Lied der Schwermuth

[60] Ogni Oggetto ch'altrui piace

Per me lieto più non è

O perduto la mia Pace,

Son'io stesso in odio a me.

Rolli.


Des schönsten Tages Abend sinkt bekrönt,

Mit glanzbesäumten Purpurwolken nieder,

Des Haines Bild, vom goldnen Stral verschönt,

Blinkt aus des See's krystallnem Spiegel wieder,

Durch Feld und Wald und Saatgefilde tönt

Die Sängerin der Nächte Zauberlieder,

Jezt schwebst du, Herzerfreuerin, o Ruh'!

Der müden Schöpfung schlummerträufelnd zu!
[60]

O Göttin, mit dem Engelangesicht,

Von Gott zum Trost dem Sterblichen beschieden,

Wenn jeder Stab in seinen Händen bricht,

Du thaust jezt Labung auf das Haupt des Müden,

Nur mir ins Herz strömst du wie vormals nicht,

Allgütige! des Himmels süssen Frieden!

Hast du, die einst mir stets zur Seite stand,

Den Blik auf ewig von mir weggewandt?


Dich sucht, in banger, sternenloser Nacht

Mein Geist, auf naßgeweinter Schlummerstäte,

Wo nur der Schwermuth trübes Auge wacht,

Dich, die mich einst zum Erdengott erhöhte,

Als noch, voll Herrlichkeit und Himmelspracht,

Des Jugendlenzes erste Morgenröthe,

O wie so rein, so mild, so wolkenlos

Ihr schönes Licht auf meine Pfade goß!


Als mein stillheitres, unbefangnes Herz

Das grosse Lebensschauspiel noch nicht kannte,

Bei fremder Freude, wie bei fremdem Schmerz

Von engelreiner Mitempfindung brannte,

Und ach! wie oft, geflügelt himmelwärts,

In Andacht schmolz! – o Ruh! o Gottgesandte!

Da kränztest du mit Scherz und Freude mich,

Da nannt' ich Schwester, Busenfreundin dich!


Im Nachtigallenhain, am Wasserfall,

Am blumenvollen Hang bebüschter Hügel,

Im Erlenwald, im bunten Frühlingsthal,

An mondbeglänzter Bäche klarem Spiegel,

Im Morgenlicht, im Abenddämmrungsstral,

Umschwebte wonnesäuselnd mich dein Flügel,

Auf Rosen hingegossen, wehtest du

Mir Schlaf und Paradiesesträume zu!
[61]

Oft wenn in schlummerloser Nacht, eu'r Bild

Mit allen seinen tausend Seligkeiten

Und goldnen Szenen mir die Seele füllt,

O holde, ruhgeweihte Knabenzeiten!

Dann wird die Dunkelheit, die mich umhüllt,

Noch nächtlicher, und heisse Thränen gleiten;

Vergebens fleh' ich weinend vom Geschik

Nur einen Tropfen eurer Lust zurük.


Vom Strome bittrer Leiden fortgerissen,

Kennt dich mein zährentrüber Blik nicht mehr,

O Ruh'! von meinen seligsten Genüssen

Einst Schöpferin! Wie öd' und freudenleer

Ist jezt, umnachtet von den Finsternissen

Des tiefsten Kummers alles um mich her!

Kein Freund erscheint, kein Stern der Hofnung lacht

Trostblinkend durch der Zukunft Mitternacht!


Am Grabe tagt des Lebens Dämmerung!

Dort sinkt entnervt des Kummers Rechte nieder,

Hoch zu den Sphären hebt, mit Adlerschwung,

Der freie Geist sein sonnigtes Gefieder!

Wann reichst du mir, o Tod! den Labetrunk?

Wann sammlest du den Staub zum Staube wieder?

Entschimmre bald dem Ozean der Zeit

O Morgenglanz der ernsten Ewigkeit!

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 60-62.
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