer und Schönheit! Aber in wessen Stalle sie stehen, das verrate ich Ihnen nicht – Sie wären im stande und kauften sie mir vor der Nase weg! ... Ja, sehen Sie, das liegt alles schon fix und fertig da in meinem Kopfe – ein magnifikes Programm! Das macht mir so leicht keiner nach! Und wenn in diesem Augenblick mein Sohn auf die miserable Schwelle da träte, – in ein paar Tagen wollte ich ihm eine Umgebung gleichsam aus der Erde stampfen, wie sie sich für einen reichen Mann ziemt –«
Er kam nicht weiter. Der Gutsherr zog den Hut und schritt zur Hausthür hinaus.[152]
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