[822] Es war am Abende desselben Tages. Der Herr Particulier Reichmann saß auf seinem Sopha und hielt mit beiden Händen den dicken Backen, welcher ihm von einem Hummelstiche angeschwollen war, und sein Spezial, der Lehrjunge Schmerl, saß unten im Hofe auf dem Hackeklotz und hielt mit beiden Händen die Magengegend, sintemalen es ihm grad an diesem Punkte seines Körpers ganz trübselig zu Muthe war, da ihn der Meister zur Strafe für seinen Streich vom Abendessen dispensirt hatte.
»Es giebt keinen leeren Raum in der Welt«, heißt ein physikalischer Lehrsatz; unser Franziskus Bonifazius aber hätte recht wohl beweisen können, daß es mit der Wahrheit dieses Satzes nicht mit dem Besten stehe, denn sein Magen war leer, vollständig leer, und der lag ja doch nicht sechzig Meilen außerhalb der Welt. Und dazu fiel draußen im Garten eine reife Rettigsbirne nach der andern herab auf den glattgeschoorenen Rasen; man konnte es ganz deutlich hören, und – so etwas hören und nicht zugreifen dürfen, das war doch noch viel schlimmer als der dumme Lehrsatz!
Hülfe gab es hier nicht, denn der Einzige, von dem sie zu erwarten gewesen wäre, Julius, hatte ihm auch seinen Streich verwiesen und dem Vater vollständig Recht gegeben; so galt es also, zu hungern, oder – na die Rettigsbirnen, die brachten ihm ja schließlich doch auch wieder eine Tracht Prügel und neues Hungern ein! So einen Lehrjungen geht es doch immer zum Verzweifeln schlecht; auf ihn hackt Alles hinein, und wenn er einmal aus Jugendlust oder reinem Lebensüberdruß einen kleinen Jux macht, so gerbt man ihm das Fell, daß die Schwarte raucht.
Und daß er hat Lehrjunge werden müssen, wer anders ist denn daran Schuld als nur der Filz, der Pappermann in Grünewalde, der eigentlich sein Onkel ist und für ihn sorgen könnte! Aber der hat sich nach dem Tode seines armen Bruders um die Wittwe und Kinder desselben nicht bekümmert, und als die Erstere einige Jahre darauf aus übergroßer Anstrengung auch gestorben ist, sind die Letzteren in das Gemeindehaus gekommen und werden außer dem Franz, der der Aelteste ist, noch heut von Commun wegen erzogen. Und dabei thut der Pappermann so fromm und barmherzig wie ein mongolischer Heiliger und lehrt in der Schule von der Nächstenliebe und einem halben Schocke anderer guter Tugenden, die er alle zusammen mit dem Löffel gegessen hat. O, wenn man doch dem einmal so einen rechten Streich spielen könnte; daß müßte einer werden, der sich gewaschen hat! Aber er wohnt in Grünewalde, und dahin kommt doch der Franz nicht.
Da öffnete sich leise die Hofthür, und vorsichtige Schritte nahten sich dem in trüben Gedanken versunkenen Jungen.
Es war Marie. Als sie den Sitzenden erblickte, blieb sie stehen.
»Franz bist Du's?«
»Ja.«
»Was machst Du denn hier haußen?«
»Die essen drin, und da bin ich ausgerissen.«
»Ausgerissen? Warum denn?«
»Es giebt geschmoorte Kartoffeln, mein Leibessen, und das kann ich nicht erriechen; d'rum habe ich mich aus dem Staube gemacht.«
»Wunderbarer Kerl Du! Ist Julius drin?«
»Freilich! Wenns geschmoorte Kartoffeln giebt, fehlt Keins, kein Einziges!« rief grimmig der hungrige Spaßvogel.
»Wird er vielleicht einmal herauskommen?«
»Soll ich es ihm sagen?«
»Wenn Du willst, Franz; aber es darf es Niemand hören! Verstehst Du?«
»Schon gut! Die hören heut' Alle zusammen nichts. Bei mir knarrt es doch laut genug, aber die haben keine Ohren!«
»Was hast Du denn?«
»Einen Magen hab' ich, und was für einen!«
So, jetzt war's heraus, jetzt Luft gemacht, und ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging in die Stube. Dort war man grad' am Abräumen, und Julius stand im Begriffe, das Zimmer zu verlassen. Schnell war Franz hinter ihm her und richtete draußen im Flur die ihm aufgetragene Botschaft aus.
»Wo ist sie?« fragte voll Freude der junge Mann.
»Doch am Ende im Garten, denn im Hofe ist's nicht ganz sicher.«
»Das ist wahr; ich werde sie also im Garten aufsuchen. Wenn mir nur nicht etwa überrascht werden!«
»Da laß' nur mich sorgen; ich werde Wache stehen!«
»Das wird wohl auch nicht viel helfen.«
»Oho! Wenn Ihr mit einander in die Laube geht, so[822] stehe ich dafür, daß Ihr nicht erwischt werdet, so lange ich da bin.«
»Dumm bist Du nicht; das ist wahr. Also paß' gut auf, und wenn Du etwas Verdächtiges bemerkst, so kommst Du gleich und sagst's mir!«
Er ging; Franz ließ ihn im Dunkel der Nacht vollständig verschwinden, ehe er vor sich hinbrummte:
»Das wär' 'ne schöne Dummheit, hinlaufen und sagen! Da kommen sie ganz einfach nachgelaufen und nehmen das ganze Nest aus. Der Julius versteht doch gar Nichts vom auf die Heirath gehen; da fange ich's 'mal gescheidter an! Na, ich will aufpassen! Zu thun habe ich ja nichts, und wenn's auch 'was Nothwendiges gäbe, ich machte doch nicht mit, denn wer nichts Geschmoortes bekommt, der braucht auch nicht zu arbeiten; das ist so meine Meinung, und da wird mir jeder verständige Lehrjunge recht geben!«
Leise schlich er sich hinauf in sein kleines Bodenkämmerchen und kam bald darauf mit einer Schachtel zurück, mit welcher er seine frühere Position auf dem Klotze wieder einnahm, nur mit dem Unterschiede, daß er denselben zuvor in eine Ecke rollte, in welcher man nur bei wirklichem Suchen bemerkt werden konnte.
Während dessen saßen Reichmanns bei einander und fingen Grillen. Der dicke Particulier konnte wegen seines geschwollenen Backens nicht gut reden, und seine dünne Frau Gemahlin konnte vollends gar nicht reden, und zwar sehr einfach aus dem Grunde, weil sie nicht wollte; so herrschte eine lautlose Stille in dem Zimmer, die nicht einmal von dem Tiktak der Uhr hervorgehoben wurde, weil die letztere bei dem Hummelkriege invalid geworden war.
Da endlich konnte der gutmüthige Reichmann das peinliche Schweigen nicht länger aushalten. Er zog, um die dicken Lippen auseinander zu bringen, eine Grimasse, als hätte er soeben ein halbes Dutzend Igel mit Haut und Haar und Stacheln verschluckt, preßte die Kniee zusammen und die Hände an die Halsbinde, und brachte in Folge dieser Anstrengung den Namen seiner Geliebten hervor:
»Milchen.«
Die Angeredete strickte, ohne eine Miene zu verändern, ruhig weiter.
»Mi–Mi–Milchen.«
Keine Antwort.
»Mi–Mi–Milchen! So hö–hö–höre doch!«
»Wo ist Marie?« fragte sie kurz.
»Ma–Ma–Marie?« fragte er und sah sich in der Stube um. »Wo i–i–ist sie denn?«
Keine Antwort auf diese allerdings befremdende Frage.
Wieder entstand eine Pause, die nicht eher unterbrochen wurde, als bis Reichmann eine zweite und wo möglich noch schauderhaftere Grimasse zog.
»Milchen! Mi–Mi–Milchen!«
»Sei ruhig!« herrschte sie ihn an. »Du ziehst ja ein Gesicht wie ein breitgequetschter Cylinderhut! Was bist Du so dumm und schlägst Dich mit dem giftigen Viehzeuge herum. Es ist Dir schon recht geschehen; Hochmuth kommt vor den Fall. Und jetzt lässest Du das Mädchen fortlaufen, und wenn es zum Treffen kommt, so stickt sie mit dem Teigkneter in irgend einem Winkel und treibt Allotria. Aber ich werde ihr den Text lesen!« Damit erhob sie sich und legte den Strickstrumpf auf den Tisch. »Hier bin ich Herr im Hause, und ich leide nicht, daß hinter meinem Rücken Dinge vorgenommen werden, die ich nicht zugeben kann!«
Sie schritt zur Thür. Reichmann hätte um des lieben Friedens willen sie gern zurückgehalten, aber es gelang ihm nicht.
»Mi–Milchen, so hö–hö–höre doch! – Weg ist sie, fo–fo–fort! Ach Gott, ist da–da–das eine Noth! Ich möchte nur wi–wi–wissen, ob der gelehrte Liegel, der in Braunau Apothe–the–theker gewesen ist, auch eine solche Frau gehabt hat, die – – Was ist de–de–denn wieder los!« unterbrach er sich, als sich jetzt an der Hofthür ein markerschütterndes Kreischen hören ließ, und seine Frau die Treppe mehr heraufgestürzt als gegangen kam.
»Mi–Mi–Milchen,« empfing er sie unter der Thür, indem er trotz des dadurch verursachten Schmerzes den geschwollenen Mund vor Erwartung so weit wie möglich auseinander riß; »was gi–gi–giebt es denn?«
»Der ganze Hof ist voll Hummeln, so daß kein Mensch durchkann, und ich wette meinen Kopf, das Mädchen sitzt im Garten und meint es mit dem Passelmüller gut!«
»Der ganze Hof?« fragte er erstaunt. »Voll Hu–Hu–Hummeln? Jetzt, mi–mi–mitten in der Nacht? Du bist ni–ni–nicht gescheidt!«
»Was? Nicht gescheidt?« rief sie, im höchsten Grade erzürnt über diese Injurie. »Willst Du gleich auf der Stelle hinuntergehen und das Mädchen holen?!«
»Ich? In dieser Fi–Fi–Finsterniß? Und bei die vi–vi–vielen Hummeln? Fällt mir gar nicht ein!«
»Was sagst Du? Es fällt Dir gar nicht ein, sagst Du? Das ist auch gar nicht nothwendig! Du sollst Dir auch gar nichts einfallen lassen, denn hier bin ich Herr im Hause, und Du, Du gehst hinunter, und zwar auf der Stelle! Hast Du's gehört?«
»Ja, mein gu–gu–gutes Milchen, ich ge–ge–gehe schon!«
Mit gewohntem Gehorsam folgte er dem Befehle und ging nach unten. – – –
Franziscus Bonifazius Schmerl hatte sich in seine Ecke gesetzt und die Schachtel mit liebendem Arme umfaßt. Es mußte etwas Lebendiges d'rin sein, denn in ihrem Innern wabbelte und krabbelte es mit ganz eigenthümlichen und klebrig knisternden Tönen herum, und der Lehrjunge hielt mit großer Vorsicht den Deckel geschlossen.
»'S war doch gut,« meinte er leise, »daß ich heut' das Hummelnest gefunden habe; die Dinger sind zu gebrauchen. Wenn die Bohnenstange etwa herunterkommt so werde ich ihr so rasch wieder hinaufhelfen, daß es eine Lust sein wird. Ich könnte mich eigentlich schon darauf freuen, wenn mich die Geschmoorten nicht so gewaltig wurmten!«
Es dauerte nicht lange, so vernahm er Schritte, welche die Treppe herab kamen. Sofort faßte er die Schachtel mit beiden Händen und schüttelte sie kräftig hin und her.
»Nur tüchtig schütteln! Je wilder sie werden, desto besser hilft's!«
Frau Reichmann trat in den Hof. »Sssssumsssssum!« tönte es dort von der Ecke her grad' auf sie zu. Es war blos eins der kleinen Thiere, welches dem Lichtschein entgegenflog, den die Hauslampe verbreitete. Die Frau stutzte. »Sssssumssssum!« kam es von Neuem. Die Frau trat einen Schritt zurück. »Sssssumsssum!« In rascher Aufeinanderfolge wurde eins der Insecten nach dem andern aus der Schachtel entlassen; sie nahmen alle die Richtung nach der Thür zu und zeigten eine so auffallende Zuneigung zu Milchen, daß sie unter lautem Schreien die Flucht ergriff.[823]
»So, die ist abgethan!« brummte Schmerl vergnügt; »die läßt sich heut' nicht wieder hier unten sehen. Aber den Dicken wird sie herunterschicken; was mache ich denn mit ihm? die Hummeln sind alle! Ich weiß zwar noch ein Nest, aber ich habe sie doch nicht da. – – Halt! Warte! Ja, so geht's, so ist's richtig: ich gehe in die Rettigsbirnen; da fängt er mich und bekümmert sich um die beiden Liebesleute gar nicht. Es wird zwar eine tüchtige Tracht Prügel setzen und morgen wieder nichts zu essen, aber für den Julius und die Marie lasse ich mich todtschlagen und hungere nachher auch noch zehn Wochen dazu, besonders wenn es vorher eine Schürze voll Rettigsbirnen giebt.«
Es war grad' die richtige Zeit zu dem Entschlusse gewesen, denn eben schob sich die dicke Figur Reichmanns vorsichtig durch die geöffnete Hinterthür. Als der Particulier nichts von den gefürchteten Thieren bemerkte, athmete er erleichtert auf und schlich, um die Tochter wo möglich zu belauschen, über den Hof hinweg sich leise in den Garten. So geräuschlos wie möglich längs des Weißdornzaunes hinschreitend, näherte er sich der Laube mehr und mehr und stand fast nur noch einige Schritte von ihr entfernt, als er ein Geräusch vernahm, welches seine Aufmerksamkeit sofort im höchsten Grade auf sich zog.
Er blieb stehen und lauschte. Der Obstbau war sein Steckenpferd, sein einziges Vergnügen; er kannte fast jedes Blatt auf seinen Bäumen, wußte fast von jeder Frucht den Tag, an welchem sie zur vollständigen Reife gelangen würde, und ganz besonders war ihm da drüben der Rettigsbirnenbaum ans Herz gewachsen, dessen große, grüne und saftigen Früchte von einem solchen Wohlgeschmacke waren, daß man hätte wünschen mögen, als Wurm zeitlebens in einer solchen Birne stecken zu dürfen. Und jetzt raschelte es da oben in den Aesten und Zweigen so verdächtig! Eine Katze konnte das nicht sein; das war jedenfalls ein Mensch, eine Person, die hinaufgeklettert war, um ihn zu bestehlen.
Aber wer war es wohl eigentlich? Der Lehrjunge ganz sicherlich nicht, denn dem war jedenfalls heut die Lust zu neuen Dummheiten vergangen. Wer aber sonst? Reichmann wandte sich von der Laube ab und schlich leise, leise auf den Baum zu. Richtig da oben saß Einer zwischen den Zweigen und schnabulirte in aller Gemüthlichkeit und Seelenruhe von seinen kostbaren Birnen. Er konnte den schwarzen Punkt, welcher gegen den lichteren Himmel ganz deutlich abstach, sehr wohl bemerken, auch vernahm er das pflückende Geräusch, mit welchem der ungeladene Gast sich eine Birne nach der anderen aus den Zweigen langte.
Was war zu thun? Der Kerl mußte gefangen, unbedingt gefangen und bestraft werden, denn so eine Unverschämtheit war doch geradezu unerhört. Wenns dort in der Ecke auf dem alten Holzbirnenbaum gewesen wäre, das hätte noch schleichen mögen; aber sich hier gerad in die schönsten Delikatessen zu setzen und loszukauen, als ob man sich auf acht Wochen satt essen wollte, das war zu toll! Jedenfalls hatte der Spitzbube keinen schlechten Geschmack, aber die ganze Geschichte war nicht nach Reichmanns Geschmack, und so mußte er festgenommen und ausgewischt werden, ja ausgewischt, und zwar ganz gehörig! Aber wie? So ein Mensch ist immer gefährlich, und es ist nicht gerathen, allein mit ihm anzubinden; aber fortgehen und Hülfe holen, das wäre die größte Dummheit gewesen, denn da hätte sich der Dieb ja inzwischen mit aller Gemächlichkeit aus dem Staube machen können. Um Hülfe rufen? Ja, das wäre wohl das Beste gewesen, aber – wer kann denn mit so einer schiefen und angeschwollenen Physiognomie ordentlich schreien!
Er legte die Hand an die schmerzende Backe, zog mit riesenhafter Anstrengung die Lippen auseinander und:
»Heda, gu–gu–guter Freund,« klang es in eigenthümlich überschnappenden Tönen zwischen den Zähnen hervor, »das schme–me–meckt wohl gut?«
Eine Birne fiel ihm als Antwort auf den Kopf.
»Tausendsa–sa–sapperlot, so passe doch auf, wo Du hi–hi–hinwirfst! Wer bi–bi–bist Du denn eigentlich?«
Eine zweite Birne, jetzt besser gezielt, quetschte sich auf seiner Nase breit und fiel dann vollends zur Erde.
»I Du Hallu–lu–lunke Du!« schrie Reichmann, was man jedoch kaum drei Schritte weit zu hören vermochte, und fuhr sich mit beiden Händen an den maltraitirten Riecher. »Willst Du wohl die Bi–Bi–Birnen hängen lassen und gleich heru–ru–runter kommen!«
Ein dritter Wurf traf ihn, diesmal allerdings auf die zum Schutze vorgehaltenen Finger.
»Au! Wart nur, Bu–Bu–Bursche, Dich will ich schon kriegen! Na, wirds bald, oder soll ich hina–na–naufkommen?«
Statt aller Antwort schüttelte der droben Sitzende den Wipfel des Baumes mit solcher Kraft, daß ein förmlicher Birnenregen entstand und der Particulier sich am ganzen Körper bombardirt fühlte. Das war ihm denn doch zu arg. Freiwillig kam der Dieb ganz gewiß nicht herunter; er mußte herab geholt werden, und da das Herbeischaffen einer Leiter nicht rathsam war, so faßte Reichmann den kühnen Entschluß, hinaufzuklettern, ehe er durch ein zweites Schütteln eine neue Beschädigung an Leib und Gut erlitt. Er umspannte also den schlanken Stamm des Baumes mit beiden Armen und zog die Beine in die Höhe, um sich empor zu schieben.
Zwar hatte er in seinen jungen Jahren manchen Baum erstiegen und eine nicht gewöhnliche Geschicklichkeit im Klettern gehabt, aber damals war er ein schlanker Junge gewesen, und jetzt – jetzt war ihm der Bauch ganz außerordentlich im Wege, und den konnte er doch nicht einstweilen unten liegen lassen! Und dazu das Asthma, das liebe, dumme Asthma, das ihn um das ganze Bischen Athem brachte! Ein Glück wars nur, daß dritthalbe Elle über dem Boden sich ein Aststrumpf sich befand, auf dem man sich ein Wenig ausruhen konnte!
Wie ein vom Selbstbewußtsein aufgequollener Laubfrosch, so kroch der Particulier Zoll für Zoll in die Höhe und nahm endlich keuchend auf dem Stumpfe festen Halt. Die Backe war vergessen, auch an die mißhandelte Nase dachte er jetzt nicht; Luft, Luft, Luft! das war's, was er brauchte, und nach zehn Minuten hatte sich endlich seine Lunge so weit erholt, daß der Puls nicht mehr furios, sondern in einem lebhaften Allegro klopfte. Während dieser ganzen Zeit hatte der Birnengast ruhig fortschnabulirt. Der Kerl mußte einen wahren Wolfshunger besitzen und ganz bedeutende Mengen Obst verschlungen haben.
Dieser Gedanke brachte den durch die Anstrengung etwas abgekühlten Zorn Reichmanns in neues Lodern, doch wollte er es noch einmal auf dem Wege der Parlamentation versuchen:[824]
»Nun, wie stehts! Wi–wi–willst Du kommen?«
Wie vorher, war eine Birne die Antwort; ihr folgten mehrere, eine immer schnell nach der andern, und dabei zeigte der Schütze eine solche Fertigkeit im Werfen, daß keine den Punkt verfehlte, den sie treffen sollte. Das war ja eine vollständig lebensgefährliche Lage! Wuthentbrannt umarmte Reichmann den Stamm von Neuem und schob sich mit einem Eifer vorwärts, als müsse er heut Abend noch den Mond erreichen.
Jetzt war für Franziscus Bonifazius Schmerl der Augenblick des Handelns gekommen. Er stieg bis auf den untersten Ast herab, nahm rittlings auf demselben Platz, schwang das Bein herum, umfaßte mit Händen und Füßen den Stamm, fuhr an demselben, statt langsam zu klettern, mit rapider Geschwindigkeit hernieder und schlug in Folge dessen mit demjenigen Theile seines Körpers, mit welchem er am Nachmittage in dem Blechtopfe gesessen hatte, dergestalt auf den Kopf des emporkrächzenden Particuliers, daß diesem Hören und Sehen verging und beide mit lautem Krachen selbander zur Erde fuhren. Reichmann schlug einen Purzelbaum rücklings über seinen eigenen Bauch hinweg; Franziscus Bonifazius Schmerl machte einen Riesenschwung zwischen die Beine Reichmanns hindurch, wobei die Perücke des Letzteren in seine Hände gerieth; der Dicke, nur auf den Fang des Spitzbuben bedacht, griff mitten in der künstlerischen Um- und Durcheinanderwälzung mit beiden Armen nach dem Inculpaten, erwischte aber nur seine eigenen falschen Haare, da der gewandte Lehrjunge sich wie ein Aal den zehn vigilirenden Fingern entwandt und augenblicklich im Dunkel der Nacht verschwunden war.
Mit Mühe erhob sich Reichmann. Die Knochen und Muskeln seines wohlgepflegten Leichnams waren ihm vor Erstaunen über die ungewohnte Turnerei, vollständig aus Rand und Band gerathen und nur noch unter der größten Anstrengung und unter den ausgesuchtesten Gesichtsverzerrungen war es ihm möglich, seinem Rücken die ursprüngliche gerade Richtung wiederzugeben. In Ermangelung einer medizinisch heilsameren Einreibung frottirte er sich die gequetschten, verbogenen und geschundenen Glieder mit der glücklich eroberten Perücke, was er erst dann bemerkte, als er sich damit an die blauangelaufene Nase fuhr.
»Was Tausendsa–sa–sapperlot, da habe ich ja dem Kerl seine Perü–rü–rücke erwischt! Wart, Bu–Bu–Bursche, jetzt bist Du geli–li–fert! Die trage ich auf die Po–Po–Polizei, und dann –––«
Vor Freuden über den Fang hätte er fast einen Luftsprung gemacht, zog aber mit einem stöhnenden »Au!« das Bein wieder zurück, denn wurde eine solche Extravaganz ihm schon im gesunden Zustande schwierig, so war sie jetzt vollends gar eine Unmöglichkeit. Er kam sich vor wie der arme Lazarus im Evangelium und humpelte, nach allen Tonleitern lamentirend, im Dreizehnachteltakte durch den Garten und Hof in seine Wohnung zurück.
Dort empfing ihn seine Frau mit erwartungsvollem Blicke.
»Nun, hast Du sie gesehen?«
»Nein, aber erwi–wi–wischt habe ich ihn,« antwortete er, indem er sich vorn und hinten zugleich kratzte.
»Erwischt hast Du ihn? Also war er doch bei dem Mädchen?«
»Nein, aber auf dem Rettigsbi–bi–birnenbaum hat er gesessen.«
»Du bist nicht klug! Der Passelmüller?«
»Der? Nein, der nicht, aber der Spi–pi–pitzbube.«
»Höre 'mal, ich glaube, bei Dir fehlts im Oberstübchen!«
»Ja, we–we–wenns nur das wäre! Aber bei mir liegts in allen Gliedern; man ist die Klet–te–terei nicht mehr gewohnt!«
»Geklettert bist Du?«
»Ja und wie! Der große Li–li–liegel; welcher Apotheker in Braunau war und die schö–schö–schönen Aufsätze in die Frauendorfer Blätter geschrie–rie–rieben hat, kletterte auch so – –«
»Laß um Gotteswillen Deinen großen Liegel bei Seite und sage, warum Du hast klettern müssen!«
Unter mancherlei Gesichtsverzerrungen und Gliederverdrehungen kam er dieser schwierigen Aufforderung nach und trat am Schlusse seines Berichtes aus dem Schatten, welchen der Lampenschirm warf, in das Licht, um die Siegesbeute vorzuzeigen.
»Das ist sie, die Pe–Pe–Perücke!«
»Da hast Du die Seinige, und er hat wohl die Deinige?« fragte sie, die jetzt erst bemerkte, daß der Schädel ihres Mannes vollständig nackt war.
»Meine? Die mu–mu–muß doch – – –«
Er fuhr sich an den Kopf und riß, als er dessen spiegelglatten Zustand bemerkte, trotz der Geschwulst den Mund vor Schreck so weit auf, daß man geradewegs bis hinunter in den Magen sehen konnte.
»Meine A–A–Atzel ist weg! Mi–Mi–Milchen, die habe ich im Ga–Ga–Garten verloren!«
Er wollte im Sturmschritte davoneilen, um nach dem verlorenem Kleinode zu suchen; sie aber hielt ihn zurück.
»Zeige erst einmal diese her!«
Sie besah die fremde Perücke näher und brach dann in ein schallendes Gelächter aus.
»Wem gehört das Dings da, he?«
»Dem Spi–pi–pitzbuben!«
»Dann bist Du der Spitzbube selbst. Das ist ja Deine eigene Borstenhaube!«
»Meine – eigene –?« Er griff zu, beguckte sich das zerzauste Surrogat von allen Seiten, stülpte es auf den Kopf und meinte kleinlaut:
»Aber wo ist denn dem Spi–pi–pitzbuben seine? Nun hat der doch keine!«
»O Du Dummkopf von einem Manne! Der hat gar keine gehabt!«
»Aber wie wäre dann meine A–A–Atzel auf seinen Ko–Ko–Kopf gekommen?«
»Frage ihn selbst! Bei Dir und Deinem großen Liegel ist Alles möglich!«
Der Kopf brummte ihm vor Verwunderung, aber er konnte den Zusammenhang unmöglich begreifen.
»Das geht nicht mit re–re–rechten Dingen zu,« meinte er endlich vollständig rathlos; »ich will in die Ka–Ka–Kammer gehen und meine Ri–Ri–Rippen mit Opode–de–deldoc einreiben!«
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