[56] Da machte er es nun wie tausend andere Egoisten auch. Nach den Anforderungen der Religion und vielleicht auch einer Art von allgemeiner schläfriger Menschenliebe sind sie geneigt, Almosen von dem Ihren zu geben – aber nur ja keine Berührung mit den Leuten selbst, denen geholfen werden soll! Sie machen einen weiten Bogen um die unangenehmen Verhältnisse, auf daß keiner der fremden Schicksalsfäden an ihren Kleidern hängen bleibe, und schieben die unbequeme Aufgabe sacht und beharrlich aus dem Wege, um – plötzlich mitten in die Situation hineinzuspringen, wenn ihre Eigenliebe ins Spiel gezogen wird. Oder war es nicht die aufgestachelte Eigenliebe, die ihn trieb, dem widerwärtigen Forstmann mit seinen humanen Absichten um jeden Preis zuvorzukommen? – Wäre er nicht am liebsten jetzt gleich, stehenden Fußes, nach dem bisher gemiedenen Vorwerk gegangen, um sich »dem alten Verschwender, dem Prahlhans, dem notorischen Spieler und Schlemmer« und den Seinen vorzustellen, und sie alle zu bitten, doch ja um Gotteswillen nichts Schlimmes von ihm zu denken? Nichts, als die liebe Eitelkeit und das Zorngefühl gegen den Grünrock, der so treu wie Gold sein sollte – hatte das Mädchen nicht so gesagt? – und sich doch nur auf den Opferungsvollen spielte, um dabei zu fischen, was er sich wünschte ...
In ärgerlicher Hast wühlte er sich weit rascher als vorher durch das Unterholz und schritt bald auf einem der gebahnten, schmalen Wege, welche auf die nach dem Gute laufende Fahrstraße mündeten; und als er heraustrat, da sah er Frau Griebel von der Schneidemühle herkommen.
Sie trug auch ein Fischnetz am Arm. An dieser Stelle sah es nun freilich nicht so poetisch aus, wie es neulich der schlanken Prüden angestanden; auch zerrte sichtlich eine weit größere Last[56] an den Maschen, als das schmale, für die Kranke bestimmte Fischlein gethan.
»Ja, da kommen Sie mir nun ein wenig in die Quere, Herr Markus!« rief sie ihm in unverhehltem Verdruß entgegen. »Konnten Sie sich denn nicht noch ein bißchen im Walde aufhalten, bis ich glücklich zu Hause war und meine Forellen ausgeweidet hatte? – Nun müssen Sie warten und sich am gedeckten Tisch langweilen – ich kann Ihnen nicht helfen! – Na ja, gucken Sie nur her, gesehen haben Sie's ja doch nun einmal – es gibt richtig Forellchen heute abend, die schönsten, die der Sägemüller in seinem Fischkasten hatte. Luischen hatte frische Butter geschlagen, und vor einer halben Stunde kamen sie an – neue Kartoffeln nämlich. Ein guter Freund von uns, der Schloßgärtner in Heinrichsthal, wo mein Mann bis vor drei Jahren Verwalter war, hat mir aus alter Liebe und Freundschaft ein Gerichtchen für Sie abgelassen ... Herr Markus, neue Kartöffelchen um die Zeit!« – Sie unterbrach sich plötzlich und blieb stehen.
»I was – da haben wir ja wieder einmal noblen Besuch an der Landstraße,« sagte sie grimmig und zeigte mit dem ausgestreckten Arm nach einer Gestalt, die, mit dem Rücken an den Stamm einer Buche gelehnt, quer über die Fahrgeleise hingestreckt lag. »'s ist doch eine greuliche Zeit jetzt! Die betrunkenen Handwerksburschen liegen wie die Fliegen am Wege, und man muß sich nur immer in acht nehmen, daß man keinen tottritt. Das war früher nicht so! Und wenn Sie zehnmal selber ein Fabrikant[57] sind, Herr Markus, ich sag's doch – das Fabrikgetreibe macht's und das ewige Kriegsgetute in die Welt 'nein! Es müssen deshalb zu viele spazieren gehen, wenn sie auch nicht wollen, und da haben sie die scheußliche Lasterhaftigkeit an sich, sie wissen nicht wie! Und da wird nachher gegen die Verderbtheit gedonnert und zur Umkehr kommandiert – ach ja, mit sattem Magen spricht sich das gar leicht!«
Sie waren inzwischen dem am Boden Liegenden näher gekommen, und Herr Markus bog sich nieder und sah in das blasse Gesicht des Menschen, der mühsam die Lider von den erloschenen Augen hob, um einen scheuen, verstörten Blick auf die Sprechenden zu werfen.
»Aber der Mann ist ja gar nicht betrunken!« sagte Herr Markus und fühlte rasch der schlaff hingesunkenen Hand an den Puls.
»Meiner Treu, das seh' ich jetzt auch! ... Du lieber Gott, ich spreche von neuen Kartoffeln, und da verhungert einer! Ja, ja, wie ich immer sage, die Gottesgaben sind wunderlich verteilt in der Welt.«
Sie fuhr mit der Hand in die Tasche, brachte eine Semmel zum Vorschein und hielt sie dem Manne an den Mund. »Heda, guter Freund, beißen Sie einmal herzhaft da hinein – das wird Ihnen so gut thun, wie wenn man frisches Oel auf eine Lampe schüttet.«
Eine schwache Röte schoß abermals in die Wangen des Erschöpften, wie schon vorhin bei dem Wort »verhungert«, und seine Hand hob sich matt abwehrend.
»I, sperren Sie sich doch nicht wie eine Jungfer!« schalt Frau Griebel ärgerlich. »Ihnen sieht man den Hunger auf tausend Schritt an, und da wollen Sie einem wohl auch noch weismachen, Sie hätten womöglich Lampreten zu Mittag gespeist! ... Essen Sie nur von der Semmel da; das hilft Ihnen einstweilen so weit auf die Beine, daß wir Sie nach Hause bringen können, und da hab' ich noch vom Mittag eine schöne, kräftige Fleischsuppe stehen, und ein gutes Bett sollen Sie auch haben.«
»Versuchen Sie zu essen!« sagte Herr Markus mit freundlicher Bitte, und daraufhin nahm der Mann das Gebäck, und nun, mit dem ersten Bissen, war er nicht mehr Herr seiner selbst; er aß mit unbeschreiblicher Gier und schien alles um sich her zu vergessen.[58]
Er war ein hübscher junger Mann mit einem voll und lang auf die Brust herabfallenden, rötlich blonden Bart. Seine Kleidung war abgetragen; aber man sah, daß er auf Sauberkeit halten mußte – für den neuen, schneeweißen Papierkragen am Halse hatte er vielleicht seine letzten Pfennige hingegeben.
»Ja, ja, wenn das manchmal so eine arme Frau zu Hause wüßte!« sagte Frau Griebel mit einem bezeichnenden Kopfneigen nach dem Essenden. »So einer Mutter ist manchmal kein Bett weich genug und kein Essen zu kräftig für ihren Jungen und nachher –«
Sie verstummte unwillkürlich; denn so hastig seine Schwäche es zuließ, griff der junge Mann nach seinem Hut, der ihm beim Niedersinken entfallen sein mußte, und drückte die breite Krempe tief in die Stirn, als wolle er sein Gesicht den Dastehenden entziehen.
»Na, junger Mann, das brauchen Sie nicht gleich krumm zu nehmen!« meinte Frau Griebel in ihrer unzerstörbar gleichmütigen Sprechweise. »Es hat schon mancher draußen bei anderen Leuten gefochten, oder mit hungrigem Magen im Chausseegraben kampiert, und ist nachher doch zu Hause ein gemachter Mann geworden. Das bleibt nicht an Ihnen kleben, wenn Sie sonst ein ordentlicher Mensch sind! ... So, nun wollen wir einmal sehen, ob wir Sie auf die Beine bringen können!«
»Ich habe sechs Wochen lang im Spital krank gelegen,« murmelte er fast unverständlich, »und komme –«
»Ja, das sieht man Ihnen an, daß Sie krank gewesen sind,« unterbrach ihn die Frau, »und woher Sie kommen, und was Sie weiter vorhaben, das brauchen wir gar nicht zu wissen. Sie bleiben die Nacht auf dem Gute – ein bißchen Schlaf ist Ihnen so nötig wie das liebe Brot, und morgen wollen wir weiter sehen ... Also, Kourage, probieren wir's einmal!«
Sie faßte ihn kräftig unter den Arm, und auf der anderen Seite half Herr Markus, und es gelang – der junge Mann kam auf die Füße; aber er war doch noch zu schwach, um ohne Stütze gehen zu können. Völlig willenlos ließ er sich fortbringen; daß er sich aber seines erbarmungswürdigen Zustandes vollkommen bewußt war, das sah man an der stillen Verzweiflung, die sich in seinen Zügen malte.
Auf dem weiten Wiesenplan vor dem Gutshause war das Gras gemäht worden. Ganze Wolken süßen Heuduftes wirbelten[59] in den Lüften, während zwei Mägde vom Gute die dörrenden Halmlasten mit dem Rechen auf kleine Haufen zusammenschoben.
Die Mädchen hielten mit offenem Munde inne, als die seltsame Gruppe daherkam, und Luise, das Pachterstöchterchen, das im Rosakleide und weißen Latzschürzchen unter der Hofthür stand und nach Mama und den Forellen ausschaute, flog erschrocken und so behende den Kommenden entgegen, daß die lang herabhängenden, flachsblonden Zöpfe auf ihrem Rücken tanzten.
»Mama, ist er verunglückt?« fragte sie mit stockendem Atem, und ihre hübschen blauen Augen tauchten in entsetzensvollem Mitleiden unter die breite Hutkrempe.
Das bärtige Gesicht des jungen Mannes errötete in Scham unter diesem Blick, und mit übermenschlicher Anstrengung versuchte er, sich strammer aufzurichten und allein weiterzugehen – ein vergebliches Bemühen!
Frau Griebel rief einer der gaffenden Mägde zu, ihren Platz an der Seite des hilflosen Fremden einzunehmen, damit sie selbst das Nötige im Hause zu seiner Aufnahme vorbereiten könne. Das Mädchen kam wohl auf einige Schritt herbei, aber sie murrte und entgegnete tückisch, es sei ihr noch von keiner Herrschaft zugemutet worden, die Bettelleute von der Straße aufzulesen und einen betrunkenen Handwerksburschen wie einen Prinzen nach Hause zu führen – sie habe frischgewaschene Kleider an und wolle sich nicht beschmutzen.
Ein Aufstöhnen rang sich aus der Brust des Fremden.
Auf diese Laute hin streckte Luise sofort ihre runden, weißen Arme aus, um den Samariterdienst zu übernehmen.
»Geh nur weg, du Flederwisch!« wehrte Frau Griebel halb lachend, und doch mit einem zärtlich entzückten Blick auf die leichte, zierliche Gestalt ihrer Einzigen, die Hilfe ab. »Du wärst mir auch die Rechte mit deinen Puppenärmchen – 's ist gerade, wie wenn ein Rotschwänzchen dahergehüpft käme! – Flink, lauf ins Haus, rücke schnell den Suppentopf von heute mittag aufs Feuer und stecke das große Bett in der Soldatenkammer in frische Ueberzüge! ... Und mit dir werde ich heute noch ein Wörtchen reden!« rief sie der störrischen Magd zu, die schon wieder nach ihrem Rechen griff. »Heute über vier Wochen hast du im Hirschwinkel nichts mehr zu suchen – daß du's weißt!«
Nach einer halben Stunde lag der Erschöpfte in einem guten Bett. Durch das große, helle Fenster der sogenannten Soldaten[60] Logierkammer im Erdgeschoß guckte der grüne Birnbaum im Hofe herein; der Abendwind kam durch die Waldwipfel mit leisem Fächeln daher und hauchte das saubere Stübchen voll Kühle und Laubduft; die kollernden Truthühner waren zur Ruhe gebracht, und nur auf der Mauer, welche die beiden Höfe trennte, saß ein weißes Kätzchen und putzte sich.
Zum erstenmal hatte Herr Markus selbst die Schlüssel aus dem Wandschränkchen im Erkerzimmer genommen und war in den Weinkeller der seligen Frau Oberforstmeisterin hinabgestiegen, um eine Flasche von dem köstlichen alten, nur für die Armen und Bedürftigen angeschafften Krankenwein aus ihrer dunklen Ecke zu holen.
Der Kranke hatte gegessen und auch von dem Madeira getrunken; aber über seine Lippen war kein Wort gekommen, und je mehr ihm Nahrung und Stärkung die schon halb entflohenen Lebensgeister in das frischer kreisende Blut zurückriefen, desto verzweiflungsvoller sah er aus. Sein Blick hing sehnsüchtig am offenen Fenster, und der Gutsherr dachte im stillen, die erste selbständige Kraftäußerung dieses armen Menschen werde ein Sprung aus dem niederen Fenster sein, um auf Niewiedersehen zu verschwinden und die Erinnerung an ihn und sein Elend in den barmherzigen Seelen so schnell wie möglich zu verwischen.[61]
Aber ein wenig später machte die erschöpfte Natur ihr Recht gebieterisch geltend – er fiel in einen tiefen Schlaf, und Herr Markus verließ das Stübchen, um den Gartenpavillon aufzusuchen, in welchem Frau Griebel das Abendbrot für ihn serviert hatte. Er aß wenig und dachte grollend an das frischgebackene Schwarzbrot, das der Forstwächter heute auf seinem Tische hatte ... Wie diese Leute doch treu und zärtlich für einander sorgten, bei aller Armut! – Frau Griebel war eine brave Frau, eine wackere Seele, und sie hatte das Herz auf dem rechten Flecke; aber die »Forellchen« und »Kartöffelchen« kosteten ihn doch sein gutes Geld – der alte Sägemüller hatte die Fische ganz gewiß nicht aus purer Liebe für ihn gegeben, und der Herr Schloßgärtner ebensowenig seine Frühkartoffeln. –
Und um das Maß des Verdrusses voll zu machen, hantierten die zwei Mägde mit ihren Heurechen gerade jetzt draußen an der Gartenecke, nahezu unter dem Häuschen auf der Mauer und schnatterten unaufhörlich.
»Was du nur willst – ich schere mich viel drum, ob mir die Alte gekündigt hat, oder nicht!« sagte die grobe Magd, welcher vorhin der Dienst aufgekündigt ward. »Wer seine Arbeit so kann, wie ich, der kriegt alle Tage eine andere Herrschaft –«
»Aber um die Zeit nicht,« fiel die andere ein. »In ganz Tillroda ist jetzt keine Stelle offen. Nachher kann dir's auch passieren, daß du bei Leuten unterkriechen mußt, wie die auf dem Vorwerk – keinen Heller Lohn und die wahre Knechtsarbeit auf dem Felde.«
»Ach was – die jetzige hat's doch so schlimm nicht! Der hilft der Forstwächter, wo er kann – die kann lachen! Und mit dem Lohn mag's auch nicht so windig aussehen, wie die Leute sagen. Sie hat doch immer hübsche, knappe Lederstiefelchen an – so viel hab' ich gesehen, wenn sie auch den Menschen immer auf zehn Schritt aus dem Wege geht und thut, als hätte unsereins Gift an sich.«
»Ja, eine Eingebildete ist sie!« bestätigte die andere. »Ich will nur sehen, wie die's treibt, wenn sie erst einmal drüben im Grafenholz zu Hause ist! – Die hat Glück! So eine Hergelaufene setzt sich in das schöne, warme Nest!«
»Na, meinetwegen, was geht denn mich die ganze Sippschaft an, wenn ich aus dem Hirschwinkel fort bin!« murrte die Gestrafte ergrimmt und schleuderte einen Rechen voll Halme auf[62] den nächsten Heuhaufen. »Mich ärgert nur das dumme Gethue von der Alten! Bringt da den ersten besten Strolch, der am Wege liegt, angeschleppt, legt ihn wie ein Wickelkind ins Bett, und den besten Wein, der im Keller aufzutreiben ist, gießen sie ihm in die Biergurgel – das läßt sich der freilich gefallen! – Eine verrückte Gesellschaft auf dem Gute da! Unsereins wird angeschnurrt wie ein Hund, wenn einmal eine Thür offen bleibt – von wegen der Stehlerei – und da holen sie sich die Spitzbuben selber ins Haus! Ich lachte mich tot, wenn der morgen in seiner Tasche irgend 'was mitgehen hieße – das gönnte ich der Alten! Nicht zehn Thaler nähm' ich für den Spaß!«
Der Gutsherr schlug klirrend das Pavillonfenster zu, und die Lästermäuler duckten sich wie erschreckte Wachteln hinter die nächsten Heuhaufen und scharrten da so emsig die letzten Halme zusammen, als könnten sie vor lauter Arbeit kein Wort über die Lippen bringen.
Es war ein stiller, engumgrenzter Waldwinkel, der kleine Erdenfleck da, und auch da litten sie nicht, daß der süße Frieden einmal ausruhend seine Flügel zusammenschlage – Neid und Bosheit nämlich, und so ziemlich alle dämonischen Regungen der Menschenseele, welche auf dem großen Welttheater agieren.[63]
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Amtmanns Magd
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