5

[42] Herr Peter Griebel unterbrach dieses unerquickliche Nachsinnen. Er kam vom Felde heim und erzählte dem Gutsherrn unter vergnüglichem Händereiben, daß die Absteckpfähle der Eisenbahningenieure drüben im Wiesengrund eingerammt würden – der Ackerboden bleibe unberührt seitwärts liegen. Dagegen habe der Amtmann Franz einen »Mordspektakel« erhoben. – Peter Griebel hatte in ziemlicher Entfernung seinen Protest voll Gift und Galle, sein Poltern und Räsonnieren mit angehört. Der Schienenweg sollte aber auch direkt durch den Vorwerkshof und so nahe an der südlichen Ecke des Wohnhauses hinlaufen, daß der alte, morsche Bau in wenigen Jahren notwendig als Schutthaufen in sich zusammenstürzen mußte.

Bei dieser Meldung erinnerte sich Herr Markus des Briefes, den er in die Tasche gesteckt und über dem Rencontre mit dem Mädchen vergessen hatte. Er erbrach ihn und überflog halb belustigt, halb geärgert den Inhalt – die Leute auf dem Vorwerk waren doch samt und sonders, vom Herrn bis auf die Magd herab, unverbesserlich vom Hochmutsteufel besessen – eine merkwürdige Gesellschaft, ein lächerliches Gemisch von Schwindelei, Anmaßung und Prüderie! –

Der Amtmann ignorierte vollständig die Thatsache, daß ihm durch den Rechtsanwalt des Erben der Pachthof seit Jahresfrist gekündigt worden war. Er protestierte in kategorischer Weise gegen das laxe Verhalten des Gutsherrn der Eisenbahnfrage gegenüber, durch welches er, sein Pächter, in seiner Existenz geschädigt würde. Nie und nimmer werde er darauf eingehen, den Oekonomiehof hinter das Haus zu verlegen, so wenig wie er sich gefallen lasse, daß ihm seine Wohnung eines schönen Tages über dem Kopfe zusammengerumpelt werde. – Schließlich berührte er sehr von oben herab mit wenigen flüchtigen Worten den Umstand,[42] daß er mit »dem bißchen Pachtgeld« allerdings noch restiere, aber er erwarte täglich eine bedeutende Geldsendung, die sein Sohn, ein grundreicher Mann in Kalifornien, unbegreiflicherweise verzögere – sofort nach Eintreffen des Geldes werde »die Bagatelle« berichtigt werden.

»Ja, ja, so macht's der Amtmann!« lachte Peter Griebel gutmütig, nachdem ihm Herr Markus den Briefinhalt mitgeteilt hatte. »Er ist eben ein närrischer Kauz –«

»Ein närrischer Kauz? Was du doch immer für gemütliche Ausdrücke hast, Peter – ein Erzaufschneider ist er!« unterbrach ihn seine Frau. Sie hatte Petersilie vom Beet geschnitten, war auf die oberste Stufe des Pavillontreppchens von der Gartenseite her gestiegen und streckte die Faust mit dem dicken Petersilienbündel warnend durch die offene Thür. »Lassen Sie sich um Gotteswillen mit dem nicht ein, Herr Markus – Sie werden übers Ohr gehauen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht!« Der denkt auch wie der Vogel Strauß, wenn er die Augen zumacht, da sieht's kein Mensch, in was für ein Hungerloch er sich durch seine eigene Schuld gesetzt hat ... Mit dem Sohn in Kalifornien will er Ihnen auch nur Sand in die Augen streuen, wie all den dummen Leuten, die ihm geborgt haben ... Mag schon ein schönes Früchtchen sein, der Herr Sohn von so 'nem alten Schwindler!«

»Mach's doch nicht gar zu schlimm, Jettchen! Bist doch sonst nicht so!« sagte ihr Mann. »Von der Frau Oberforstmeisterin weiß ich, daß der junge Franz ein guter Mensch gewesen ist – nur der Zorn und Jammer über die miserable Wirtschaft auf der Domäne hat ihn in die weite Welt getrieben. Er soll auch einmal ein großes Stück Geld heimgeschickt haben. Freilich, nachher ist er verschollen, und seine alte Mutter soll sich deshalb fast zu Tode grämen.«

»Na, da hören Sie's ja, Herr Markus!« bemerkte Frau Griebel, anzüglich mit dem Daumen nach dem Sprechenden zurückweisend. – »Und da verlangt der Mann auch noch, man soll solch einen unnützen Burschen, der nicht einmal Papier und Tinte für seine Mutter hat, womöglich für eine Respektsperson ansehen! – Da kannst du warten, Peter!« – Damit kletterte sie brummend und schwerfällig die Treppe hinab, um ihre Petersilie in die Küche zu tragen.

Herr Markus durchmaß unausgesetzt das Pavillonstübchen,[43] nachdem auch Peter Griebel in die nahe Laube gegangen war, wo ihm sein Töchterchen Butterbrot und Cervelatwurst und ein Gläschen goldhellen Nordhäuser zum Frühstück auf den Steintisch gestellt hatte.

Mit dem Brief des Amtmanns war die Erbschaftsangelegenheit, die der Zufall in die Hand des neuen Gutsherrn gespielt hatte, in eine neue Phase getreten. Heute morgen noch hatte er gemeint, durch eine Besprechung mit seinem Rechtsanwalt, kurz vor seiner Abreise, und ein paar Briefe von Berlin aus werde sich der letzte Wunsch seiner Tante leicht in Ausführung bringen[44] lassen, ohne daß der ihm so antipathische persönliche Verkehr mit den Beteiligten notwendig geworden wäre ... Nun erschien aber eine ganz neue Person auf der Bildfläche – es war ja auch noch ein Sohn da, von welchem die Verstorbene eine sehr gute Meinung gehabt haben sollte, wie Peter Griebel wiederholt versicherte, und dennoch erwähnte ihn die letzte Verfügung mit keiner Silbe. War er vielleicht auch so nachgiebig und weichherzig wie seine Mutter und der gewaltthätigen, rücksichtslosen Art und Weise des Amtmanns ebensowenig gewachsen, so daß die Testatorin gefürchtet, auch in seiner Hand sei der letzte Notanker nicht gesichert? –

Demnach mußte die alte Dame eine große Achtung vor der Charakterstärke des Mädchens gehabt haben, unter dessen Hut sie die Zukunft der unglücklichen Jugendfreundin zu stellen gewünscht hatte. Herr Markus begriff diese Verblendung nicht. – Die Verstorbene war der unermüdliche Fleiß, die Thatkraft selbst gewesen; auf dem Felde und im Milchkeller, in der Küche und im Laboratorium, am Krankenbett der Armen, wie am Schreib- und Arbeitstisch, hatte sie sich stets zur rechten Zeit finden lassen, und nie war es ihr in den Sinn gekommen, sich auch nur ein Band ihres Anzugs, oder das Haar von fremder Hand ordnen zu lassen ... Wie in aller Welt nun kam diese praktische, thätige Frau dazu, ein Mädchen mit einer solchen Aufgabe zu betrauen, von welchem er eben noch gehört hatte, daß es sich selbst in seiner jetzigen derangierten Umgebung fortgesetzt auf die verwöhnte Weltdame spiele, nicht Hand noch Fuß rege, um der verkommenen Wirtschaft aufzuhelfen, und auch noch Kammerjungferdienste von der Dienerin beanspruche, die sich von früh bis spät im Hauswesen wie auf dem Felde plagen mußte.

Er verwünschte den »dummen Einfall«, infolgedessen er den alten Strickbeutel durchstöbert hatte – wäre er doch so weise gewesen, das urvorweltliche Möbel mit seinem Inhalt unbesehen in der Kommodenecke vermodern zu lassen ... Nun war er auch noch so bodenlos albern, sich das Geschick der alten Frau auf dem Vorwerk zu Herzen zu nehmen und die gewissenhafteste Erwägung für seine Pflicht zu halten! ... So viel stand fest, die Frau Oberforstmeisterin hatte sich bei aller Klarheit und Schärfe in Charakter und Wesen ihrer erwählten Erbin gründlich getäuscht – möglicherweise war ihr eine Komödie vorgespielt worden. War es nicht geboten, ihren Mißgriff zu korrigieren und doch lieber dem jungen[45] Franz das kleine Erbe in die Hand zu geben? – Wer bürgte denn dafür, daß sich für die »Weltdame« nicht sofort ein Freier fand, wenn die Erbschaft ruchbar wurde? Dann zögerte Fräulein Gouvernante sicher keinen Augenblick, mitzugehen – Fremde säckelten den Nachlaß ein, und die arme Kranke auf dem Vorwerk hatte das Nachsehen.

Voll Aerger fuhr er sich mit beiden Händen durch das Haar – nun blieb ihm doch nichts anderes übrig, als in einen sauren Apfel zu beißen und die Verhältnisse bei »Amtmanns« samt dem »Gouvernantenfräulein« mit eigenen Augen zu prüfen.

Er blieb tagsüber verstimmt und griff gegen Abend nach seinem Hut, um den Wald zu durchstreifen. – Das dunkle Laubdach über dem Kopf und verworrenes Rankengestrüpp zu Füßen, arbeitete er sich am liebsten durch das wilde Dickicht, und wenn der schwach moderige aber kräftige Walderdengeruch aus den frischen Fußstapfen zu ihm emporhauchte und das aufgestörte, unabsehbare Blättergewoge unter seinen pfadbahnenden Armen wie empört aufrauschte, da mußte er ironisch lächelnd der Anlagen gedenken, die sein Vater dem kümmerlichsten Fleckchen der märkischen Sandbüchse abgerungen. Wie erlogen breitete sich dort das Rasengrün mit seinen Teppichbeeten vor der Villa hin, und die glatten Wege der wie heuchlerische Kulissen aufgestellten Bosketts endeten mit all ihren künstlerischen Windungen schließlich doch zur schreckhaften Enttäuschung in der Sandöde.

Ein nur von den Forstleuten und dem Holztransport frequentierter Fahrweg trennte das Gebiet des Hirschwinkels von dem sogenannten Grafenholz, dem fürstlichen Waldrevier, und nahezu mit dieser Verkehrslinie schloß die Thalsohle ab, und der herrliche Buchenbestand fing an, steil bergauf zu klettern; nur noch ein steiles Stück Wiesengrund schmiegte sich zwischen ihn und den Weg, und auf diesem Rasenfleck stand das Haus des fürstlichen Forstwärters.

Es war ein hübscher, neuer Ziegelbau mit großen, blanken Fenstern und einem weißen Holzstaket zur Seite, das ein kaum zwei Beete breites Stückchen Gartenland umschloß.

Schon zweimal hatte Herr Markus auf seinen Streifereien hier Halt gemacht, und auch heute blieb er stehen, als die roten Wände plötzlich aus dem Busch hervortraten. Der Waldhüter, der das Haus bewohnte, mußte ein wahres Klausnerleben führen; er war jedenfalls ein unverheirateter Mann, der mit dem Hausschlüssel[46] in der Tasche seinem Berufe nachging. Nie stand die Thür gastlich offen, nicht die Spur eines Rauchwölkchens kräuselte über dem Schornstein; an den Fenstern, die wohl ein paar Blumentöpfe auf den inneren Simsen, aber nirgends den Schmuck hübsch gefalteter Gardinen aufwiesen, zeigte sich kein Menschengesicht, so wenig wie man irgend ein Hantieren innerhalb der vier Wände hörte; nur droben am Giebelfenster hingen drei, vier hölzerne Vogelbauer, in denen Finken und Kreuzschnäbel lärmten, und an dem steilen Abhang hinter dem Hause kletterten zwei naschende Ziegen herum, die wohl in den Stall des Forstwärters gehörten.

Der neue Gutsherr im Hirschwinkel hatte jedesmal die Lust verspürt, dem nachbarlichen Waldhütershaus näher in die Fenster zu gucken, lediglich um zu erfahren, an welcher Art Lektüre sich der ehemalige Taglöhnerjunge erquicke in seiner kärglichen Mußezeit, die ihm der strenge Dienst und seine Aushilfe auf dem Vorwerk übrig ließen. Wenn es Ritter- und Räubergeschichten waren, die dort zwischen den Blumentöpfen auf der niederen Brüstung übereinander lagen, so steckten sie wenigstens nicht in der Livree der Leihbibliotheken – er sah das über die Fahrstraße hinweg, die ihn um mindestens zehn Schritt von dem Hause trennte. – Vielleicht war er ein Mann von Intelligenz und Weltgewandtheit, dieser Waldhüter; er verkehrte ja viel auf dem Vorwerk, wo sich selbst die Magd, die mit Milcheimer und Heurechen hantierte, einer salonmäßigen Ausdrucksweise befleißigte.

Mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen bog er das letzte Gestrüpp auseinander, um auf den Fahrweg herauszutreten, als ihn das Gebaren der einen Ziege stutzig machte. Es war ein junges, schmächtiges Tier, das wie toll den Abhang herunter und über das schmale Wiesenland hin rannte; ihre Gefährtin trabte gemächlicher hinterdrein, aber auch direkt nach der Richtung, in welcher jetzt leichte Menschentritte hörbar wurden ... Herr Markus stampfte den Boden – immer wieder dieses Mädchen, das bereits anfing, ihm den Waldaufenthalt gründlich zu vergällen! War denn Amtmanns Magd das einzige weibliche Wesen, das in Wald und Feld lebte und atmete? –

Da kam sie richtig wieder daher, das »Scheuleder« auf dem Kopfe und einen großen Marktkorb am Arme. Die Ziegen liefen neben ihr und fraßen von dem Stück Brot in ihrer Hand, das sie für die Naschmäuler aus der Tasche gezogen hatte.[47]

Herr Markus trat tiefer in das Gebüsch zurück, hinter die nächste dicke Buche, er wollte sich nicht noch einmal ärgern, wie heute in der Frühe. Das Mädchen war ihm förmlich verhaßt, und ebenso beflissen, wie er heute morgen den Tabaksrauch unter das weiße Tuch geblasen, warf er jetzt die glimmende Zigarre auf den Boden und zertrat sie, auf daß ja nicht das leichteste, hinüberziehende Duftwölkchen seine Anwesenheit verrate.

Das Mädchen warf den Ziegen die Brotreste hin und trat auf die Thürstufen, um einen Einblick in das nächste Fenster zu gewinnen. Das Zimmer mußte leer sein; auch auf ein wiederholtes[48] Klopfen gegen die Scheiben rührte sich nichts im Hause und die Thür blieb verschlossen. Da hieß es, sich in Geduld fassen! –

Den Handkorb neben sich stellend, setzte sich die Angekommene auf die grüngestrichene Bank zu seiten der Hausthür, jedenfalls um die Heimkehr des Hausbewohners zu erwarten. Sie löste die Tuchzipfel unter dem Kinn und ließ die weiße Umhüllung über den Nacken hinabfallen. So – das war sie ja nun, vom Scheitel bis zur Fußspitze, Amtmanns eitle Magd, die auf ihre Haut nicht das kleinste Sonnenfleckchen brennen lassen wollte, wie Frau Griebel erbittert behauptete, und so zornig Herr Markus war, er mußte zugeben, daß es auch schade um diesen etwas blassen, zartleuchtenden Teint gewesen wäre; er mußte bekennen, wie schon heute morgen bei seinem flüchtigen Einblick, daß der Kopf dort den Adel und die Anmut der Gestalt nicht im entferntesten verwischte, sondern in voller Harmonie ergänze. Das verdroß ihn erst recht. Es wäre ihm tausendmal lieber gewesen, sie hätte geschielt, wäre sommersprossig und plump von Zügen gewesen – »die Aparte«.

Sie strich sich das lose Haar aus der Stirn nach dem Hinterkopf, wo es, ungeflochten zu einem dicken Knoten aufgewunden, von einem Kamm gehalten wurde; dann legte sie tiefaufatmend die gefalteten Hände in den Schoß und lehnte, augenscheinlich erquickt durch die Waldruhe ringsum, den Kopf an die Hauswand. Sie sah sorgenvoll, wenn auch nicht eigentlich gedrückt aus und war wohl auch zu lebhaft und energisch, um sich länger als für ein paar Augenblicke der absoluten Unbeweglichkeit hinzugeben.

Aus dem Korb wurde ein Päckchen genommen, auseinandergerollt und mit prüfendem Blick über die Kniee hingebreitet – Herr Markus sah, daß es eine weiße Spitzenkante war, wahrscheinlich alter, ausgedienter Putzkram vom »Gouvernantenfräulein«, der nun noch an dem weißen Halse dort paradieren sollte. – Die flinken Finger wendeten das mißfarbene Gewebe nach allen Richtungen, und es sah fast aus, als streichle die Rechte liebkosend drüber hin – dann wandte das Mädchen plötzlich den Kopf zur Seite, wickelte die Kante eiligst zusammen und erhob sich.

Ein stattlicher Mann im grünen Rock kam den Fahrweg entlang. Als er der Wartenden ansichtig wurde, beschleunigte er seine Schritte, und auch sein Hund, der müde vor ihm hergetrottet war, schoß vorwärts und sprang freudebellend an dem Mädchen empor.[49]

»Es ruht sich köstlich vor Ihrer Klause, Fritz – aber ich bin froh, daß Sie kommen; ich habe Eile!« sagte sie und kopierte ihre junge Dame jedenfalls bis auf die kleinste Nüance, denn in der Art und Weise, mit welcher sie den höflichen Gruß des Herankommenden erwiderte, lag so viel freundliche Würde, wie sie höchst wahrscheinlich die blaustrümpfige Amtmannsnichte dem ehemaligen Taglöhnerjungen gegenüber herauszukehren pflegte.

»Ich habe einen dringenden Auftrag für Sie,« fuhr sie fort. »Aber erst sollen Sie etwas Gutes bekommen,« unterbrach sie sich und reichte ihm aus dem Korb einen kleinen Brotlaib. »Ich habe heute Brot gebacken, und es ist so herrlich ausgefallen, daß Sie auch davon essen müssen. – Das ist nun auch überwunden, Fritz, und jetzt lache ich über den angstvollen Moment, wo ich zum erstenmal mit grenzenlos ungeschickten Fingern den Teig knetete und schließlich ein paar steinharte, schwarze Klumpen aus dem Ofen brachte.«

»Ja, damals gab's Thränen, bei aller Standhaftigkeit,« sagte der junge Mann mit einem gutmütigen Lächeln. Er legte das Brot auf den äußeren Fenstersims, sah dabei aber gespannt nach dem Mädchen zurück. »Muß es wieder einmal sein? Zum Juden oder zum Goldschmied in L.?« fragte er ohne Umschweife, jedenfalls im Hinblick auf den verheißenen Auftrag.

»Ach, Sie wissen ja am besten, daß wir beim Goldschmied längst nicht mehr anklopfen können – zum Juden müssen Sie! Bis übermorgen müssen acht Thaler geschafft werden.«

Der Mann fuhr sich wie in heller Verzweiflung durch das krause Haar hinter dem Ohr.

»Ja, da sehen Sie nun, Fritz! Wir haben doch gewiß aufgepaßt, nahezu wie Gendarmen, und dabei hat es doch so ein Commis Voyageur möglich gemacht, ungesehen einzudringen und ein paar Kistchen feiner Zigarren in das Haus zu schwindeln. Sie sind bis zu einem kleinen Rest aufgeraucht, und nun kommen die Rechnungen und Mahnbriefe, und heute wurde die sofortige Klage bei Gericht in Aussicht gestellt.«

»Herr Gott im Himmel, ich hab' gewiß Geduld; aber mit der Zeit wurmt und ergrimmt es einen doch, und der Aerger würgt an der Kehle, wenn man sieht, daß es so gar kein Einsehen gibt, daß fortgewirtschaftet wird, als wär' der Geldsack noch voll wie in guten Zeiten.«

Ein trüber Ausdruck schlich um den Mund des Mädchens[50] »Können wir's ändern, Fritz?« ... Sie lächelte schwach. »Da stecken Sie in jeder freien Minute die Nase in Ihre naturwissenschaftlichen Bücher und wissen nicht einmal, daß das Wasser von Uranfang an absolut nicht zum Berg hinauf will – alte Gewohnheiten und Neigungen lassen auch nicht vom Alter –«

»Aber so ein gottsträflicher Leichtsinn bei solch einem alten Herrn –«

»Still!« unterbrach sie ihn heftig, mit einer herrischen Gebärde. »Uns beiden kommt es nicht zu, ihn zu richten; wir haben nur seiner Güte und Fürsorge zu gedenken! Hier« – sie rollte die Spitzenkante auseinander – »ist noch ein Wertstück, kostbare, alte Spitzen! Es ist mir versichert worden, daß sie unter Brüdern mindestens zwanzig Thaler wert seien – von Baruch Mendel dürfen wir freilich nicht mehr als die Hälfte des Preises erwarten.«

»Ob er sich überhaupt damit befaßt?« meinte der Mann achselzuckend, mit einem ungläubigen Blick nach dem unscheinbaren Gewebe. »Die zwei seidenen Kleider und den Shawl hat er wohl gekauft: aber solch windiges Zeug?! – Ich glaube, er lacht mich nur aus ... Lieber noch ein paar silberne Löffel mein' ich –«

»Die letzten?« rief das Mädchen ganz empört. »Wo denken Sie hin? Soll ich ihr einen Blechlöffel neben den Teller legen? Das geschieht nicht, solange ich Hand und Fuß rühren kann! ... Sie verstehen davon nichts, Fritz!« setzte sie ruhiger hinzu, indem sie die Kante zusammenfaltete und ihm hinreichte. »Gehen Sie nur getrost zum Juden, der versteht sich auf Spitzen wie auf Goldsachen ... Haben Sie morgen Zeit und vielleicht selbst Besorgungen in der Stadt?«

»Wenn auch nicht – den Weg mache ich trotzdem möglich; Sie wissen's ja –«

»Ja, ich weiß es, Sie sind ein guter, kreuzbraver Mensch.«

Dieses einfache, aber in innigem Ton gesprochene Lob schien ihn verlegen zu machen. Er griff linkisch nach seiner Mütze und zog und rückte an dem Schild. »Heute sind sie ja auch dabei, die Bahnlinie abzustecken,« sagte er ablenkend.

»Ja – und es gab deshalb viel Sturm und Unheil bei uns, wie Sie sich denken können. Es war überhaupt ein abscheulicher Tag heute –« Sie verstummte und klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne.[51]

»Ich glaub's ... Aber die reine Lächerlichkeit ist's doch, daß sich der alte Herr über die Geschichten immer so ereifert. Ihm kann's doch ganz egal sein – er erlebt's ja doch nicht auf dem Vorwerk, daß die Schienen über den Hof laufen, oder gar die Lokomotive an der Hausecke vorbeisaust. Der Neue auf dem Gute wird bald genug Kehraus machen und – na, er ist in seinem Rechte.«

»Jawohl – in seinem guten Recht!« bestätigte sie hart, mit Achselzucken. »Was gehen ihn die alten Beziehungen an?«

»Du lieber Gott, ja! Was fragt so ein junger herrischer Sausewind nach einer alten Freundschaft, die er in seinem ganzen Leben nicht mit angesehen hat? – Man kann's ihm nicht einmal verdenken! – Ich hab' ihn gestern im Vorbeigehen gesehen – ein hübscher Mann, stattlich und frisch! Er hat freilich 'was Brüskes, wie es ja die Herren vom Geldsack fast noch mehr im Wesen haben, als die von Adel – den Ton kenn' ich als alter Offiziersbursche gut genug. – Er stand mit dem Pachter Griebel an der Schneidemühle, die er umbauen lassen will – na, wackelig genug ist sie!«

Das Mädchen wandte sich ab, als höre sie kaum auf das, was er sagte, und nahm das weiße Tuch von der Bank, um es wieder über den Kopf zu werfen.

»Aber mir geht das Rebellieren im alten Hirschwinkel doch ans Herz,« setzte er hinzu. »Das Vorwerkshaus steht auch nicht fester als die Schneidemühle – der beste Vorwand, kurzen Prozeß zu machen.«

»Mag er!« sagte das Mädchen rauh, während sie die Tuchzipfel mit hastigen Händen unter dem Kinn zusammenknüpfte. »Mag er uns auf den Bettel schicken! Mag's sein – immerhin! Ich zermartere mir des Nachts nur immer den Kopf, wie wir die Kranke fortbringen wollen –« Die Stimme versagte ihr.

»Aber das ist doch das Wenigste,« meinte er mit seinem treuherzigen Lächeln, in dem bärtigen Gesicht. »Halten Sie mich denn für so 'nen Schneider, daß ich nicht einmal das abgezehrte, schwache Weibchen auf dem Arme forttragen könnte? – Stundenweit will ich sie tragen, die gute alte Dame, und sie soll weder Ruck noch Zuck verspüren in ihren schmerzhaften Gliedern. Und so weit ist's ja auch noch lange nicht bis zu dem Hause da. – Die schöne Eckstube auf der Südseite ist groß und hell – da kann ihr Bett stehen, und sie sieht von zwei Seiten ins Grüne,[52] das wird ihr gut thun. Und der alte Herr hat's hier am Fenster auch viel hübscher als auf dem Vorwerk; es fährt und geht doch dann und wann ein bißchen Menschentreiben vorbei – auf dem Vorwerk sieht er nur in den öden Hof, wo die paar übriggebliebenen Hühner krakeln und scharren.«

»Sie sind treu wie Gold, Fritz; aber –«

»Und das Giebelstübchen da oben –« fuhr er fort, ohne ihren Einwurf zu beachten, und zeigte mit dem Daumen nach dem Fenster, vor welchem die Vogelbauer hingen – »das ist das schönste im ganzen Hause; ich lasse einen kleinen Ofen hineinsetzen, und da kann eine junge Dame im Sommer und Winter malen und in ihrer freien Zeit hübsches Geld verdienen. Also mit dem Bettel ist's noch nichts, noch lange nicht ... Nur immer den Kopf oben behalten – das ist die Hauptsache!«

»Ja, das werde ich!« sagte sie fest und nicht ohne einen gewissen Trotz. »Es soll dem tückischen Schicksal schwer werden, mich niederzuwerfen. Noch weiß ich nicht, was Seelenmüdigkeit ist, und dazu fühle ich die Kraft der Jugend in meinen Händen ... Und ansehen soll mir's gewiß keiner, wenn das bißchen Selbstgefühl einmal nicht so parieren will, wie es soll und muß! – Im übrigen sind Sie ja da, Fritz, meine treue Stütze!«

Sie griff nach dem Handkorb. »Nun muß ich heim – da wartet noch ein tüchtiges Stück Arbeit auf mich. Und nebenbei muß ich noch plätten – die arme Kranke soll und muß morgen frischgewaschene Bettgardinen haben; aber ich bin mit meinem Tannenzapfenvorrat zu Ende« – ein Lächeln huschte wie Sonnenlicht über ihr Gesicht – »und da habe ich den unverschämt großen Korb da mitgebracht.«

Er lachte, nahm den Korb und zugleich das Brot vom Sims und beeilte sich, das Haus aufzuschließen. Gleich darauf kam er beladen zurück. Durch den Wald wenigstens werde er ihr die Last tragen, sagte er abwehrend, als sie danach griff; und nun schritten sie einträchtig nebeneinander, zwei prächtige Gestalten, die zusammenpaßten. Und der Hund trabte auf der anderen Seite neben dem Mädchen, als sei sie das Eigentum seines Herrn, das sie beide eifersüchtig und schützend in ihre Mitte nehmen müßten.

Herr Markus sprang aus dem Gebüsch und sah ihnen nach, starr und unverwandt, bis sie mit der Biegung des Weges verschwanden. Dann fuhr sein Blick verdüstert über das Haus ... Wie lange dauerte es noch, da hingen hübsche Gardinen an den[53] kahlen Fenstern und ein schönes, junges Weib sah heraus – eine lächerliche Zusammenstellung, die der feinen Welt abgelauschten Manieren und das Teigkneten, das Waschen und Scheuern der zukünftigen Frau Forstwärterin! –[54]

Aber es war trotz alledem so! Diese beiden Menschen arbeiteten und sorgten mit vereinten Kräften für ihre verarmte Herrschaft, und aus der treuen Kameradschaft wurde schließlich der Ehebund – selbstverständlich! ... Was wollte auch die Dienende, von weither Gewanderte im ärmlichen Arbeitskittel mehr? Sie trat in die gesicherte Stellung der Frau, bekam ein schönes Heim im Walde und einen stattlichen Mann, der noch dazu nach Bildung und Belehrung strebte und »die Nase in naturwissenschaftliche Bücher steckte«.

Dieses unbegreifliche Mädchen mit seiner beispiellosen Hingebung hatte dann die geliebten Hilfslosen im eigenen Hause. Sie bediente nach wie vor Fräulein Gouvernante und behütete ihr die letzten silbernen Löffel, auf daß kein gemeiner Blechlöffel ihre verwöhnten Lippen berühre. Und droben im schönen Giebelstübchen sollten die Feldblumensträuße gemalt werden, hatte der Forstwärter gesagt ... Zum Teufel, nein, Herr Grünrock, so weit war es noch lange nicht! »Der Herr vom Geldsack mit seinem brüsken Offizierston« ließ sich nicht beschämen, auch nicht vom wohlbestallten Forstwärter Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht, und machte ihm noch viel weniger die Freude, den zahlungsunfähigen Pachter schleunigst aus dem Hause zu werfen, auf daß die Hochzeit mit Amtmanns Magd – mit diesem merkwürdigen Mädchen, bei welchem man oft unwillkürlich denken mußte, nicht die Manieren seien geborgt, sondern der Arbeitskittel – um so rascher in Szene gesetzt werden konnte. Darin irrte sich der Herr Forstwärter denn doch gewaltig! ...

Mit einem elastischen Sprung in das Dickicht kehrte Herr Markus dem stillen Hause den Rücken und ging den Weg zurück, den er gekommen.

Inzwischen war das goldgrüne Waldabendlicht nahezu erloschen, und mit ihm der sänftigende Zauber der durchleuchteten Einsamkeit. Der unter dem Gebüsch hinkriechende tiefe Schatten verdunkelte auch die Menschenseele – Herr Markus konnte seiner heutigen tiefen Verstimmung noch weit weniger Herr werden, als vorher, und wehe der naseweisen Haselgerte oder den herabhängenden Baumzweigen, die es wagten, sein finsteres Gesicht zu streifen – sie wurden zornig abgeknickt und weithin geschleudert.[55]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 42-56.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amtmanns Magd
Amtmanns Magd; Roman

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon