19

[199] In meinem Zimmer fand ich die Zofe noch vor. Sie bemächtigte sich meiner, steckte die fehlende Schleife fest und setzte mir ein rundes, weißes Strohhütchen auf die Locken.

Ich warf einen Blick in den Spiegel und fand plötzlich, daß mein nie beachtetes Haar, das mir stets eine unliebsame Last gewesen, doch eigentlich in prächtigen, glänzend schwarzen Ringeln über den Nacken hinabwoge, und daß es vorzüglich schön von den milchweißen Bändern des Hutes absteche. Ilse mit ihren scharfen Augen ertappte mich sofort auf dieser allerersten Selbstbeäugelung; das harte Gesicht mit den karmesinroten Backenknochen erschien auf einmal mit einem bitterbösen Ausdruck über meinem geschmückten Kopf im Spiegel.

»Nun ist wohl auch schon der Spiegelnarr fertig?« schalt sie. »Das ist sein Lebtag kein ehrbares Frauenzimmer, das sich neugierig beguckt, ob ihm auch die Nase schön im Gesicht stehe ... Sünde ist's, weißt du das? ... Wenn meine arme Frau der Christine beizeiten den Spiegel weggenommen hätte, da wäre auch vieles anders gekommen ... Zuhängen werd' ich das Glas, ehe ich fortgehe, daß du's weißt!«

Das brauchte sie nicht. Daß es Sünde sei, konnte ich nicht[199] einsehen; denn die Nase und die ganze Gestalt hatte mir ja der liebe Gott gegeben; aber eine Lächerlichkeit war's, mit sich selbst zu liebäugeln; ich errötete vor meinen eigenen Augen und schämte mich, als hätte ich etwas Dummes gesagt.

Das Stubenmädchen entfernte sich mit einem mitleidig lächelnden Blick auf mich, der der Text so scharf gelesen wurde, und ich ging hinauf in die Bibliothek, um meinen Vater abzuholen.

Schon draußen vor der Thür hörte ich ihn mit raschen Schritten hin und her gehen und laut sprechen. Ich meinte, es sei jemand bei ihm, und öffnete leise die Thür, – er war allein, aber in nicht zu verkennender Aufregung. Unablässig durchmaß er das weite Zimmer und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Manchmal blieb er stehen, nahm die Goldmünze, die er heute Ilse gezeigt, vom Tische auf, besah sie, als wolle er das mattblinkende Metall mit seinem Blicke durchdringen, und legte sie tief aufseufzend wieder nieder. Dann schlug er mit seinen fleischlosen Knöcheln so hart auf die Tischplatte, daß sie erdröhnte, und die Wanderung begann von neuem. Mich bemerkte er nicht, obwohl ich schon einige Minuten im Zimmer stand.

»Vater, was hast du?« fragte ich endlich schüchtern.

Er fuhr herum. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht in dem neuen Kostüm, ich lachte und lief auf ihn zu. Sein verdüstertes, sehr erhitztes Gesicht erheiterte sich, ein wohlwollendes Lächeln, das mich tief beglückte, flog wie ein Sonnenstrahl darüber hin.

»Ei, sieh da, Lorchen! ... Was bist du für ein hübsches kleines Mädchen!« rief er. Er erfaßte meine beiden Hände und betrachtete mich von Kopf bis zu Füßen ... Wie unsäglich dankbar schlug ihm mein Herz entgegen! Inmitten seiner wissenschaftlichen Sorgen und Kümmernisse hatte er doch Augen für meine kleine Person.

»Wollen wir noch nicht gehen, Vater?« fragte ich, nahm allen meinen Mut zusammen, strich ihm das Haar glatt und zog die verschobene Atlaskrawatte unter seinem Kinn zurecht. »Die Prinzessin wartet vielleicht – o, wie mein Herz klopft vor Angst!«

»Ich erwarte erst noch einen Herrn, den ich zum Herzog führen will,« sagte er kurz, ohne meinen letzten Ausruf zu beachten – weg war die heitere Stimmung! Er entzog sich meinen ordnenden Händen, fing wieder an zu wandern, und nach zwei Sekunden starrten die glattgestrichenen Haare zu meinem Leidwesen nach allen vier Winden.[200]

»Willst du mir denn nicht sagen, was dich so sehr bekümmert?« fragte ich bittend.

Er schritt gerade mit rückwärts verschränkten Armen an mir vorüber.

»O, mein Kind, das kann ich dir nicht sagen! ... Ich wüßte gar nicht, wie ich es anfangen sollte, mich dir verständlich zu machen! – War es doch heute mittag eine wahre Riesenaufgabe Ilse gegenüber!« rief er fast ungeduldig nach mir zurück und ging weiter.

Ich ließ mich nicht so ohne weiteres abfertigen. »Es ist wahr, ich bin entsetzlich dumm in der Heide geblieben!« sagte ich aufrichtig. »Aber wer weiß, vielleicht verstehe ich dich doch besser, als du denkst – probier's einmal!«

Er lächelte halb verdrossen und unlustig, nahm aber doch die Münze auf und hielt sie mir hin.

»Nun, da sieh her! ... Das ist ein wunderseltenes Stück – ein sogenanntes Medaillon ... Es ist in meiner Sammlung nicht vertreten, weil ich bis zur Stunde seiner nicht habhaft werden konnte.« Mit strahlenden Blicken hielt er es gegen das Licht. »Köstlich! – Es hat seine Stempelblume fast unberührt erhalten! ... Der Herr, den ich erwarte, verkauft diese Medaillen, lauter unschätzbare Exemplare – verstehst du mich, mein Kind?«

»Die Ausdrücke nicht, Vater; aber was du schließlich willst, weiß ich ganz genau – du möchtest die Goldstücke um alles nicht wieder aus der Hand lassen –«

»Kind, ich gäbe freudig Jahre von meinem Leben darum, wenn ich sie kaufen könnte!« unterbrach er mich schwärmerisch. »Aber ich bin leider außer stande – binnen einer Stunde wird der Herzog die auserlesensten Stücke für sein Medaillenkabinett erworben haben – und ich –«

Er verstummte; denn der Herr mit seinem Kästchen unter dem Arm, der gestern schon in der Bibliothek gewesen war, trat herein. Ich sah, wie mein Vater erblaßte.

»Nun, wie ist's, Herr von Sassen?« fragte der Herr im Eintreten.

»Ich – muß davon absehen –«

»Vater,« sagte ich rasch, »ich verschaffe dir, was du brauchst!«

»Du, mein kleines Mädchen? ... Wie wolltest du denn das anfangen?«

»Das lasse meine Sorge sein! Aber die Münze muß ich[201] haben, damit ich mich auf sie berufen kann!« ... Ei, wie ich plötzlich resolut und praktisch wurde! Ich war ganz stolz auf mich selbst – das hätte Ilse sehen sollen!

Mein Vater lächelte ungläubig, aber es war doch ein Strohhalm, an den er sich noch für einen Augenblick anklammern konnte. Er sah den Herrn fragend an; derselbe neigte zustimmend den Kopf, wickelte die Münze in das Papier und übergab sie mir. Ich umschloß sie in der Tasche krampfhaft mit meiner Hand, denn ich wußte ja, daß sie unschätzbar sei, und lief nach dem Vorderhause.

Wie wollte ich Herrn Claudius bitten, mir dreitausend Thaler von meinem Gelde zu geben! Wie wollte ich ihm den Kummer meines Vaters in beweglichen Worten vorstellen! Wenn er nicht durch und durch von Stein war, da mußten ihn doch die Bitten der Tochter rühren, die ihren Vater um alles gern glücklich sehen wollte ... Freilich hatte mich noch nie eine so unsägliche Scheu vor ihm erfaßt, als gerade in diesem Augenblick, wo ich, in mich hineinfröstelnd, als Bittende die kühle dunkle Hausflur wieder betrat, die ich kaum erst im offenkundigen und übermütigen Widerspruch verlassen ... Aber vorwärts! Es mußte ja sein! Ich hatte meinen Vater schon viel zu lieb, um ihm nicht jedes Opfer zu bringen, selbst das, vor der kalten Geschäftsmiene des Herrn Claudius geduldig auszuharren ... Ach was! Hatte er mir doch auch die vierhundert Thaler für meine Tante gegeben – weshalb sollte er mir da die dreitausend verweigern? Ich unterschrieb eben einfach wieder, und damit war die Sache abgemacht.

Erdmann und das Stubenmädchen trugen eben eine Korbwanne voll Eßgeschirr die Treppe hinab, als ich hinaufstieg. Noch stand die Thür des Speisesalons weit offen. War Herr Claudius noch in Charlottens Zimmer, so konnte ich mich ihm vielleicht durch die offene Thür bemerklich machen, ohne daß die anderen es sahen, denn Zeugen mochte ich nicht haben bei meiner Bitte.

Ich wollte eben das nächste Zimmer betreten, da schlugen zwei prachtvolle Menschenstimmen an mein Ohr – wie festgewurzelt blieb ich stehen, obgleich mir der Boden unter den Füßen brannte und die Angst um jede verlorene Minute mein Herz heftig klopfen machte.


»O säh' ich auf der Heide dort

Im Sturme dich!

Mit meinem Mantel vor dem Sturm

Beschützt' ich dich« –
[202]

sangen Charlotte und Helldorf. Ich sah schräg durch die Thüröffnung die zwei prächtigen Gestalten nebeneinander stehen, während Dagobert am Flügel saß und den Gesang begleitete.

O, meine Heide im Sturm, im Frühlingssturm! Wenn er über den Dierkhof hinfuhr, die trotzigen, alten Eckpfeiler wegzustoßen und die Fensterscheiben einzudrücken versuchte, wenn er den Eichen die vorjährige, ehrwürdig vertrocknete Blätterperücke abriß und sie in tausend Atome zerpflückte, wenn Ilse vorsorglich alle Thüren schloß und die Hühner aus dem weiten unbeschützten Hof auf ihre Querstangen in der Tenne flüchteten, da lief ich hinaus vor die Umzäunung und schrie das vorüberbrausende Heer in den Lüften an ... Es war ja kein Sturm, wie der im Winter! Es waren tausend und abertausend Stimmen, die ausgeschlafen hatten und nun ineinander jubilierten! Da brauste das Wasser drin, das sich vom Eis erlöst hatte, da rauschte der Wald hinein, in dem das aufquellende Leben stürmisch[203] pulsierte, da klang schon jedes Blumenglöckchen mit, das sich aus der braunen Hülle schälen sollte ... Und ich ließ mich von seinen Händen greifen und forttragen – Ruck um Ruck ging es über die Heide hin, taumelnd wie ein fortgewirbeltes Eichenblatt, bis ich auf dem Hügel stand und halb erschrocken, halb aufjauchzend meine Arme um die Föhre schlang. Wir zitterten und schwankten beide, die alte Föhre und mein kleiner Körper, aber sie rasselte lustig mit ihren Nadeln, und ich lachte hinauf in die großen, dicken Wolken, die mit zuckenden Gliedern hilflos weiterstürmen mußten. Er riß und zerrte an meinem Röckchen, und das Haar zerpeitschte mir das Gesicht – aber ich brauchte keinen Mantel, der mich beschützte – es war etwas von Stahl und Eisen in meinen gescholtenen Kinderhänden und -füßen; ich kämpfte mich tapfer wieder heim und schalt Spitz, der sich unterdessen faul seinen Pelz in der sicheren Ofenecke gewärmt hatte.


»Und käm' mit seinem Sturme je

Dir Unglück nah –«


sangen die drinnen, und die Stimmen stiegen aufwärts, wie der Sturm auffliegt und im vollen Ausbrausen gipfelt. Ich war wie berauscht von den Tönen; allein ich durfte mich dem Zauber nicht länger hingeben – fort mit dem Heimweh und seinen schmerzlich süßen Träumen! ... Ich sah meinen Vater aufgeregt in der Bibliothek hin und her laufen, und das trieb mich sofort über die Schwelle.

Da saß seitwärts, tief in die Ecke des Zimmers gedrückt, Herr Claudius, ganz allein. Er hatte den Ellbogen auf die Seitenlehne des Fauteuils gestützt und vergrub Stirne und Augen tief in der Hand. Das dicke blonde Lockengeringel fiel über die weißen Finger – ich wich beklommen zurück, selbst der matte Silberschein der Haare wirkte erkältend und ernüchternd auf mich; ich konnte mich plötzlich auf kein Wort meiner heroischen schönausgedachten Anrede mehr besinnen; angesichts seiner Persönlichkeit fühlte ich nur das eine, daß er mich zurückweisen würde, sehr höflich und mit gütevoller Stimme, allein so fest und bestimmt, daß jedes fernere Wort zur Zudringlichkeit wurde ... Und wenn er auch jetzt dasaß, wie der Welt entrückt, wie tief versunken in den erschütternden Gesang – in seinem Kopfe kreisten doch nur Zahlen, und ich wußte es, sobald ich ihm die Dreitausend nannte, da[204] lächelte er leise und sagte wieder: »Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist!«

Trotz alledem stand ich plötzlich neben ihm; wie ich die wenigen Schritte Weges überwunden, wußte ich selbst kaum. Ich bog mich zu ihm hin und nannte halblaut seinen Namen ... Himmel, ich hatte ihn ja nicht erschrecken wollen, meine Stimme hatte so schwach und verzagt geklungen, und doch fuhr er in die Höhe, als habe die Posaune des Weltgerichts sein Ohr getroffen. Er sprang auf und lächelte – ich wußte wohl warum – wie konnte man auch über solch ein kleines Geschöpf erschrecken, das wie ein winziger Zaunkönig lautlos herangehüpft war! ...

Böse war er nicht, das sah ich, und doch brachte ich kein Wort über die Lippen. Hätte er doch nur die schreckliche Brille vor den Augen gehabt und die breite Hutkrempe über der Stirne – er sah auf einmal gar so jung aus seinen feurig blauen Augen ... Ich kam mir entsetzlich einfältig vor, und ihm fiel es nicht ein, mich aus meiner unbeholfenen Verlegenheit zu ziehen – er schwieg, während sie drinnen sangen:


»Dann wär' mein Herz dein Zufluchtsort,

Gern teilt' ich's ja.«


»Wollten Sie mich sprechen?« fragte er endlich halblaut, als die Sänger schwiegen.

»Ja, Herr Claudius, aber nicht hier.«

Er trat sogleich mit mir in den anstoßenden Salon und schloß beide Thüren.

Die Augen unverwandt auf ein glänzend poliertes Carreau in dem getäfelten Fußboden gerichtet, trug ich mein Anliegen vor, und es ging; ich fand die Worte und Ausdrücke wieder, die ich mir ausgedacht! Ich schilderte ihm, wie heftig mein Vater den Besitz der Münzen wünsche, daß er nicht essen könne vor Aufregung; ich versicherte ihm, daß ich es durchaus nicht ertragen könne, ihn leiden zu sehen – durchaus nicht, und deshalb Rat schaffen und die Dreitausend haben müsse, um jeden Preis – dann sah ich zu ihm auf.

Er sah wieder genau so aus, als stünde er drunten im Schreibzimmer neben seinen dicken Folianten – das Bild des ruhigen Anhörens, der kühlsten Ueberlegung und Vorsicht.

»Ist das Ihr eigener Gedanke, oder hat Herr von Sassen[205] zuerst den Wunsch ausgesprochen, ein Kapital aus Ihrem Vermögen zu entnehmen?« fragte er – wie stach dieser gehaltene Ton häßlich ab von meiner warmen Beredsamkeit, und wie reizte er mich! ... Aber in die klarblickenden Augen hinein konnte ich doch weder geradezu lügen, noch eine Bemäntelung erfinden, wozu ich allerdings einen Augenblick die größte Lust verspürte.

»Mein Vater hatte heute mittag den Wunsch gegen Ilse ausgesprochen,« versetzte ich zögernd.

»Und sie hat sich geweigert?«

Ich bejahte niedergeschlagen – ich wußte es, die Sache war bereits verloren.

»Haben Sie sich nicht selbst gesagt, Fräulein von Sassen, daß ich Ihnen die Summe dann noch viel weniger geben darf und werde?«

Vergessen war der Vorsatz, mich auf demütiges Bitten zu verlegen und in Geduld auszuharren gegenüber dieser kaufmännischen Berechnung und Gelassenheit! ... Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden, »mein böses Herz überrumpelte mich«.

»Freilich habe ich mir das selbst gesagt,« antwortete ich rasch, mit fliegendem Atem, – ich zeigte auf die Thürschwelle. »Da hab' ich eben noch gestanden und mich vor Grauen geschüttelt ... Aber ich habe meinen Vater lieb und wollte ihm das schwere Opfer bringen.«

Er sagte nicht ein Wort, als ich für einen Moment verstummte – er war wirklich durch und durch von Stein, alle meine Vorstellungen waren wirkungslos abgeprallt – und da sollte man nicht zornig werden? ... In meinen Füßen zuckte es fast unwiderstehlich, den Boden zu stampfen – ich wandte ihm heftig den Rücken und rief in ausbrechendem Groll über die Schulter zurück: »Ich will das Geld nun gar nicht! Lächerlich, daß ich um das, was mir meine liebe Großmutter doch geschenkt hat, bei Fremden betteln soll? ... Aber das thue ich nicht, ganz gewiß nicht! ... Ich werde Sie nie, nie wieder um etwas bitten, und wenn es mir zehnmal gehört, und ich das Recht habe, darüber zu verfügen –«

»Nicht über einen Pfennig haben Sie in diesem Augenblick zu verfügen!« fiel er ein, ohne alle Heftigkeit, aber mit großem Ernst und Nachdruck. »Und das will ich Ihnen sagen, wenn Sie das wilde Kind in der Heide in so ungebärdiger Weise herauskehren,[206] dann erreichen Sie bei mir nie etwas ... Mögen Sie immerhin auf die Bäume klettern und durch den Fluß laufen, darin sollen Ihnen die Flügel nicht beschnitten werden – aber aus der Seele will ich das wilde Element scheiden.«

Also er umklammerte mich richtig mit seinen eisernen Fingern und ließ mich nicht eher wieder frei, als die zwei Leidensjahre um waren! ... Gott, was für ein klägliches Zerrbild wollte er aus mir machen!

»Wenn ich's leide,« sagte ich und warf den Kopf zurück. »Heinz hatte einmal einen Raben gefangen, und als er ihm die Flügel beschneiden wollte, da biß ihm der Vogel den Finger blutig –«

»Und so tapfer wollen Sie sich auch wehren, kleine Heidelerche?« fragte er und sah lächelnd auf seine schlanken Finger herab. »Der böse Rabe hat eben nicht einsehen können, daß ihn Heinz zu seinem trauten Hausgenossen machen wollte ... Aber nun wollen wir weiter über die Geldangelegenheit reden. Mit Ihrem Vermögen darf ich so wenig willkürlich schalten und walten, wie Sie selbst; dagegen bin ich sehr gern bereit, Herrn von Sassen die nötige Summe aus eigenen Mitteln vorzustrecken ... Sagten Sie nicht, der Verkäufer sei augenblicklich bei Ihrem Vater?«

Beschämt griff ich in die Tasche und reichte ihm das Medaillon hin.

»Ach, eine Kaisermünze aus der Zeit der Antonine! Ein schönes Exemplar!« rief er. Er trat an das Fenster und betrachtete sie eine lange Zeit scharf prüfend von allen Seiten – wieder einmal, als ob er wirklich auch davon etwas verstünde.

»Kommen Sie,« sagte er und öffnete das anstoßende Zimmer zur rechten Hand. Es hatte schwerseidene Draperien an den Wänden und war ebenso düster, wie alle in dieser endlos langen Flucht liegenden. Einem der Fenster nahe stand ein Schrank von dunklem Schnitzwerk mit schweren, fein ziselierten Silberbeschlägen.

Herr Claudius schloß das wunderliche, altmodische Gerät auf und zog einen Kasten heraus – da lagen ganze Reihen solcher Medaillen, von denen mein Vater gesagt, daß sie wunderselten seien, wohlgeordnet auf dunklem Samtgrunde. Er nahm eine derselben auf, legte sie auf seine Handfläche neben die von mir gebrachte, verglich beide noch einmal prüfend und hielt sie mir hin. Sie[207] glichen sich, wie ein Ei dem anderen, nur sah die aus dem Kasten genommene bedeutend abgegriffener aus.

»Diese ist schöner,« sagte ich und zeigte auf die Münze, die mein Vater so heiß ersehnte.

»Ja, das glaube ich Ihnen,« versetzte er. »Mir aber gefällt sie nicht.«

In diesem Augenblick wurde die nach dem Speisesalon führende Thür aufgemacht, und als wir beide uns umwandten, sahen wir Dagobert auf der Schwelle stehen. Herr Claudius faltete mißmutig die Brauen, allein der junge Mann ließ sich dadurch nicht verscheuchen; er trat näher, und seine braunen Augen irrten erstaunt über die Münzenreihen hin.

»Himmel, welche Pracht!« rief er überrascht. »Onkel, bist du denn Sammler?«

»Ein wenig, wie du siehst.«

»Und davon weiß die Welt kein Wort!«

»Ist es denn nötig, daß die Welt meine kleinen Passionen kennt?« – Wie stolz gelassen klang das!

»Nun, wenn auch das nicht,« versetzte Dagobert; »aber in einer Zeit, wo fast die ganze Residenz sich mit wahrhaft fieberndem Interesse der Altertumskunde zuwendet, ist diese Passivität geradezu unbegreiflich.«

»Meinst du? ... Ich will dir sagen, daß ich selten an etwas Genuß finde, das gerade als Modeartikel auf dem großen Markt liegt und von Unberufenen zu ganz anderen Zwecken ausgebeutet wird, als sie die Wissenschaft verfolgt ... Auch bin ich sehr auf meiner Hut mit meinen kleinen Neigungen, ich bringe sie durchaus nicht in Konkurrenz – sie wachsen uns unter fremdem Einfluß über den Kopf, und einer solchen ausgebildeten Leidenschaft ist dann nichts unerreichbar, sie rührt an das Heiligste und nimmt die Mittel vom Altar, wenn es sein muß.«

»Nun, vor der Sünde schützen dich denn doch die Ersparnisse deiner Ahnen, Onkel!« lachte Dagobert. Er schüttelte den Kopf. »Unglaublich! Du interessierst dich für Altertümer und lässest eine kostbare Antikensammlung so und so viel Jahre im Keller verschimmeln, ohne sie zu berühren.«

Herr Claudius zuckte leichthin die Achseln. »Vielleicht urteiltest du anders, wenn dir das Testament meines Großvaters zu Gesicht käme. Nach seinem Wunsch sollten die Antiken begraben bleiben für alle Zeiten.«[208]

»Ach so – da kann ja Herr von Sassen stolz sein – er hat mit seinen Bitten die unsinnigen Traditionen des Hauses über den Haufen geworfen –«

»Er weniger, als meine schließliche Ueberzeugung, daß weder meinem Großvater, noch mir das Recht zu steht, Kunstschätze der Welt zu nehmen und sie für immer verschwinden zu lassen,« lautete die sehr ruhige Antwort.

Ich stand wie auf Nadeln bei diesem Gespräch – die kostbare Zeit verrann. Zu meiner Beruhigung trat Dagobert an das Fenster und sah einer Equipage nach, die vorüberrollte; Herr Claudius aber legte das Medaillon in den Kasten, schob ihn zu und gab mir die Münze zurück.

»Es thut mir herzlich leid, daß ich mein gegebenes Wort zurücknehmen muß,« sagte er zu mir. »Allein beim Ankauf dieser Art Münzen möchte ich nicht behilflich sein – das Medaillon in Ihrer Hand ist unecht.«

Dagobert fuhr herum.

»Wer will denn die Münzen kaufen?« fragte er.

»Herr von Sassen.«

»Wie, Onkel, er findet die Münzen preiswürdig, und du willst ihn korrigieren? ... Verzeihe, das fuhr mir so heraus – es war nicht höflich!« setzte er augenblicklich entschuldigend hinzu.

Herr Claudius lächelte leise. »Du hast eben nur meine Ansicht dokumentiert, nach welcher der Laie sehr wohl thut, mit seiner Weisheit still zu Hause zu bleiben. Einer Autorität gegenüber wird sein Urteil stets eine Unbescheidenheit sein.«

Er schloß den Schrank, und ich verließ, ohne noch ein Wort zu verlieren, aber auch mit steifem Nacken, das Zimmer. Dagobert trat mit mir zugleich über die Schwelle der Salonthür.

»Unverschämt!« murmelte er zwischen den Zähnen, doch so, daß ich's hören konnte, und schritt wieder nach dem Zimmer seiner Schwester, während ich scheu und schweigend davonrannte.

Ja, eine Unverschämtheit war es, meinem weltberühmten Vater gegenüber! ... Ich lief wie gejagt durch die Gärten und stürmte in großer Aufregung die Treppe der Karolinenlust hinauf.

»Nun?« fragte mein Vater in atemloser Spannung, als ich eintrat.

»Herr Claudius behauptet, die Münze sei unecht!« rapportierte ich mit erstickender Stimme.[209]

Der fremde Herr brach in ein unauslöschliches Gelächter aus – er schien sich gar nicht wieder beruhigen zu können. Mein Vater dagegen zuckte verächtlich die Achseln. »Krämerweisheit!« stieß er hervor. »Mit solchen Leuten muß man sich eben nicht einlassen.«

Er griff nach seinem Hut, stülpte ihn auf das wirre Haar und reichte mir den Arm. »Gehen wir,« sagte er resigniert.[210]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 2, Leipzig 21900, S. 199-211.
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