20

[189] »Na, dann ist's ja gut!« würde Frau Griebel gesagt haben, wenn sie dabei gewesen wäre. Ob es ihr aber gefiele, wenn diese Erzählung mit dem Segenswunsch der »alten Frau Amtmann« schlöße? – Schwerlich! Denn erstlich würde es ihren Mutterstolz tief kränken, daß ihre Luise so ohne Sang und Klang vom Schauplatz verschwände; es ginge ihr ferner wider Pflicht und Gewissen, wenn alle die lesenden Leute nicht erführen, wo und auf welche Weise das Konfirmationsgeschenk der seligen Frau Oberforstmeisterin, Luises Henkeldukaten, wieder ans Tageslicht gekommen ist, und schließlich hat ja die brave Dicke vor allen noch fleißig ihre Hände zu rühren, auf daß alles ins rechte Geschick und Geleise komme, und das darf nicht verschwiegen bleiben, das muß gesagt werden – von Rechts wegen!

Sie stand am Tage nach dem Gewitter mit ihrem Töchterlein in der Hausflur und schnitt den verheißenen riesigen Rosinenkuchen in Stücke, und draußen auf den Thürstufen und unter dem Birnbaum harrten die herbeigeströmten jungen Leckermäuler und guckten gespannt, aber auch mit scheuem Respekt durch die weit offene Thür; herein konnten und durften sie nicht – die weißen Schürzen der »Frau Verwalterin und ihrer Fräulein Tochter« schimmerten und blendeten förmlich in Sauberkeit, und die gescheuerten Flurdielen thaten desgleichen, und obendrein stand Hanne mit einem großen Kuchenteller neben dem Tische und hatte wahrhaft mörderische Blicke für jeden kleinen nackten Fuß, der die Schwelle mit einem Abdruck seiner Sohle bedrohte.

Frau, Fräulein und Magd sahen plötzlich auf, als zwei eintretende hohe Gestalten den Eingang verdunkelten. Frau Griebel ließ das Messer sinken, und ihre schmalgeschlitzten, blauen Aeuglein thaten sich weit auf ... Ja, das war freilich Herr Markus, der Gegenstand ihrer mütterlichen Fürsorge, »ihr verhätscheltes Ziehkind«, wie er sich selber immer nannte, aber ganz anders sah er[189] aus! So hoch aufgereckt, so stolz, so strahlend! ... Und neben ihm wehte ein weißes Kleid herein, und die schöne Schlanke, die es trug, und die an seinem Arme hing, »als müßte das so sein«, hatte ein hübsches, graues Schleierhütchen auf ihrem dunklen Haar – den Hut aber hatte die brave Dicke schon gesehen, das war in der Tillröder Kirche, in Amtmanns »Stand« gewesen; folglich war die weiße Dame da die Nichte des Amtmanns, das Gouvernantenfräulein, und der mußte stockblind sein, dem nicht sofort sonnenklar wurde, daß es mit dem Hochzeitskuchen seine Richtigkeit habe ... Und das kam so vom blauen Himmel herunter, das war so hinterrücks abgemacht worden! Man mußte sich schämen, daß man so dumm nebenher gegangen war und »keine Augen im Kopfe« gehabt hatte; aber ihre Verblüfftheit sollte er nun auch nicht merken, der Herr Duckmäuser! ... Sie strich sich mit beiden Händen glättend über die knappsitzende Schürze, ging einige Schritt vorwärts und machte einen feierlich bewillkommnenden Knicks, und auf den Kuchen deutend, sagte sie mit verständnisinnigem Blick: »Der ist's aber noch nicht, Herr Markus!«

Er lachte. »Nein, fürs erste feiern wir Verlobung, wie es Sitte und Brauch und fein anständig ist, gelt, Agnes?« Er stellte seine Braut vor, und währenddem hatte die ergrimmte Hanne »alle Hände voll zu thun«, die schmutzigen Barfüßchen zurückzuhalten, die sich herzudrängten, um der schönen Braut im weißen Kleid in das Gesicht zu gucken.

Sie war aber auch gar nicht stolz. Sie streifte sofort ihre Handschuhe von den Händen und half der kleinen Luise die Kuchenstücke unter die Kinder verteilen, und der Herr Bräutigam holte flink einen Schlüsselbund und kam gleich darauf mit einem Armvoll Weinflaschen aus dem Keller. Jedes der schmausenden Kinder erhielt ein Glas Rheinwein, und der Gutsherr schüttelte seine Börse[190] voll kleiner Silbermünzen in die Hand der Braut, damit sie das Geld unter der jubelnden Schar verteile. Und während sie auf den Stufen stand, von den anstürmenden Kindern umdrängt, und halb lachend, halb verweisend die Ordnung aufrechthaltend, da schlürfte Frau Griebel bedachtsam den goldigen Trank aus ihrem Glase, und die klugen, blinzelnden Augen hingen an dem Mädchen – die flinken Hände dort guckten doch merkwürdig sonnverbrannt und dunkel aus den weißen Mullärmeln! Am Halse, unter der Spitzenkrause blinkte ein gehenkeltes Goldstück, und das schöne Gesicht – na ja, sie hatte ja schon einmal gesagt, daß man solch ein Gesicht weit und breit suchen könne! Aber jetzt sagte sie nichts, gar nichts; sie stieß nur mit Herrn Markus an auf den »Schatz, den erhebe«, wie er ja gestern selbst gesagt hatte, und meinte, so wie sie die Sache beurteile, sei er wirklich ein Glückspilz und habe sich nicht verrechnet ...

Und als sie später mit dem Brautpaar in das obere Stockwerk hinaufstieg, weil Agnes das Erkerzimmer zu sehen wünschte, da zeigte sie auf das Bild der seligen Frau Oberforstmeisterin und sagte geheimnisvoll: »Fräulein Braut, das war seine erste Liebe im Hirschwinkel – in den gemalten schönen Krauskopf da hatte sich unser junger Herr völlig verguckt, die Flachslocken hatten es ihm angethan –«

»Die Flachslocken am wenigsten, Verehrteste!« lachte der Gutsherr. »Nein, der Zauber dieser Erscheinung wirkte erst wahrhaft hinreißend auf mich, nach dem ich einen tiefen Blick in das innere Leben der seltenen Frau gethan hatte!« wande er sich, sehr ernst werdend, an seine Braut. »So zart und lieblich, scheinbar ein schwaches Weib, und dabei eine Seele voll Kraft und Energie! Diese wundervolle Charaktermischung trat mir hier zum erstenmal vor Augen und hat mich geschickt gemacht, dich zu verstehen, zu würdigen, Agnes!«

Das junge Mädchen, das er bei diesen Worten zärtlich an sich zog, war zu Lebzeiten der alten Freundin nie in den Hirschwinkel gekommen, eine derartige Unterbrechung ihrer Einsamkeit hatte die Gutsherrin nicht geliebt; wohl aber war sie selbst öfter auf der Domäne Gelsungen gewesen, wo sie Gelegenheit genug gehabt hatte, Amtmanns Nichte und Pflegekind kennen und schätzen zu lernen. Die alte Dame hatte auch dort botanisiert, und auf diesen Streifzügen durch Wald und Feld war Agnes ihre stete Begleiterin gewesen.[191]

Sie sah sich jetzt gerührt, mit feuchten Augen um in dem anheimelnden Zimmer, dessen Wände alle Stadien eines verwaisten Frauenherzens, vom ersten wilden Schmerzensausbruch an bis zur mild schweigenden Resignation herab, mit angesehen. Bisher hatte sie zu dem Erker nur im Vorübergehen voll ehrfürchtiger Scheu emporgeblickt – nun durfte sie eintreten, und der traute Winkel sollte ihr Mädchenstübchen sein, bis der geliebte Mann kam, sie heimzuführen ...

»Ja, bei Lebzeiten der seligen Frau Oberforstmeisterin ist mir das Glashäuschen, der Erker da, immer vorgekommen wie ein Schmuckkästchen, voll blühender Reseda und Alpenveilchen, und um Weihnachten gab's Maiblumen und Tulpen auf den Fensterbrettern, wie im schönsten Treibhause« ... sagte Frau Griebel. »Ach ja, es war gar etwas Eigenes um unsere alte Dame – ›die reine Poesie‹ – sagt meine Luise immer bei dergleichen! Aber deswegen war sie doch resolut und praktisch wie irgend eine – das Notwendige und Nützliche kam immer in erster Reihe, ja, ja, da wurde nicht gefackelt! ... Na, und was ich sagen wollte, Herr Markus, viele Sprünge können Ihre Gäste hier oben nicht machen, der Platz ist gar zu knapp –«

»Liebste Griebel, erschrecken Sie mich nicht! Ich wollte eben noch einen neuen Bewohner anmelden – der Sohn des Amtmanns ist angekommen –«

»I was! Der aus dem Goldlande?«

»Ja, der. Und er ist krank gewesen und soll sich hier erholen. Und ich selbst bleibe natürlicherweise auch im Hirschwinkel, solange ich kann – Sie müssen Rat schaffen!«

»Ei, jawohl, daran soll's nicht fehlen! Sie logiere ich unten in meiner Wohnstube, und hier oben – na, da lassen Sie mich sorgen!« – – – –

Im Forstwärterhause hingen schon nach einigen Tagen die blauen Rouleaus nicht mehr hinter den Scheiben, und die Tillröder Jugend, die jetzt mehr als je eine ungewöhnlich reiche Beerenernte in den Wald lockte, sah das Brautpaar alle Tage zu dem »Forstwärter« auf Besuch gehen. Der Kranke erholte sich zusehends. Anfänglich war er freilich sehr niedergeschlagen gewesen; er hatte gehofft, dem Gutsherrn, der ihn in seiner so trostlosen Lage gesehen, nie wieder zu begegnen; ja, noch in seinen letzten lichten Augenblicken, vor Ausbruch der Krankheit, hatte er Agnes und den Forstwärter beschworen, mit keinem Wort seine Anwesenheit zu verraten – er[192] hatte für die Bewohner des Gutshauses absolut nicht mehr existieren wollen ... Nun kam aber der prächtige, imponierende Mann Tag für Tag an sein Bett und half ihn pflegen. Und der brüderliche herzliche Ton, den er anschlug, half schließlich dem Heimgekehrten über das Gefühl grenzenloser Demütigung hinweg. Wahrhaft neubelebend aber wirkte die Nachricht auf ihn, daß ihm das Vorwerk als Eigentum zufallen solle. Von diesem Tage an erhob sich seine gebeugte Gestalt in sichtlicher Wiederkehr geistiger Spannkraft und eines befestigten Willens.

Das war der eine Teil der Mission, die Herr Markus von den Schultern seines geliebten Mädchens nunmehr auf die seinen genommen; der andere, auf dem Vorwerk sich abspielende, machte ihm ungleich mehr zu schaffen – der Amtmann ließ sich seinen Glauben an die kalifornischen Reichtümer absolut nicht nehmen. Er hatte für jeden ausgesprochenen Zweifel ein verächtliches Auflachen, und seine beißenden Repliken ließen durchblicken, daß er Neid und Mißgunst bei den Zweiflern voraussetze. Als ihm aber der Gutsherr an dem Tage, wo der junge Franz an seinem Arm zum erstenmal ins Freie gegangen war, mitteilte, daß ein Brief seines Sohnes an dessen alten Spielkameraden, den Forstwärter, eingelaufen sei, da war der alte Herr sehr still und betreten – aus dem bisherigen langjährigen Schweigen des »Goldjungen« ließ sich nun kein Kapital mehr für den Renommisten schlagen. Mit jedem Tag rückte die vermeintliche Heimkehr des Sohnes näher und wurde es den Eltern deutlicher gemacht, daß er nichts mit heimbringe, als ein Herz voll treuer Kindesliebe und den festen Willen, für die Seinen zu arbeiten, zu sorgen. Auch hier wurde die Mitteilung von dem Vermächtnis der alten Freundin zum heilenden Balsam. »Nun, meinetwegen denn, wenn es einmal nicht anders sein kann!« sagte der Amtmann bittersüß; die alte Frau aber weinte selige Thränen.

Unterdessen vollzog sich auch nach außen hin eine große geräuschvolle Wandlung. So lebendig war es seit undenklichen Zeiten nicht im Hirschwinkel gewesen. Auf dem Vorwerk wimmelte es von Arbeitern, die hier ein beträchtliches Stück des Fichtenwäldchens niederlegten, dort die Stallgebäude einrissen, während Tag für Tag Steine zum Neubau angefahren wurden. Und im Gutshause rumorten Besen und Scheuerwische, Betten wurden gesömmert, Teppiche und Möbel ausgeklopft, und Frau Griebel dankte dem[193] Himmel, daß ihre Luise wegen Umbau im Institut verlängerte Ferien habe und ihr beistehen könne. In all diesen Trubel hinein kamen auch noch Sendungen aus Berlin – ein Fahrstuhl für die Frau Amtmann und bequeme Lehnstühle in das Wohnzimmer der beiden alten Leute, und später – Herr Markus mußte selbst lachen, als er es auspacken half – ein Pianino in das Erkerzimmer. Da sollte es für immer bleiben, damit die junge Frau bei ihrem künftigen Sommeraufenthalt in Thüringen die Musik nicht entbehre.

»Ja, nun sehen Sie, so geht's, Herr Markus, so ändert sich der Mensch!« sagte Frau Griebel mit hochgezogenen Brauen und lehrhafter Miene, als das schöne Instrument aufgestellt wurde. »Gleich zu Anfang gaben Sie mir recht deutlich zu verstehen, daß Sie das Klavierspielen nicht ausstehen könnten; natürlich hat meine Kleine dieserhalb keine Taste anrühren dürfen, wenn Sie zu Hause waren – und ich hätte gar manchmal für mein Leben gern meine Leibstückchen gehört, ach ja! – Nun lassen Sie für Ihr schweres Geld solche einen ›verwünschten Klimperkasten‹ directement aus Berlin kommen, schleppen ihn selbst mit herauf, schwitzen und keuchen und zerbrechen sich den Kopf, wie er wohl am besten steht, daß nur um Gotteswillen beim Spielen kein solch kostbares Tönchen verloren geht! Und das alles, weil Sie die zwei Hände lieb haben, die drauf spielen sollen! ... Na ja, das wußte ich – ›Zeit bringt Rosen‹ und ›Not bricht Eisen‹ und die Lebendigen gehen vor, die haben das Recht auf Erden, und was tot ist, das hat sich zu bescheiden. Du lieber Gott, wenn alle Welt so denken wollte wie Sie – nämlich, wenn allemal die Stuben der Gestorbenen, mit allem was drin ist, bis in alle Ewigkeit verschlossen werden sollten – ja, nachher würde bald die ganze Welt eine große Trödelkammer sein und das Menschentum müßte den Lumpen Platz machen ... Ich bin ja auch kein Unmensch und hab' gewiß Respekt vor dem Andenken der Leute, die gestorben sind, und deshalb hab' ich dem seligen Herrn Oberforstmeister seinen Schlafrock tüchtig eingepfeffert – die Motten saßen nämlich fingerhoch drin – und mit all dem verschossenen abgetakelten Krimskrams in eine Kiste gepackt. Die steht nun festvernagelt in einer Bodenecke, und da kann sie bleiben bis an den jüngsten Tag – ich stör' sie ganz gewiß nicht. Und das hübsche Daunenbett, worin das Oberforstmeister-Jüngelchen vor vielen, vielen Jahren einmal ein paar Wochen geschlafen hat, das liegt gründlich gelüftet und ausgeklopft in der Bettkammer, und es können nun auch einmal andere drin schlafen.[194] – So – und nun sehen Sie, wie hübsch bequem und geräumig es hier oben geworden ist! Jetzt könnten meinetwegen noch zehn Amtmannssöhne aus dem Goldlande kommen!«

Damit schloß sie die nach links liegende Zimmerreihe auf, und sie hatte recht, ein behaglicheres Logement ließ sich nicht denken. Trotz alledem ging dem Gutsherrn die totale Umwandlung nahe – er hatte sie sanktioniert ohne es zu wissen.

»Es war die höchste Zeit, daß ein vernünftiger Mensch wieder einmal in das Grabmal da hereinkam,« fuhr Frau Griebel fort, ohne auch nur die geringste Notiz von der Verstimmung ihres jungen Herrn zu nehmen. »Und wenn unserer alten Dame die Mottenwolken um die Ohren geflogen wären, da hätte sie tausendmal ›Ja und Amen‹ gesagt zu meinem gründlichen Ausfegen ... Uebrigens frage ich, was hätte denn werden sollen, wenn Sie später einmal mit Familie zur Sommerfrische in den Hirschwinkel kommen? Da sollten sich wohl die munteren, kleinen Brandenburger vor dem vermoderten Sechswochenkindchen der Seligen in die Ecken drücken? I, das wär' ja noch schöner!«

Dieses Argument der resoluten, leibhaftigen Praxis war offenbar der wirksamste Effekt der ganzen ausführlichen Rede – Herr Markus räumte schweigend das Feld ...

Das begab sich am Morgen des Tages, wo die Uebersiedlung der »Amtmannsleute« vom Vorwerk nach dem Gutshause stattfinden sollte. Droben war alles fertig. Der Erker stand voll köstlicher Blumen, und über allen Thüren hingen Kränze und Guirlandenbogen; drunten aber wurde erst recht gerückt und geschoben, gescheuert und abgestäubt – die Wohnstube, Herrn Markus' einstweiliges Asyl, kam zuletzt an die Reihe.

Man mußte sehr vertieft sein in das Reinigungswerk, denn als die Einziehenden den Hof betraten, da bellte nur Sultan wie besessen zur Begrüßung und die Truthühner kamen anstolziert, sonst aber ließ sich kein lebendes Wesen sehen. Erst als der Gutsherr mit seiner Braut die Hausflur betrat, da flog die Wohnstubenthür auf, und Frau Griebel kam herausgepoltert, hinterdrein Luise.

»Eine schöne Bescherung!« rief die kleine dicke Mama. »Um ein Haar hätte ich den Willkomm versäumt, und hab' mir doch die allerschönste Rede einstudiert! Aber der ist dran schuld!« – Sie schlenkerte den verloren gewesenen Henkeldukaten am langen Samtbande durch die Luft. »Ja, da ist er, der Sapperloter! Hinter der Kommode hat er logiert, Herr Markus – wie wir die[195] wegrücken, um Ihren Schreibtisch hinzustellen, da klingelt der Ausreißer auf die Dielen 'runter! Und Hanne behauptet, den habe Röse, das abscheuliche Ding, dahinter praktiziert, nur damit wir denken sollten, der arme Bursch, den wir von der Landstraße heimbrachten, sei ein Spitzbube gewesen! Sollte man's denn für menschenmöglich halten? – Der arme Kerl hatte ihr auf der Gotteswelt nichts zuleide gethan!«

»Er war kein Dieb – ich wußte es wohl!« sagte Luise. »Er war stolz und brav. Solche gute blaue Augen –« Sie verstummte plötzlich und wurde feuerrot. Unter der Hausthür, kaum drei Schritt entfernt, sah sie einen hohen, schlanken, etwas schmalschulterigen jungen Mann stehen; er war elegant gekleidet, sah fein und vornehm aus, und auf seinem unbärtigen, schmalen Gesicht schien in diesem Moment der Widerschein der Röte zu flammen, welche die Wangen des kleinen, blonden Mädchens bedeckte.

Er hatte den Amtmann die Thürstufen heraufgeführt. Der alte Herr verschnaufte einen Augenblick, ehe er in die Hausflur trat; dann kneifte er Luischen in die Wange, und der »Frau Mama« stellte er den ein wenig scheu und verlegen blickenden jungen Herrn an seiner Seite als seinen lieben Sohn vor, der eine weite, herrliche Reise zu seiner Belehrung gemacht habe – wie es sich für einen jungen Mann von Stande schicke – und erst gestern direkt von Bremen angekommen sei ...

Gleich darauf rollte auch der Fahrstuhl drunten vor die Stufen. Der Forstwärter hatte es sich ausgebeten, die kranke Frau Amtmann fahren zu dürfen. Nun nahm er »das schmächtige Weibchen« in der That wie ein Kind auf den Arm und trug es die Treppe hinauf in das Erkerzimmer, wo ein festlich arrangierter Eßtisch die Ankommenden erwartete.[196]

Von diesem Tage an begann ein schönes, ein musterhaftes Zusammenleben im Gutshause. Selbst der Amtmann, die große Wandlung in seinem Dasein wohl empfindend, moderierte möglichst seine Streitsucht und Rechthaberei, – bei seinen unvermeidlichen renommistischen Auslassungen drückten die anderen mild schweigend ein Auge zu; er wäre sonst wohl erstickt an dieser unverbesserlichen Leidenschaft ... Sein heimgekehrter Sohn aber ging völlig auf in seinem neuen Beruf. Er ging noch einmal in die Lehre bei dem einfachen, wackern Gutspächter. Von früh bis spät war er in Feld und Wald und arbeitete wie ein Knecht, und Peter Griebel meinte, nun werde das Vorwerk freilich »ein ander Gesicht kriegen«.

Unter diesem Sonnenschein des Glückes lebte auch die alte Frau, die so lange in dumpfer Stube an das Krankenbett gefesselt gewesen war, neu auf – der Arzt verhieß ihr völlige Genesung. Abends versammelten sich alle Lieben, zu denen jetzt auch Peter Griebel mit Weib und Kind gehörte, um ihren Lehnstuhl im Erkerzimmer – da wurde musiziert und geplaudert, und gar manchmal funkelten noch um Mitternacht die hellen Fenster des Gutshauses in das feierliche Waldesschweigen hinein.

Herr Markus verschob seine Abreise von Woche zu Woche, und die kleine Luise wünschte mit rührender Offenherzigkeit, daß die Schulstube im Institut niemals fertig werden möchte. Sie spielte keine Märsche mehr – Mendelssohns »Lieder ohne Worte« und dergleichen waren an die Reihe gekommen: noch lieber aber sang sie mit ihrer süßen, keuschen Stimme »Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein« – und was sonst noch der große Tondichter an sehnsüchtigen Wünschen und heimlicher Liebe in seine hinreißenden Klänge gebannt hat ...

Daß diesem harmonischen, beglückenden Zusammenleben viel Geheimnisvolles vorausgegangen war, schien niemand zu denken, es wurde mit keiner Silbe berührt ... Auch der Forstwärter, der fast täglich aus und ein ging – der Gutsherr hatte ihm zu seinem Entzücken alle Schätze der Bücherstube zur Verfügung gestellt – er war auf seiner Hut, und nie entschlüpfte ihm eine Bemerkung über die Zeit, wo er den schwerkranken Jugendfreund in seinem Hause verpflegt hatte ... Herr Markus lachte im stillen über die kluge, brave Dicke, die stets behauptete, »nicht von gestern« zu sein – diesmal waren die scharfen blauen Aeuglein doch recht blöde gewesen, und die Mama konnte es hinsichtlich[197] der Naivetät getrost mit ihrer sechzehnjährigen Einzigen aufnehmen ...

Es war aber am Abend vor der nunmehr definitiv festgesetzten Abreise des Gutsherrn – er mußte heim, um alles Unerläßliche zu seiner Verheiratung vorzubereiten. Sie waren alle oben im Erkerzimmer versammelt. Der Amtmann, seine Frau und Peter Griebel spielten Whist mit einem Strohmann; die schöne Braut hatte sich für einen Moment hinter der Theemaschine postiert, und Frau Griebel strich an einem Seitentische Butterbrötchen, während Luise am Pianino saß und mit innigem Ausdruck sang: »Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer«. – Der junge Franz lehnte seitwärts an der Wand, so daß er dem reizenden blonden Mädchen in das Gesicht sehen konnte, und er that das angelegentlichst – er schien sie mit den Augen zu verschlingen.

Der Gutsherr stieß die am Seitentisch beschäftigte Frau leise an und blinzelte lächelnd nach dem interessanten jungen Paar hinüber. »Wie wär's denn, verehrte Pflegemama, wenn am fünfzehnten September statt einem, zwei liebende Paare in der Tillröder Kirche ›zusammengegeben‹ würden?«

»Ein bißchen zu früh, Herr Markus!« sagte sie nichts weniger als überrascht und klappte eine dünne bestrichene Brotschnitte mit gewissenhaftiger Genauigkeit aufeinander. »Mein Mädel ist noch zu jung, und eine rechtschaffene Aussteuer macht man auch nicht so über Hals und Kopf fertig – was denken Sie denn? Da will mehr dazu! ... Sonst wär' mir's schon recht! Er ist brav und gut, einen besseren Schwiegersohn können wir uns nicht wünschen, und meine Luise? – Na, frisch und gesund und geschickt ist sie ja, und Kisten und Kasten sind auch nicht leer bei Griebels – mein Peter und seine Alte sind ihr Lebtag keine Faulpelze gewesen und haben zu sparen verstanden ... Na ja, wie ich sage, recht wär's uns beiden Alten; aber« – sie zwinkerte dem Gutsherrn mit pfiffigem Lächeln zu und erhob sich ein wenig auf den Zehen, um sein Ohr mit ihrem Geflüster zu erreichen – »aber gelt, wer hätte das gedacht, als ich dem Rotbart draußen an der Straße die Semmel in die Hand drückte?«

Herr Markus hatte Mühe, ein lautes Auflachen zu unterdrücken. »Sie haben es herausgebracht?«

»Na ja, freilich, – ich und meine Luise! Und die zuallererst! Die hat auf den ersten Blick gewußt, wo Barthel Most holt, und wenn zehnmal der Herr Amtmannssohn seinen[198] roten Bart abgeschnitten hatte. Sollte man's denn denken, die Luise, das kleine unschuldige Ding, kaum aus dem Ei gekrochen? ... Aber die Liebe macht scharfe Augen; freilich, im übrigen ist sie für alles was drum und dran ist, gewöhnlich blind und taub – die Liebe nämlich – und merkt nichts, bis sie mit der Nase auf das Wahre und Reelle gestoßen wird – oder war's vielleicht anders mit Ihnen und Amtmanns Magd, Herr Markus? – – – «

Fußnoten

1 Verwandtschaft.


2 Zigeuner.


Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amtmanns Magd
Amtmanns Magd; Roman

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon