7

[64] Am anderen Morgen wurde es sehr früh laut vor dem Gutshause. Herr Markus sah durchs Fenster die kleine hübsche Luise über die gemähte Wiese hinirren. Sie war im hellen Morgenröckchen, und ihr dickes blondes Haar steckte in einem weißen Netz mit blauen Bandschleifen.

Das junge Mädchen suchte offenbar nach einem verlorenen Gegenstand; sie schob die dünne Halmlage auseinander. Und die beiden Mägde, die jedenfalls im Begriff waren, auf den Acker zu gehen, denn sie hatten die Kartoffelhacke in den Händen, standen dabei und lachten.

»Nicht mit einem Schritt sind Sie gestern abend auf die Wiese gekommen, Fräulein Luise – ich werd's doch wissen!« sagte die entlassene Magd. »Sie brauchen gar nicht weiter zu suchen – schade um die Zeit! So blind ist keine von uns, Ihren Henkeldukaten nur so mit dem Rechen wegzuraffen – solch ein goldenes Ding blinkt doch, und ein ellenlanges schwarzes Samtband wird auch einer sein Lebtag nicht für einen dürren Strohhalm ansehen ... Und ich hab' doch auch mit meinen eigenen Ohren gehört, wie Sie zu Ihrer Mama sagten, Sie hätten gestern abend wie immer den Henkeldukaten in die Glasschale auf der Kommode gelegt. Nun soll's auf einmal nicht wahr[64] sein, weil alle auf dem Gute sagen, kein anderer könnte den Dukaten gemaust haben, als der – na, ich will mir den Mund nicht wieder verbrennen!«

»Das ist ganz schlecht von dir, Röse!« rief das junge Mädchen fast heftig – die kindliche Stimme rang hörbar mit aufsteigenden Thränen. »Ein Mensch mit solch einem guten Gesicht stiehlt nicht – so etwas Schlimmes denke ich überhaupt von niemand!«

»So? Warum hat er sich denn nachher auf französisch aus dem Staube gemacht? – So in aller Frühe, ohne ›hab Dank‹ zu sagen! – Na, meinetwegen auch, was geht's denn mich an? Es kann mir egal sein, wo der Henkeldukaten logiert – ich hab' ihn nicht!«

Damit legte sie die Hacke über die Schulter und marschierte mit ihrer Gefährtin den Weg am Kornfeld entlang, während Luise sichtlich niedergeschlagen in das Haus zurückkehrte. –

»Ja, sehen Sie, Herr Markus, das hat man nun von seinem Gutsein!« sagte Frau Griebel, als der Gutsherr herunter kam und sie in der Küche aufsuchte. Sie steckte mit beiden Händen in einer Mulde voll Kuchenteig und war durchaus nicht rosiger Laune. »Mein Mann lacht mich aus, weil ich mich ärgere, und fragt auch noch – Sie wissen ja, was er immer für dumme Späßchen macht – ob ich auf einen Handkuß für das Logement in der Soldatenkammer gerechnet hätte ... Na ja, fort ist er, der dumme Mensch! Er muß mit dem ersten Hahnenschrei zum Fenster hinaus sein und hat durch den Hinterhof das Weite gesucht. Hübsch ist das nicht von so 'nem jungen Burschen, den seine eigene Mutter nicht besser hätte abwarten können, als er's bei uns gehabt hat – solch ein Blödsinn ärgert einen! Und nun macht mir meine Luise auch noch den Streich und verliert noch ihren schönen Henkeldukaten, den ihr die selige Frau Oberforstmeisterin geschenkt hat! Aber das ist noch nicht das Schlimmste! Unser Gesinde munkelt, wir hätten uns den Spitzbuben selbst ins Haus geholt – die grobe Gesellschaft lacht uns aus, und das schadet dem Ansehen!«

»Hätten wir doch den Zankapfel am Wege liegen lassen!« meinte Herr Markus mit dem Lächeln des Schalkes.

»I Gott bewahre!« fuhr sie böse herum. »Da kennen Sie die Griebel aber schlecht! Ein andermal wird's wieder gerade so gemacht! Ich ärgere mich nur, daß sich der Mensch selbst in[65] das Renommee gebracht hat, denn er war guter Leute Kind – das sah ein Blinder – und hat mir's ordentlich angethan mit seinem traurigen Wesen ... Da sehen Sie sich einmal meine Kleine an« – sie nickte über die Schulter nach Luise hin, die mit gesenktem Kopf am Küchentisch stand und Mandeln schnitt – »der wird heute der frische Kuchen auch nicht schmecken. Die roten Augen gelten nicht allein dem Henkeldukaten – 's ist ein kleines, dummes Ding mit einem butterweichen Herzchen. Das Mitleid mit dem armen, verhungerten Kerl, der nun auch noch gemaust haben soll, treibt ihr immer wieder das Wasser in die Augen.«

Der Gutsherr lachte verstohlen auf, das blonde Köpfchen dort duckte sich noch tiefer über das klappernde Messer ...

Er verließ die Küche, um nach dem Vorwerk zu gehen – und er ging in recht beschleunigtem Tempo. – Wer ihm am Abend seiner Ankunft gesagt hätte, daß er es eines Tages so eilig haben würde mit diesem »Pflichtgang«, ja, daß es ihm sogar unerläßlich scheine, die schönsten Wildlederhandschuhe, die er für den Besuch der Sehenswürdigkeiten Nürnbergs bestimmt, eigens zu diesem Zwecke hervorzusuchen! ... Er schritt das Fichtengehölz entlang, hinter welchem das Vorwerk lag. Zu seiner Linken wogten die Kornbreiten in dichter Ueppigkeit – die Halmhöhe reichte ihm schon nahezu an die Schulter. Das Kartoffelkraut stand wie ein Wald und war dem Blühen nahe, und auf dem goldprangenden Rübenfeld schwebte ein traumhaftes Summen, und schwerbeladene Bienen surrten vorüber nach den heimischen Stöcken auf dem Gute ... Der Hirschwinkel hatte wirklich etwas von dem gottgesegneten biblischen Land, in welchem einst Milch und Honig geflossen; und doch war es dem Mangel gelungen, auf dem Gelände Fuß zu fassen.

Dort, jenseits des Gehölzes begann seine Herrschaft. Das Getreide stand kläglich dünn, – die Quecken krochen in die Breschen und breiteten ihre tauben Aehren aus. Der Viehstand auf dem Vorwerk mußte auf das Minimum reduziert sein – bei dem ausgesogenen Boden ringsum half kein Fleiß, auch wenn die Zeit des Forstwärters und die Kraft der helfenden Magd zur pünktlichen Bewirtschaftung der Felder ausgereicht hätten ... Sollte das Vermächtnis der verstorbenen Frau Oberforstmeisterin seinen Zweck erfüllen, dann mußte vor allem die auf dem Tillröder Gasthof stehende Sparsumme flüssig gemacht und in den verwahrlosten[66] Grundbesitz gesteckt werden ... Ob wohl das Fräulein Gouvernante dafür Verständnis haben würde, oder ob sie nicht vielmehr geneigt war, mit dem Gelde sofort die an den Juden verkauften seidenen Kleider zu ersetzen und überhaupt den Luxus wieder um sich zu verbreiten, an den sie sich in dem Frankfurter Generalshause gewöhnt zu haben schien? Den Aeußerungen der Dienerin nach mochte sie in dem Punkte bedenklich mit ihrem Herrn Onkel, dem Amtmann, harmonieren.

Nun, er sollte sie ja in den nächsten Augenblicken von Angesicht zu Angesicht sehen. Und er wollte die Augen offen halten: die Dame sollte ihm nicht einen Pfennig für ihre aristokratischen Gewohnheiten ablocken, und wenn sie noch so weltgewandt und hübsch und bezaubernden Wesens war. Er war gefeit gegen diese Gouvernantendemut, hinter der ja, wie er zur Genüge wußte, stets die Begehrlichkeit lauerte!

Die Vorwerksgebäude lehnten sich mit der Rückseite an den Rand des Fichtengehölzes. Sie waren einstöckig, von sehr geringem Umfang, und so alt und verfallen, daß sie das vorbeischnaubende Dampfroß allerdings binnen kurzem notwendig über den Haufen werfen mußte.

Auf der Südseite schmiegte sich ein Grasgarten nebenan, und die Gitterthür in seinem Weißdornzaun führte nach dem Gehölz. Sie war nicht verschlossen – Herr Markus trat ein und schritt auf dem einzigen schmalen Wege, der das von Wiesenblumen strotzende Gras durchschnitt. Ein paar hochwipfeliger Birnbäume und eine schöne Eberesche warfen kühlen Schatten über ihn. Er kam auch an einer Laube vorüber, einer tiefschattigen, von verschränkten Lindenzweigen gewölbten Laube, die einen Steintisch und zwei kunstlos gezimmerte Holzbänke beherbergte ... Es war sehr indiskret und keineswegs zu rechtfertigen, daß der neue Herr des Hirschwinkels an den fremden Tisch trat, auf welchem Schere, Fingerhut und hingeworfene feine Flickwäsche verrieten, daß eine Dame hier zu hausen pflege. Aber es stand auch ein Tintenzeug da, und daneben lag ein aufgeschlagenes, dickes Schreibheft, und das war des Pudels Kern – in diesem grünen Versteck bestieg Fräulein Gouvernante ohne Zweifel den Pegasus und machte herzbewegende Verse an Luna und Hesperus. – Ihr Geist warf sonach einen Schatten vor sich her – er wehte den Indiskreten an, noch bevor er die Dame selbst sah! Im nächsten Augenblick lachte er leise auf – poetisch war es nicht, was sein scheuer[67] Seitenblick gestreift hatte – »Zwei Paar Tauben nach Tillroda verkauft, ein Schock Eier desgleichen« etc. etc. – Nun, wenn er heute Fräulein Gouvernante mit Tintenfingern fand, so war nur das Wirtschaftsbuch schuld!

Er schritt weiter. Der Graswuchs hörte auf, um einigen Gemüsebeeten in der Gartenecke Platz zu machen, und an die Stelle der Hausmauern zur Rechten trat nunmehr ein Zaun oder eigentlich ein Gebüsch von Himbeersträuchern, das den Garten vom Hofe schied – da war der Grund und Boden, über welchen die Schienen hinlaufen sollten.

Die paar »übriggebliebenen« Hühner krakelten drüben und ein Hund schlug an, und jetzt knarrte auch eine Thür in dem Gebüsch und etwas Weißes kam durch das Gezweig.

Herr Markus zog unwillkürlich den Handschuh straffer über die Rechte und beschleunigte seine Schritte, um der Dame im weißen Kleide entgegenzutreten; aber es war nur die Magd, deren Erscheinen ihn jedesmal so ärgerte, daß ihm das Blut zu Kopfe stieg. Sie hatte eine breite weiße Kochschürze über ihr armseliges Arbeitskostüm gebunden und die langen Hemdärmel hoch aufgerollt; das unförmliche Busentuch fehlte, ebenso das »Scheuleder«.

Der Gutsherr blieb unbeweglich stehen, und sie sah ihn nicht; sie ging geradeswegs auf die Gemüsebeete zu und bückte sich, um eine Handvoll Küchenkräuter abzuschneiden. Erst beim Aufrichten wandte sie den Kopf und erblickte den Dastehenden. Eine brennende Röte jagte über ihr Gesicht hin, und ihre erste Bewegung war, die langen Leinenärmel über die entblößten Arme herabzustreifen.

Es drängte ihn instinktmäßig, fast unwiderstehlich, vor der hochaufgerichteten, schlanken Gestalt den Hut zu ziehen, wie er der vermeintlichen Dame im weißen Kleide gegenüber beabsichtigt; aber sein Groll war stark genug, eine solche Inkonsequenz zu verhindern – dieses dünkelhafte Mädchen wollte er wenigstens nicht in dem Glauben bestärken, als nähme er ihre geborgte Vornehmheit für bare Münze.

Er griff deshalb nur flüchtig an den Hutrand und fragte in kaltem, geschäftsmäßigem Ton nach dem Herrn Amtmann. Dabei sah er ihr in das Gesicht, in die braunen Augen, die sich, sichtlich erschreckt, in unverschleierter Beklommenheit auf ihn hefteten – sie mochte wohl meinen, der verhängnisvolle Moment sei gekommen, wo die unrechtmäßige Bewohnerschaft des Vorwerks »auf den Bettel« geschickt werden sollte.[68]

In leisem, demütigem Ton, wie er sich recht wohl für den dienstbaren Geist des Hauses schickte, sagte sie, daß der Herr Amtmann zu Hause sei und es sich jedenfalls zur Ehre schätzen werde, den neuen Gutsherrn zu empfangen.

»Und Fräulein Agnes Franz?« fragte er.

Sie fuhr empor, als habe er schon mit dieser einen einfachen Frage ihre junge Dame beleidigt. Die angenommene Demut[69] war plötzlich vergessen; mit niedergeschlagenen Augen, aber sehr herb und bestimmt sagte sie: »Die werden Sie nicht sehen.«

»Ei was – ist die Dame verreist?«

Ein halbes Lächeln schlich um ihre Lippen. »Das Reisen vergeht ihr, wie dem Vogel im Käfig das Fliegen.«

»Aha – das ist wieder die mystische Redeweise, mit welcher Sie das Sein und Wesen Ihrer jungen Dame zu verschleiern lieben!« – Das »Sie« kam ihm über die Lippen, er wußte selbst nicht wie. »Uebrigens sind Sie mit Ihrer Sibyllenklugheit am Ende – in wenig Augenblicken werde ich in der That mit eigenen Augen sehen, was hinter diesem ›Bild von Sais‹ steckt.«

»Ganz sicher nicht.«

»Nicht? – Das wissen Sie also ganz genau, so genau, als seien Sie ein Herz und eine Seele mit Ihrer Dame?«

»Genau so.«

Er lächelte in verletzendem Spott. »Nun, es mag schon so sein – man weiß ja, daß die Zofe sehr oft die Vertraute ist, warum nicht auch für Gouvernantenbekenntnisse? – Ob die Damen es aber lieben, wenn mit dieser Intimität renommiert wird?!«

Sie bückte sich, um einige Dillstengel aufzulesen, die dem Kräuterbündel in ihrer Hand entfallen waren; dann aber richtete sie sich rasch und kerzengerade wieder auf, und ihr schönes Auge funkelte ihn feindselig an. »Ist es nicht immer und überall die selbstverständliche Aufgabe der Zofe, zu wissen, für wen man nicht zu Hause sein will? Und sie« – sie stockte plötzlich unter einem glühenden Erröten und biß sich wie verwirrt auf die Lippen, als könne und wolle sie damit jetzt noch die entschlüpfte scharfe Antwort ungesprochen machen. – Ach ja, sie besann sich wohl in diesem Augenblick mit Schrecken, daß derjenige, für den man nicht zu Hause sein wollte, der Besitzer eben dieses Hauses war und nach Belieben ihrer bettelstolzen Dame das Dach über dem Haupte wegnehmen konnte!

Er weidete sich an ihrer Bestürzung und half ihr nicht mit einem Wort über das Angstgefühl hinweg, das sie sichtlich beklemmte, obwohl dieses schlanke, plötzlich ganz demütig in sich zusammengeschmiegte Mädchen in diesem peinvollen Moment nichts weniger als die »Aparte« war, sondern weit eher an ein erschrecktes Reh erinnerte; aber – Strafe mußte sein!

»Sie möchte die Verborgenheit, in der sie lebt, durch keine[70] fremde Erscheinung unterbrochen sehen,« ergänzte sie nach einem beklommenen Atemholen mit fast bittender Stimme.

»Das glaube ich Ihnen nicht,« entgegnete er ungerührt. »Das Gouvernantentum, das um alles gern in vornehmen Häusern auf dem Strom der Geselligkeit mitschwimmt, qualifiziert sich am allerletzten zum menschenscheuen Klosterleben.«

Wieder richtete sie sich empor, und ein bitteres Lächeln flog um ihren Mund. »Vielleicht ist sie doch nicht so schlimm, wie die anderen, die Blaustrümpfe, die Genußsüchtigen, denen Sie Ihre genaue Kenntnis des ›Gouvernantentums‹ verdanken ... Uebrigens erinnere ich Sie daran, daß Sie gestern selbst gesagt haben, Sie würden ihr aus dem Wege gehen, wo sie könnten.«

»Sie weiß das? –«

»Wort für Wort!«

»Durch Sie – selbstverständlich! Die Zuträgerei ist ja das Element der Kammerjungfer! – Ich habe das allerdings wörtlich gesagt, und wiederhole ausdrücklich, daß ich mich durchaus nicht danach sehne, mit einer Dame jenes Standes, der mir nun einmal den entschiedensten Widerwillen einflößt, in irgend eine Beziehung zu treten – ich bestätige Ihnen das ganz gern noch einmal ... Nun zwingen mich aber seltsame Verhältnisse, Fräulein Agnes Franz trotz alledem um eine halbstündige Besprechung zu ersuchen – indes, das läßt sich wohl schließlich auch mit der Feder abmachen – ich werde ihr schreiben.«

»Sie glauben wirklich, daß nach allem, was Sie eben sagten, eine Zuschrift von Ihrer Hand angenommen und gelesen würde?« fragte sie mit verächtlich zuckenden Lippen.

»Ei freilich – die Dame wird müssen! Sie wird müssen um ihrer eigenen Existenz willen,« versetzte er, und seine Augen begannen zu funkeln.

Sie fiel abermals aus ihrer Demutsrolle und lachte hart auf. »Müssen?« wiederholte sie. »Wohl, um nicht von dieser armseligen Scholle verjagt zu werden? – Sie könnten sich doch sehr irren! Ich glaube, eher wandert sie barfuß in Nacht und Nebel, in die Wildnis hinein –«

»Es wird ihr dann auch nichts anderes übrigbleiben.« Er hielt mühsam an sich.

»Nun ja, das ließ sich von dem neuen Herrn des Hirschwinkels nicht besser erwarten!« rief sie mit fliegendem Atem. »Wir wußten, daß der Mann, ›der kein Herz hat, wie es einem praktischen[71] Geschäftsmann ziemt‹, eines Tages kommen und die schlechten Zahler austreiben würde; wir wußten, daß Sie wirklich und leibhaftig der mitleidslose Reiche sind, wie er in der Bibel steht –«

»Und Sie, die Dienende, das Mädchen aus dem Volke, Sie wagen es, diesen ›Reichen‹ herauszufordern?« unterbrach er sie, plötzlich ganz ruhig, fast heiter. »Besinnen Sie sich! Der Amtmann wird es seiner Magd schwerlich Dank wissen, wenn sie durch aufreizende Reden seine schwierige Lage noch verschlimmert ... Zu alledem steht Ihnen der Zorn nicht, schöne Aparte!«

Bei diesen Worten trat er um einen Schritt vor, und sie wandte sich darauf zur Flucht.

»Noch weniger aber paßt diese übertriebene Zimpferlichkeit zu Ihrer Stellung!« setzte er stirnrunzelnd mit zornigen Augen hinzu. »Thun Sie doch nicht, als sei ich ein Mädchenjäger, weil ich mir einmal erlaubt habe, einen Blick unter Ihren Hutschirm zu werfen! Das hing mit dem seltsamen Zug in der Menschennatur zusammen, nach welchem das Verborgene reizt. Vielleicht hätte mich auch schon das eine oder andere weibliche Wesen meiner Bekanntenkreise lebhafter interessiert, wenn es verstanden, durch Maskierung des Gesichts meine Wißbegierde rege zu machen ... Heute lassen Sie die Sonne ungehindert Ihre Stirn bescheinen und haben somit keine Ursache, mir aus dem Wege zu gehen, wie einem Bilderstürmer oder Gott weiß was für einem Missethäter ... Uebrigens möchte ich wohl wissen, was Sie in Ihrer späteren Stellung mit Ihren angeflogenen Salonmanieren anfangen wollen?«

Sie war stehen geblieben, und so gereizt sie auch sein mochte, jetzt unterdrückte sie ein Lächeln. »Lassen Sie das meine Sorge sein – gute Manieren schaden auch einer Dienenden nicht ... Meine spätere Stellung?« Sie zuckte die Achseln und sah mit einem ruhigen Blick zu ihm auf. – »Ich meine, seinen Lebensgang macht doch wohl ein jedes auch ein wenig von innen heraus, nicht allein wie es vom Schicksal geschoben und gestoßen wird; das wird mir den Mut nicht so leicht sinken lassen – dazu bin ich jung und gesund und für mich selbst innerlich völlig gefaßt auf den Moment, wo wir da hinaus« – sie zeigte über den Zaun hinweg nach dem Thor in der Hofmauer – »mit dem Stab in der Hand ziehen müssen –«

»Um ins Forstwärterhäuschen überzusiedeln, wo die Stellung[72] der Hausfrau winkt,« setzte er im stillen tiefergrimmt hinzu und ballte in der Erinnerung an den unausstehlichen Grünrock die Rechte. Vielleicht wäre er auch so boshaft gewesen, diese Bemerkung auszusprechen, wenn nicht ein plötzlicher Lärm im Hofe das Gespräch unterbrochen hätte. Der Hund bellte wie toll. Tauben flogen erschrocken und geräuschvoll auf die Dächer, und eine tiefe, starke Männerstimme rief wiederholt: »Holla, Kind!« und schalt dann ärgerlich: »Wo sie nur stecken mag?«

Das Mädchen war bereits nach der Gitterthür geflogen und stieß sie auf.

»Ach so – hast etwas für deine Küche geholt!« beruhigte sich die Stimme drüben. »Hör 'mal, Kind – da draußen vor dem Thor treibt sich seit mindestens fünf Minuten ein fremder Strolch herum – der Kerl mit seinem polizeiwidrigen Bart irritiert mich! Schneide ihm doch ein Stück Brot ab und gib ihm diese zwei Pfennig da – mehr wird auf dem Vorwerk in der jetzigen miserablen Zeit nicht verabreicht; das sage ihm, damit er sich endlich trollt!«

Der Gutsherr hatte sich inzwischen auch der Thür im Zaun genähert, war aber doch zögernd für einen Moment in dem dunkelnden Himbeergebüsch stehen geblieben. Er konnte seitwärts die schiefeingesunkene Fronte des Wohnhauses mit ihren blinden, glanzlosen Fensterscheiben übersehen. Wie entsetzlich und hoffnungslos mußte der Zusammensturz der Franzschen Vermögensverhältnisse gewesen sein, daß diese klägliche Behausung als rettender Hafen hatte gelten können, und heute erst recht mit einem wahren Verzweiflungstrotz als letztes Asyl berechtigten Ansprüchen gegenüber behauptet wurde!

Auf der Schwelle der Hausthür stand ein hochgewachsener, hagerer, alter Herr. In der Rechten hielt er eine lange Pfeife, und mit der linken Hand stützte er sich auf einen Gehstock. Er hatte ein kräftig gezeichnetes, edles Profil und mußte als jüngerer Mann auffallend schön gewesen sein. Jetzt freilich legte sich eine faltige, gelbe Haut über das Knochengerüst des Gesichts, und die dunklen Augen lagen wie ausgeglühte Kohlen in den weiten Höhlen. Das mußte er sein, der notorische Spieler und Schlemmer; die verwüstende innere Arbeit der Leidenschaften trat in diesen Zügen klar zu Tage.

Er blieb unter der Thür stehen, während das Mädchen an ihm vorüber in das Haus huschte, um Brot für den Bettler abzuschneiden.[73] Dann und wann that er einen Zug aus seiner Pfeife und blies dicke Rauchwolken in die würzige Morgenluft, während er nach dem Verbleib des »Strolches« forschte, der sich einstweilen einem Examen des polternden alten Herrn entzogen zu haben schien.

Unter einer aufdämmernden Vermutung suchte auch Herr Markus nach dem Verdächtigen. Das der Hausthür gegenüberliegende Hofthor stand nur zur Hälfte offen; der Gutsherr konnte von seinem Platze aus ganz gut sehen, wie sich hinter dem einen geschlossenen Thorflügel draußen ein Mensch niederduckte und, das Gesicht an die Bretter gedrückt, unverwandt durch eine der breitklaffenden Spalten des wackeligen Gefüges in den Hof lugte. – Diesen verschabten ärmlichen Rock, den zerknitterten Hut und die karierten Beinkleider hatte Herr Markus gestern schon gesehen, und als eben das Mädchen mit einem Stück Brot in der Hand wieder aus dem Hause trat, da fuhr auch der Kopf hinter dem Thorflügel empor, der junge Männerkopf mit dem mächtigen, rötlich blonden Vollbart und der kranken Gesichtsfarbe, den er gestern selbst mit auf das weiche Kopfkissen in der gastlichen Soldatenkammer des Gutshauses gebettet hatte.

Der unglückliche Mensch sah heute noch erbarmungswürdiger aus – er schien sich kaum auf den Füßen halten zu können.[74] Sein Entkommen durch das Fenster mußte eine Riesenanstrengung für ihn gewesen sein, und angesichts dieser augenscheinlichen[75] Schwäche und Hilflosigkeit war es geradezu lächerlich, anzunehmen, der Flüchtende habe noch als Dieb die Wohnräume durchstöbert und den Henkeldukaten aus der weitabliegenden Stube geholt.

Es war seltsam, daß dieser Verkommene auf alle, die ihm näher in das Gesicht sahen, denselben erschütternden Eindruck machte. Das Mädchen hatte rasch den Hof durchschritten und war mit suchendem Blick aus dem Thor getreten – in demselben Moment aber fuhr sie auch zurück, das Brotstück in ihrer Hand flog weit über den draußen vorbeilaufenden Weg hin, und es war ersichtlich, die »Prüde« streckte ebenfalls unbedenklich wie Luise, die hübsche, kleine barmherzige Schwester von gestern, die schönen, jungfräulichen Arme aus, um den Schwankenden zu stützen.

Jetzt ärgerte sich Herr Markus ebenso über diesen »fremden Burschen«, der sich so interessant in Mädchenaugen zu machen wußte, wie über den Grünrock mit seiner aufdringlichen Humanität. – Er sah plötzlich die beiden außerhalb des Thores nicht mehr, sie waren hinter der Mauer verschwunden; wohl aber hörte er, wie der Amtmann seinen Stock hart auf den Steinboden der Hausflur stieß und sich hörbar mühsam nach der Stube zurückzuhelfen suchte.

Drinnen schien ihm niemand zu Hilfe zu kommen; seine arme Frau konnte nicht, die lag ja krank, und Fräulein Gouvernante nun, die komponierte und malte wahrscheinlich an ihren Blumenstöcken, oder war in irgend eine interessante Lektüre vertieft.

Herr Markus verließ schleunigst sein grünes Versteck und eilte über den Hof in das Haus.[76]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 64-77.
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