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[77] Der Amtmann war eben im Begriff die Hand auf das Thürschloß der Stube zu legen, als er die Schritte hinter sich hören mochte. Er richtete sich schwerfällig aus seiner vorgebeugten Stellung auf und bemühte sich, den Kopf auf dem steifgewordenen Nacken zurückzuwenden. »Holla, was wär' mir denn das! Kommt mir der Kerl wohl bis in meine vier Pfähle nach?« brummte er erbost und nicht ohne Schrecken.

In demselben Augenblick stand der Gutsherr mit einem halb unterdrückten Lachen an seiner Seite und nannte, sich vorstellend, seinen Namen.

Der alte Herr reckte und streckte sich sofort in seiner ganzen Gestalt, als sei ihm ein belebender galvanischer Strom durch die gebrechlichen Glieder gezuckt – und so erschien er wirklich imponierend, und das Kavaliermäßige in der Art seiner Begrüßung wurde kaum beeinträchtigt durch den vielfach geflickten Schlafrock, der seinen hageren Körper umschlotterte.

Die Tabakspfeife polterte in die nächste Ecke, und während er mit der Rechten hastig durch die Luft fuhr, um die nichts weniger als aristokratisch duftenden Rauchwolken vor dem Gesicht des Besuchers zu zerstreuen, sagte er mit vornehmer Lässigkeit: »Muß die leichteste Sorte rauchen, die zu haben ist – die Herren Aerzte sind Tyrannen und fragen viel danach, ob man sich an solch ordinäres Kraut gewöhnen kann oder nicht!«

Darauf schlug er so feierlich einladend die Stubenthür zurück, als gelte es, ein Prunkgemach oder einen geweihten Raum zu betreten. Das letztere war die mäßig große Stube auch insofern, als an einer tiefen Wand das Lager stand, auf welchem eine unglückliche Frau seit länger als Jahresfrist dulden und leiden mußte.

Da waren ja die Gardinen, welche die Magd mit Hilfe der Tannenzapfen aus dem Forstwärterhaus gestern abend noch[77] geplättet hatte! Sie hingen blütenweiß und schöngefaltet um das Bett, das mit seinen glänzend frischen Leinenbezügen über den schwellenden Kissen und Polstern ganz gut im Schlafzimmer der verwöhntesten vornehmen Dame hätte stehen können.

Es stand auch ein rundes Tischchen neben dem Bett; hübsch gebundene Bücher mit Goldschnitt lagen auf der Mahagoniplatte, und ein großer, malerisch geordneter Wald- und Wiesenblumenstrauß hob sich aus einem Kristallkelche ... Nun, so ganz in Elend und Mangel versunken, wie Herr Markus gemeint, war diese Kranke doch nicht! Die biblischen Schwestern walteten an ihrem Lager. Die Starke, Willenskräftige, die er mit dem Fischnetz am Arme zuerst gesehen, sorgte für Speise und Trank und körperliches Behagen, und die andere umgab sie mit den hübschen Tändeleien ihrer feinen, gepflegten Hände; sie ließ sich vermutlich auch herab, schön frisiert, parfümiert und in guter Toilette am Bett zu sitzen, und ihr aus den Miniaturbändchen ausgewählte Dichtungen vorzulesen und so einen schwachen Nachglanz des ehemaligen vornehmen Lebens in die niedere Stube zu hauchen ...

»Herr Markus, unser neuer Nachbar, liebes Herz!« sagte der Amtmann vorstellend, wobei er seine starke Baßstimme mit einem zärtlich weichen Klange moderierte – der Mann ignorierte lächerlicherweise absichtlich die Bezeichnung »Gutsherr«.

Es war ein kleiner Frauenkopf mit einem durchsichtig abgezehrten alten Gesichtchen und schneeweißem Scheitel unter dem Nachthäubchen, der bei diesen Worten wie entsetzt aus den Kissen auffuhr. »Ach, mein Herr!« hauchte die alte Dame in schwachem, klagendem Ton und streckte ihm ihre schmale Hand hin, die, wie es schien, von einem nervösen Schauder geschüttelt wurde. Auch in dieser Frauenseele stürmte bei seinem Erscheinen sichtlich das Angstgefühl auf, daß nunmehr die längst gefürchtete Entscheidung gekommen sei.

Der Gutsherr trat an das Bett und zog die gebotene Hand ehrerbietig an seine Lippen. »Nehmen Sie den neuen Nachbar gütig auf, gnädige Frau,« sagte er, »er wird Ihnen ein treuer Nachbar sein!«

Die Kranke schlug die großen, immer noch schönen Augen so tief erstaunt zu ihm auf, als meinte sie, nicht recht gehört zu haben. Aber das hübsche, ehrliche Männergesicht, um dessen frischen Mund ein gütevolles Lächeln flog, sah nicht nach Heuchelei oder banalen Redensarten aus, die man gedankenlos hinwirft,[78] am sie im nächsten Augenblick zu vergessen. In dieser beglückenden Ueberzeugung umfaßte sie tief aufatmend auch mit der andern Hand die Rechte des jungen Mannes und drückte sie. »Wie lieb von Ihnen, daß Sie die armen Leute –« sie stockte und sah scheu und hastig nach ihrem Mann, der sich stark räusperte und in ein Hüsteln verfiel – »daß Sie Amtmanns auf dem Vorwerk mit Ihrem Besuch erfreuen!« setzte sie rasch verbessernd hinzu.

»Ja, denke dir nur, Sannchen, was mir dabei passiert ist!« lachte der Amtmann. »In der Meinung, der Landstreicher draußen vorm Thor komme mir frecherweise bis ins Haus nach, habe ich per Kerl und dergleichen räsoniert, und derweil steht Herr Markus hinter mir!«

Er ließ sich in einen alten, aufächzenden Lehnstuhl nieder und saß so dem Besuch gegenüber, der auf eine einladende Handbewegung der Kranken hin neben dem Bett Platz genommen hatte. Auf Gelsungen, der fürstlichen Domäne, die ich viele Jahre hindurch in Pacht gehabt habe, ist mir die Furcht, durch fremdes Gesindel bestohlen zu werden, nie in den Sinn gekommen,« fuhr er fort und rieb sich unter einer schmerzhaften Grimasse das eine[79] Knie. »Dort hatten wir unsere Appartements in der Bel-Etage, und das Herrenhaus wimmelte von unserer zahlreichen Dienerschaft. Hier in der Einsamkeit ist das freilich anders; man hat wenig Menschen um sich, und mit den niedriggelegenen Fenstern ist nicht zu spaßen. Drüben im Eßzimmer könnten uns die Silberlöffel dutzendweise gestohlen werden, ohne daß man es ahnt – so etwas merkt man oft erst beim späteren Nachzählen oder einer gelegentlichen Inventur.«

Herr Markus biß sich fast verlegen auf die Lippe, indem er an den letzten Silberlöffel dachte, den die Magd gestern so energisch gegen die Verkaufsgelüste ihres »getreuen« Kameraden verteidigt hatte, und die Frau im Bette sah still auf ihre Hände nieder, die gefaltet auf der Decke lagen, während es fein rot in das blasse Gesicht aufstieg.

»Ich glaube, von dem jungen Mann, der sich draußen am Hofthor aufhielt, haben Sie derartiges nicht zu befürchten,« sagte der Gutsherr. Er erzählte darauf seine Begegnung mit dem Fremden auf der Fahrstraße, und wie derselbe für die Nacht auf dem Gute untergebracht worden sei – dabei verschwieg er nicht die Flucht des Unglücklichen, die Stolz und Ehrgefühl veranlaßt haben mochten. »Er schien mir heute noch hinfälliger als gestern,« fügte er hinzu; »ich sah, wie Ihre Magd, die ihm ein Stück Brot bringen wollte, dem Taumelnden zu Hilfe kam –«

»Unsere Magd?« fragte die alte Dame und hob den Kopf aus den Kissen.

»Ja, die Magd ist's gewesen, Sannchen!« bestätigte der Amtmann in fast überlautem Ton, der ihr jedes fernere Wort abschnitt. »Ich gab ihr auch ein paar Geldstücke für den Menschen ... I nu, das thut mir aber leid!« sagte er mit wirklichem Bedauern und fuhr sich in sein dünnes, graues Haar unter dem Samtkäppchen. »Ich möchte dem armen Kerl auch unter die Arme greifen, und vom Vorwerk soll er ganz gewiß nicht weggejagt werden, wenn er Nahrung und Ruhe für ein paar Tage braucht – das Fortjagen Hilfsbedürftiger ist beim Amtmann Franz nie Mode gewesen – ich werde den armen Teufel hereinholen!«

Er wollte sich erheben; aber Herr Markus kam ihm zuvor. »Lassen Sie mich hinausgehen, Herr Amtmann!« sagte er.

»Aber, Liebster, ich weiß nicht, was wir heute zu Mittag haben!« rief die weiche, bebende Frauenstimme ängstlich vom[80] Bett her. »Und denke doch, bester Mann, wir müßten ihm ja ein Bett geben, ein gutes, bequemes Bett –«

»Nun ja doch – ich weiß nicht, was du willst, Sannchen!« fiel er ihr unmutig ins Wort. »Haben wir das etwa nicht? – Kein gutes Bett bei Amtmanns, wo alle Welt immer entzückt war, in unseren schönen Daunen zu schlafen! ... Kümmere dich doch nicht um die Wirtschaft, Herzchen! Du machst dir immer falsche Vorstellungen von unserem Haushalt, seit du selbst nicht mehr nachsehen kannst, mein emsiges, braves Hausmütterchen! Aber es geht alles seinen guten Weg, du kannst ganz ruhig sein. Und wenn wir auch an äußerem Glanz einbüßen mußten, die innere Gediegenheit eines guten Hauses ist uns doch geblieben. Freilich,« – er kraute sich aufs neue hinter dem Ohr und schob die Hausmütze nach der anderen Seite – »mit dem Wein wird's hapern. Da kann ich im Augenblick mit den barmherzigen Leuten auf dem Gute nicht konkurrieren. Das verflixte Zipperlein hat mich wieder einmal grimmig gepackt, und mit den lahmen Beinen ist es eine absolute Unmöglichkeit für mich, in den Keller hinabzusteigen – eine andere Hand aber lasse ich prinzipiell nicht über meine Weine.«

»So erlauben Sie mir, Ihnen einstweilen aus dem Keller Ihrer heimgegangenen alten Freundin einen Korb Wein zur Verfügung zu stellen,« sagte Herr Markus, mit dem Thürschloß in der Hand, an der Schwelle stehen bleibend. »Die gnädige Frau ist ja auch, infolge dieser Gründe, für längere Zeit der nötigen Stärkung beraubt und wird gewiß die kleine Erquickung als Gabe letzter Hand von ihrer Jugendgefährtin nicht zurückweisen.«

Er ging hinaus und durchmaß eiligen Schrittes den Hof. Solange er drin am Bett gesessen, war er zu seinem Verdruß eine »dumme« Vorstellung nicht los geworden. Die Prüde hatte vorhin im Garten ihre langen Leinenärmel über die entblößten Arme herabgerissen, als sei der darauffallende Männerblick eine Befleckung – und gleich darauf war sie ohne Zögern bereit gewesen, diese Arme um die Gestalt eines jungen Bettlers zu legen – dieses Aergernis stand ihm fortgesetzt vor den Augen und verdroß ihn dermaßen, daß er mit beiden Händen die Gelegenheit ergriff, hinauszugehen und die Hilfeleistung eigenhändig und allein zu übernehmen.

Aber draußen vor dem Thor war weit und breit kein[81] lebendes Wesen zu entdecken. Der Fremde mußte mit seinen zwei Pfennig Zehrgeld in der Hand schließlich doch weiter gewankt sein, und das Mädchen war jedenfalls ihren häuslichen Geschäften wieder nachgegangen; und bei dieser Wahrnehmung atmete er unwillkürlich und tief erleichtert auf – lächerlich! Was ging es denn ihn an, und was hatte er dreinzureden, wenn junges Blut, ein Bursch und ein Mädchen aus dem Volke, in der Fremde in Hilfsbereitschaft zu einander traten?

Bei seiner Rückkehr in das Haus überflog sein Blick scharf musternd die Fassade des Wohngebäudes. Fräulein Gouvernante hatte sich jedenfalls vor ihm zurückgezogen, was er ihr keineswegs verdachte, da sie ja erfahren hatte, er beabsichtige, ihr aus dem Wege zu gehen, wo er könne. Er fühlte auch durchaus kein Verlangen nach ihrem Anblick; aber eigentlich hatte er doch die Verpflichtung, auf jeden Fall sich zu überwinden, um im persönlichen Verkehr zu erfahren, wes Geistes Kind sie sei. Die Idee, ihr zu schreiben, hatte er vorhin nur im Zorn und Widerspruch an den Tag gelegt – ernstlich konnte und durfte er das nicht wollen ...

Vielleicht entdeckte er vorläufig an einem der Fenster ihr Profil oder die Umrisse ihrer Gestalt – er mußte lächeln angesichts dieser Fenster. Nur drei derselben waren einigermaßen würdig, ein hochmütiges Damengesicht zu umrahmen; es waren die Fenster der Wohnstube mit ihren hübschen weißen Gardinen, die zur Linken der Hausthür lagen; zur rechten Hand wurde das eine von einem schief in den Angeln hängenden Laden verdeckt, und durch die beiden anderen sah man in einen fast leeren Raum, der nur einen großen Ofen, einen Tisch und einige Stühle von Tannenholz enthielt. Das mochte die Gesindestube sein – das Asyl der Magd, wenn sie einmal Zeit fand, von ihrer Arbeit auszuruhen – oder doch nicht etwa das berühmte Eßzimmer mit seiner ungezählten Schar silberner Löffel?!

Ein weißer, bewegter Gegenstand lenkte plötzlich seinen Blick auf das niedere Dach. Aus dem Mansardenfenster über der Hausthür wehte ein loser Mullvorhang und blähte sich in der Luft, auf dem Sims blühten schöne Rosen, und an der sichtbaren helltapezierten Innenwand der tiefen Fensternische hingen Bilder ... Also da residierte Fräulein Gouvernante! – Nun, für heute mochte sie in ihrer Klause bleiben – er war augenblicklich ganz und gar nicht in der Stimmung Phrasen zu drechseln, wie sie[82] der Umgangston jener Kreise verlangte, in denen Dame Blaustrumpf gelebt und gewirkt hatte!

Er trat wieder in die Hausflur auf den knirschenden weißen Sand, der feingesiebt den Estrichboden bestäubte. Die Thür der Küche stand offen; man konnte den backsteingepflasterten Raum übersehen, dessen Fenster nach dem Fichtengehölz hinausgingen. Frau Griebels blitzblanke Küche konnte sich kaum mit dieser messen, in welcher die letzten aus der großen Gelsunger Kücheneinrichtung herübergeretteten Reste von Zinn- und Kupfergeschirr tadellos funkelten und alles Holzgerät schneeweiß an den Wänden stand. Die Frau Amtmann mochte wohl recht gehabt haben von wegen des unzulänglichen Mittagessens; ein homöopathisch kleiner Suppentopf dampfte auf dem Herde, und zwei hergerichtete schmächtige Tauben warteten auf den Moment, wo sie eine Hand in die Pfanne legen sollte; aber diese Hand war nicht da – es war so still in der Küche, daß man das Summen einer versprengten Hummel, ihre schwachen Stöße gegen die Fensterscheiben hören konnte ... Nun ja, es war selbstverständlich, daß die vielgetreue Zofe, die ja »ein Herz und eine Seele« mit ihrer Dame war, dem mißliebigen Besuch ebenso aus dem Wege ging, wie die gereizte Bewohnerin der Mansarde.[83]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 77-84.
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Amtmanns Magd
Amtmanns Magd; Roman

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