[15] Das Mädchen hatte sich kaum um zwanzig Schritt entfernt, als eine kleine, dicke Frau in braunem runden Strohhut und weiter Jacke aus einem schräg nach dem Fahrweg mündenden Waldpfad trat. Sie schritt direkt auf die Eilige zu und hielt sie an der Schürze fest.
»Hör' 'mal, Mädel, habt ihr denn wirklich die teuern Speisekartoffeln so in Hülle und Fülle, daß du Ende Juni, sage Ende Juni, den Betteljungen die ungewaschenen Mäuler damit stopfst?« fragte sie. – Das klang nicht etwa wie Schelten; die Frau sprach sehr langsam und bedächtig, aber nachdrücklich – man hörte, daß sie gewohnt sei, in aller Gemütlichkeit den Leuten die Köpfe zurechtzusetzen. – »Ich krieche tagtäglich auf allen vieren durch die Kellerecken, um noch ein paar feine Salatkartoffeln für unsern Tisch zu erwischen, und dort« – sie zeigte nach der Richtung zurück, in der sie gekommen – »dort braten sie haufenweise in der Asche ... Das soll einen nicht ärgern! Wir bezahlen auf die Minute pünktlich den teuren Pacht für schlechten Boden, und deine Amtmanns ernten die besten Aecker ab; sie leben ins Tageslicht hinein und fragen den Kuckuck danach, daß auch einmal bezahlt sein muß –«[15]
»Lassen Sie mich gehen, Frau!« rief das Mädchen halb gebieterisch, halb ängstlich, und strebte weiter zu kommen.
»Frau! Frau!« wiederholte die kleine Dicke geärgert und ohne den Schürzenzipfel loszulassen. »Bin ich denn ein Tagelöhnerweib? Und hast du denn gar keine Lebensart, Mädchen? Wenn du noch gesagt hättest, Frau Verwalterin, oder meinetwegen auch nur Frau Griebel – aber schlechtweg ›Frau‹! ... Du bist ja nicht um ein Haar besser als deine Herrschaft. Verschenkst mir nichts dir nichts gute Sachen, die nicht bezahlt sind, und hast den Hochmutsteufel und eitle Dinge im Kopfe ... Sieht man dich denn je ohne das Scheuleder da auf dem Acker oder beim Grasen?« – Sie zeigte nach dem weißen Kopftuch. – »Hör' 'mal, wenn man dienen muß, da darf man nicht danach fragen, ob einem die Sonne ein paar Sommerfleckchen mehr auf die Haut brennt oder nicht – das paßt nicht, da lachen dich die Leute nur aus, wie sie sich auch lustig drüber machen, daß dir der Graskorb nicht nobel genug ist. Hierzulande trägt man das Futter nicht auf dem Kopfe heim, das ist nicht Mode bei uns! Und laß doch 'mal sehen –« sie bog sich vor – »ach herrje, Forellchen hast du da im Netz? Guck' einer an, Forellchen! – Ja, ja, auf dem Vorwerk wissen sie, was gut schmeckt!«
»Der Fisch ist für die Kranke.«
»Ach ja – für die Kranke wird er geholt, und der Herr Amtmann ißt ihn – die alte Naschkatze, die! ... Gucke, Mädchen, wüßte ich das nicht, ich schickte manchmal ein Rebhuhn oder sonst 'was Gutes 'nüber – ich bin ja doch kein Unmensch und hab' Mitleid –«
»Wir danken!« kam es kurz und herb unter dem weißen Tuch hervor.
»Wir danken!« spottete die kleine Behäbige nach! – »Großplatziges Ding du! Wer ist denn ›wir‹? – 's ist ja wahr, Amtmanns haben schlimm gehaust mit ihrem großen Vermögen, das Hemd auf dem Leibe gehört ihnen kaum noch; aber deswegen sind's immer vornehme Leute und noch lange nicht deinesgleichen.«
Inzwischen war Herr Markus längst näher gekommen und stand neben der Sprechenden, ohne daß sie es bemerkte. Er verbiß mit Mühe das Lachen. Die drollige Frau hatte sich bei dem nachäffenden »Wir danken!« ironisch knicksend, tief und gravitätisch zu Boden gestaucht, und das war urkomisch gewesen. Sie hielt[16] das Mädchen noch fest – dem Beobachtenden war es, als müsse er den gefangenen Vogel befreien.
»Wer wird sich denn so ereifern, meine kleine Dame!« unterbrach er die Standrede.
Die Frau fuhr wohl bei der unvermuteten Einmischung ein wenig zusammen, aber außer Fassung geriet sie nicht. Sie wandte schwerfällig den Kopf auf dem fleischigen Halse und sah den Fremden aus schmalgeschlitzten, blauen Aeuglein von oben bis unten groß an.
»Wie kommen Sie mir denn vor?« sagte sie trocken. »Ich bin eine ehrbare Frau und noch lange nicht ›meine kleine Dame‹ für einen jeden, der dahergeschlichen kommt wie der Ratz vom Taubenhaus.«
Er unterdrückte ein Lächeln und sagte mit empörendem Gleichmut: »Protestieren Sie, so viel Sie wollen – es hilft Ihnen doch nichts! ›Meine kleine Dame‹ wird mir in dieser Stunde noch eine Tasse Kaffee servieren und heute abend eine gute Omelette backen; ›meine kleine Dame‹ wird mir für ein anständiges Nachtquartier sorgen und mäuschenstill sein, wenn ich im Hirschwinkel thue, als sei ich zu Hause –«
»Ach herrje – der Spaß! Sie sind Herr Markus!« lachte sie überrascht auf; aus ihrer Ruhe aber brachte sie die unerwartete Ankunft des »neuen Herrn« trotzdem nicht. »Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? ... Kommen Sie denn endlich aus Ihrer alten, märkischen Sandbüchse und sehen sich das gottgesegnete Fleckchen Erdboden an, das Ihnen der liebe Herrgott nur so in den Schoß geworfen hat? ... Na, und was sagen Sie denn dazu? Haben Sie solchen Wald, solche Wiesen, solche Berge schon einmal in Ihrem Leben gesehen? – Seien Sie nur still – das machen Sie mir nicht weis! ... 's ist hohe Zeit, daß Sie kommen, Herr Markus, hohe Zeit! Ueber unseren Köpfen pfeifen die Mäuse in Heerscharen, und die Mottenwolken will ich sehen, die aus den Wollstrümpfen und Unterjacken der sel'gen Frau Oberforstmeisterin auffliegen, wenn das Nest endlich aufgemacht wird!«
Währenddem entfernte sich das freigelassene Mädchen in stürmischer Eile.
Herr Markus sah ihr über Frau Griebels Kopf hinweg nach. Dort wo sie ging, lag der Fahrweg, bereits im hellen Sonnenschein. Rechts säumte ihn das Wiesengrün, und auch auf[17] der entgegengesetzten Seite trat das Walddickicht weit auseinander; wie Alleebäume reihten sich die Buchen hin und warfen da und dort Schlagschatten über den Weg, der in scharfer Krümmung nach links einbog.
»Liegt in der Richtung dort der Hirschwinkel?« fragte Herr Markus und zeigte nach einer vereinzelten Baumgruppe, hinter welcher das Mädchen eben verschwand.
Noch einmal bei der Wegbiegung hatte sich ihre Gestalt in scharfer Profilstellung vom Hintergrund abgehoben, seltsam fremdartig, weit mehr die Erscheinung einer schlanken, braunen Fellahtochter vom Nilufer, als die eines stämmigen Thüringer Waldkindes.
»O herrje, wie närrisch Sie fragen!« lachte Frau Griebel. »Sie stehen ja mittendrin im Hirschwinkel und gehen schon seit einer reichlichen halben Stunde auf Ihrem eigenen Grund und Boden! Und dort zwischen den Bäumen können Sie auch schon die Hintergebäude vom Gute sehen ... Von Kaffee sprachen Sie vorhin, Herr Markus? Na, Sie sollen einen Kaffee bei der Griebel trinken, der seinesgleichen sucht! ... Gehen Sie nur einstweilen weiter auf dem schön trockenen Weg da – immer der Nase nach, Sie können gar nicht fehlgehen! Ich schlüpfe unterdessen hinten 'rum, durch den Hof in die Küche – muß doch sehen, ob die Magd kochendes Wasser hat.«
Es war nun zwar kein »Schlüpfen«, mit welchem sich die kleine Dicke seitwärts durch die knackenden Büsche schlug; aber sie kam doch flink vorwärts und war sehr schnell den Blicken des Weiterschreitenden entschwunden. –
Das Gutshaus war ein völlig schmuckloser Bau, ein altes Haus mit hochragendem Dach, und an der Giebelwand, nach der Wetterseite hin, mit Schiefer wohlverwahrt und beschlagen. Sonst einförmig weiß angestrichen, hatte es als einzige Unterbrechung inmitten seiner kasernenartigen Fassade nur einen Erker, der vom Fundament bis unter das Dach so voll und dicht mit Waldepheu bewachsen war, daß die Fenster in seinen drei Wänden vertieft wie Schießscharten erschienen. Drunten hatte das einsam gelegene Haus grüne Sicherheitsläden; im oberen Stock aber hingen nur gleichmäßig weiße, mit groben, gehäkelten Kanten besetzte Shirting-Rouleaus hinter den sichtlich verstäubten Scheiben.
In der weiten, das ganze Gehöft abschließenden Umfassungsmauer, die das Haus zu beiden Seiten flankierte, befand sich[18] rechts der Eingang, eine schöne massive Doppelthür mit glänzend poliertem Messinggriff; zur Linken dagegen lief sie ohne Unterbrechung in die Ecke aus, auf welcher ein hölzerner, grünumrankter Gartenpavillon wie ein kleines rundes Nest saß ... Kirsch- und Apfelbäume reckten dort ihre Zweige über die Mauer, und dahinter hoben sich auch Linden- und Kastanienwipfel.
Das ehemalige Heim der Frau Oberforstmeisterin machte einen überraschend freundlichen, behäbigen Eindruck.
Vor den Fenstern lag grüner Rasen, so üppig und gleichmäßig, als werde er unter der Schere gehalten, und weiterhin, in die mäßige Thalsenkung hinab, lief das Ackergelände mit seinem wogenden Halmenmeer, seinen Raps- und Runkelfeldern und den üppigen Flachsbreiten mit wehendem blauem Schleier.
Herr Markus war nach Frau Griebels Verschwinden langsam weiter geschlendert und stand nun angesichts »des Fleckchens Erdboden, das ihm der liebe Herrgott in den Schoß geworfen«. – Himmlischer Waldfrieden wehte ihn an. Das betäubende Hämmern und Pochen in seiner Fabrik, das rastlose Lärmen und Hasten der Berliner Straßen, in denen er auch heimisch war, wie weit, wie weltenweit lag das alles in diesem Augenblick hinter ihm!
Ein paar Truthühner passierten geräuschlos aus der Thür, die man wahrscheinlich zu seinem Empfang eiligst geöffnet hatte, und droben aus dem einen Schornstein fuhr plötzlich eine gewaltige Rauchwolke in den glänzend blauen Himmel hinein – Frau Griebel schürte jedenfalls unter dem Kaffeetopf und heizte die Back- und Bratmaschine zu Ehren und zum[19] Labsal des neuen Hausherrn. »Holder Friede, süße Eintracht!« summte Herr Markus vor sich hin. »Einlullendes Stillleben!« – Himmel! Er fuhr herum und sah nach dem offenen Fenster im Erdgeschoß, aus welchem Klavierakkorde herüberbrausten; dann schüttelte er sich lachend. »Tyrann, entsetzlicher Klimperkasten! Selbst bis hierher verfolgt er den Musikmüden mit seinem tönenden Hämmern!« rief er mit komischem Pathos und trat schleunigst durch die Mauerthür in den Hof.
Ein wütendes Hundegebell empfing ihn.
»Sultan, Schlingel, willst du gleich still sein! – Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!« schrie Frau Griebel von den Thürstufen des Hauses herab. »Kusch! Oder ich komme mit dem Stock!«
Sultan kroch in die Hundehütte, und »Ihren Eingang segne Gott!« sagte Frau Griebel in umgewandeltem Ton und streckte herabkommend dem »neuen Herrn« beide Hände entgegen.
»Das ist Herr Peter Griebel, mein guter Mann,« – damit schob sie ihren Arm in den des Mannes, der mit ihr gekommen war. – »Und hören Sie's, Herr Markus? Das ist meine Luise, die so schön spielt! Sie spielt den Marsch aus dem Propheten, Ihnen zu Ehren. Sie ist die beste Schülerin in der Pension und will Gouvernante werden. So – nun kennen Sie alle meine Hühner und Gänse!«[20]
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