Der Abend

[72] An Sander.


Wie lieblich sinkt aus unbewölktem Blau

Des goldnen Abends süsse Ruh' herab!

Ein sanftes Rosenlicht umfließt den Hain,

Mischt mit des Baches Silberwelle sich,

Bepurpurt Berg und Thal und Wiesenflur!

Wie still ist Gottes Schöpfung ringsumher!

Nur dort im blühenden Gesträuche singt,

Mit sanfter Klage, noch die Nachtigall

Dem hingeschiednen Tag' ein Sterbelied!


Ich hebe freudig meine Augen auf,

Und siehe! du bist überall, o Gott!

Du bist es, Unerschaffner, der im Hauch

Des Abendwindes mir vorüberwallt,

Und frohen Schauer seiner Gegenwart

In meine tiefgerührte Seele geußt!

Du bist es, der dies Veilchen, welches hier,

Der Demuth Bild, im niedern Grase blüht,

Aus mütterlichem Schooß der Erde rief,[72]

Ihm Farbenglanz und süsse Düfte gab.

Doch auch des Wurmes Vater bist du, Gott!

Der dieses Veilchens, seiner Welt, sich freut!


O wie sind deiner Wunder viel, o Herr!

Mein Geist, im Schranken seiner Endlichkeit,

Ermißt sie nicht! Wohin mein Auge schaut

Ist alles Kette, Ordnung, Harmonie,

Und deiner Herlichkeiten Wiederglanz!

O du, der war und ist und seyn wird! Du,

Auf dessen Machtwink Welten untergehn

Und Welten werden! Unbegreiflicher!

Der Mensch, was ist er, daß du sein gedenkst?

Anbetung dir und Preis und heisser Dank!


Im Tempel deiner herlichen Natur

Steigt mein Gebet, o Weltgeist, stillvereint

Mit dieser Wiesenblumen Opferduft,

Zu dir, zu dir aus trunkner Seel' empor!

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 72-73.
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