II.

Es war am Spätnachmittage und fast dunkel, als Ferdinand erwachte. Er fühlte sich in Schweiß gebadet; ein fürchterlicher Traum hatte ihn auf dem Lager hin und her geworfen und die Angsttropfen aus allen seinen Poren gepreßt. Er konnte sich der Einzelheiten desselben nicht mehr erinnern; er wußte nur, daß er von einem Ungeheuer bedroht worden war, welches in dem Augenblicke, als er sich auf dasselbe stürzen wollte, die Gestalt und Gesichtszüge seines Vaters angenommen hatte.

Er war aus Sehnsucht nach der Heimath die ganze Nacht gegangen und hatte gleich nach dem Frühstücke, welches ihm von Hans aufgetragen worden war, für kurze Zeit lang ruhen wollen, war aber dabei einem Schlafe in die Arme gesunken, der ihn erst jetzt wieder frei gab. Der böse Traum war jedenfalls eine ganz natürliche Folge von dem ebenso sonderbaren wie auffälligen Empfange, den der heimgekehrte Sohn bei dem Vater gefunden hatte, aber der Volksmund sagt, daß die Seele zuweilen im Traume Zeit und Raum zu überwinden vermöge, und Ferdinand stand diesem Glauben nicht so fern, daß er den Eindruck der wirren und wüsten Vorstellungen im Momente des Erwachens sofort hätte von sich werfen können.

Er trat an das Fenster und sah in die tiefe Dämmerung hinaus. Das Grummet lag noch in denselben Schwaden vor dem Hause, in denen er es am Vormittage hatte liegen sehen. Warum war es nicht gewendet worden? Unter der Einfahrt stand der mit Getreide beladene Wagen, den er gleich bei der Ankunft bemerkt hatte. Warum war keiner der Säcke angerührt worden; warum ging die Mühle nicht? Er öffnete das Fenster und horchte einige Minuten lang hinab; dann schritt er zur Thür, um nach der Ursache der tiefen Stille, welche im Hause herrschte, zu forschen. Sie war von außen verschlossen, und ein Druck gegen sie bewies, daß man sogar die Vorsicht gebraucht hatte, das Oeffnen durch angestemmte Stützen zu erschweren.

Er fuhr bestürzt zurück. Welchen Grund hatte diese unerwartete und seltsame Gefangenhaltung? Stand sie vielleicht in Verbindung mit der heutigen Anwesenheit des Niedermüllers, bei dessen Kommen es so ängstlich geklungen hatte: »Geh' fort, sonst ist's zu spät!«? Er kannte besser als Andere den Vater und hatte sich wohl gedacht, daß dieser irgend etwas im Werke habe, bei dessen Ausführung er von dem Sohne verhindert zu werden befürchte. Konnte dies etwas Gutes sein? Es ist ein großes, vielleicht das größte Unglück für ein Kind, andere Rechtsbegriffe als sein Erzeuger zu besitzen. Ferdinand fühlte dies mehr, als er es aus eigener Erfahrung erkannt hatte; der Obermüller war stets ein schweigsamer und zurückhaltender Vater gewesen, hatte es aber auch nie verstanden oder gewollt, sich das kindliche Vertrauen, welches sich so gern und willig in die Anschauungen der Eltern einlebt, zu erwerben. Er hatte sich trotz seines hilfsbedürftigen Zustandes die Rückkehr des Sohnes bisher streng verbeten und war heut' über dieselbe sichtlich erschrocken. Dieses unerklärliche Verhalten mußte eine geheimgehaltene Ursache haben. Der junge Mann gab sich nicht die Mühe, über sie nachzudenken; der Befehl, sofort und wenigstens für einige Tage die Heimath wieder zu verlassen, ließ ihn ahnen, daß es für ihn leicht sei, sie zu errathen oder zu erfahren, sobald er diesem Verlangen nicht Folge leiste und zugleich sich jetzt der verwunderlichen Freiheitsberaubung entziehe. Er überlegte daher, auf welche Art und Weise er aus der Stube gelangen könne. Er wollte es eben so heimlich thun, wie man ihn eingeschlossen hatte.

Aus diesem Grunde sah er von dem Hinausstoßen der Thür ab, welches ihm trotz der Stützen wohl gelungen wäre, da sie alt und morsch genug war, um von einem kräftigen Fußtritte zertrümmert zu werden. Das Fenster war so klein, daß ein Mann von der Statur Ferdinand's unmöglich durch dasselbe steigen konnte. Die Decke – ja, sie bot am besten und sichersten den Weg, welchen er suchte. Sie war nur geschalt und bildete zugleich den Fußboden des über dem Stübchen befindlichen Theiles des Dachraumes. Er stieg auf den Tisch, stemmte sich gegen die einfach auf die Balken genagelten Breter; sie gaben nach, – ein kurzes Knirschen und Prasseln, und die Oeffnung, welche er brauchte, war vorhanden. Er schwang sich durch dieselbe hinauf und brachte die losgesprengten Theile leicht wieder in ihre vorige Lage. Wer jetzt in die Stube trat, mußte sich wohl verwundert fragen, wie der Gefangene verschwunden sei. Dieser stieg durch den geöffneten Schieber auf das niedrige Schindeldach, dessen untere Kante, da das Haus mit seiner hinteren Seite in den Teichdamm hinein gebaut war, sich nur wenige Fuß hoch über den Letzteren hinzog. Ein leichter Sprung, und er stand zwischen den Sträuchern, welche den Damm bedeckten. Ueberrascht blieb er auf der Stelle halten; es hatte geklungen, als springe er auf die Decke eines hohlen Raumes, und ein kräftiges Stampfen mit dem Fuße überzeugte ihn, daß er sich nicht geirrt habe.

Es war grad' noch hell genug, um den Boden untersuchen zu können. Er bestand aus kurzgeschorenem Rasen und zeigte dem tief gesenkten, aufmerksamen Auge ein sonst kaum bemerkbares, wie mit dem Messer eingeschnittenes Viereck, aus dessen Mitte einige verdorrte Wurzeln hervorstanden. Ferdinand erfaßte diese Letzteren und zog an ihnen erstaunt ein hölzernes Quadrat empor, welches mit grastragender Erde bedeckt war. An der Stelle, auf welcher es so sorgfältig in den Boden eingefügt gewesen war, zeigte sich eine Oeffnung, groß genug, einen Mann hindurch zu lassen, und bei näherer Untersuchung fühlte er die oberen Sprossen einer Leiter, welche senkrecht in die Tiefe führte.

Was hatte diese geheimnißvolle Einrichtung, deren Dasein ihm gänzlich unbekannt war, zu bedeuten? Er beschloß, unverzüglich nachzuforschen.

Er stieg zunächst so weit hinab, daß er über sich den Deckel bequem wieder in seine vorige Lage zu bringen vermochte, und[606] folgte dann der Leiter, bis er festen Boden unter sich fühlte. Er befand sich in einer engen, niedrigen Zelle und tastete an einen Tisch, auf welchem Lampe und Zunderflasche standen. Als die Erstere brannte, bemerkte er, daß der Raum vier Seiten hatte, von denen drei nur leicht verschalt waren, während die vierte aus einer Breterwand gebildet wurde, in welcher ganz unten am Boden eine niedrige, aber breite Thür angebracht war, deren Angeln einfach aus aufgenagelten Lederstücken bestanden. Sie konnte nur in kriechender Stellung passirt werden.

Nachdem er sich durch längeres Horchen überzeugt hatte, daß jenseits derselben sich Niemand befinde, zog er sie auf. Vor ihm stand das Himmelbett, in welchem sein Vater zu schlafen pflegte, ehe er von der Krankheit auch für die Nacht in den Stuhl gebannt wurde. Er schob sie wieder zurück und athmete tief und seufzend auf. Dieser verborgene Raum war früher nicht dagewesen, das wußte er ganz bestimmt. Niemand anders konnte ihn angebracht haben, als der Vater; aber zu welchem Zwecke? Und wie war es dem gelähmten Manne möglich geworden, diese beschwerliche Arbeit, bei welcher er sicherlich jeden Zeugen vermieden und jede Spur zu verwischen gehabt hatte, auszuführen? Es wurde ihm plötzlich bang' zu Muthe, so bang', als ob ihn das Ungeheuer wieder bedrohe, welches er im Traume gesehen hatte.

Er trat zum Tische; der Kasten desselben war verschlossen. Sich niederbeugend, versuchte er, die Finger zwischen dem Rande desselben und der Tischplatte hindurch zu bringen. Es gelang; er fühlte eine Anzahl aufeinander liegender Hefte und mehrere kleine Päckchen, welche sorgfältig in Papier eingeschlagen und dann versiegelt waren. Mit einiger Mühe gelang es ihm, Alles aus der engen Spalte hervorzuziehen. Der Siegellack war nicht mit dem Petschafte, sondern nur mit dem Finger angedrückt worden; es war also bei der nöthigen Vorsicht möglich, eins der Packete zu öffnen und wieder zu verschließen, ohne eine auffällige Spur davon zurück zu lassen. Ferdinand that es; eine beträchtliche Anzahl von Cassenscheinen blickte ihm entgegen. Hatten die anderen Packete den gleichen Inhalt, so müßte der Gewinn, den der Vater gemacht hatte, ein nicht unbedeutender sein.

Die Hefte waren Kalender, welche nach der Folge der Jahreszahl aufeinander gelegen hatten. Er durchblätterte den ältesten derselben. Auf den unbedruckten Rändern waren verschiedene ökonomische Bemerkungen angebracht, zwischen denen sich zuweilen eine auf einen anderen Gegenstand bezog, der von Zeit zu Zeit wiederkehrte und die Aufmerksamkeit des jungen Mannes außerordentlich zu fesseln begann. Die kurzen Worte, welche von der ungeübten Hand des Obermüllers neben die roth angestrichenen Tage gesetzt waren, betrafen meist die Niedermühle und bildeten, der Zeit nach aneinander gereiht, den Abriß einer Geschichte von ihr, für welchen Ferdinand allerdings das klare Verständniß entgehen mußte. Er durchschlug einen der Kalender nach dem andern. Was hatten die vielen Zahlen und der sonderbare Name »Marder« zu bedeuten, welcher stets bei ihnen stand?

Er mußte unwillkürlich an die Zeit denken, in welcher Horn in die Gegend gekommen war, um die Niedermühle zu bauen. Damals hatte Klaus, als er den Proceß verloren sah, öfters ingrimmig geäußert: »Den Menschen, den mach' ich todt um jeden Preis, und sollt' ich selber mit zu Grunde geh'n!« Er brachte die Sachen sorgfältig wieder an ihren vorigen Platz und stand schon im Begriffe, wieder empor zu steigen, als er einige Kleidungsstücke bemerkte, welche hinter der Leiter an der Wand hingen. Er besah sie. Sie gehörten dem Vater; sie waren schon sehr alt, aber der Schmutz, welcher an ihnen hing und mit welchem besonders die Stiefel bedeckt waren, schien noch nicht vollständig vertrocknet zu sein. Sie waren erst vor Kurzem, vielleicht am vorigen Abende, in Gebrauch gewesen.

Er blies die Lampe aus und verließ unter unbeschreiblichen Gefühlen den räthselhaften Ort. Auf dem Damme angekommen, stieg er von demselben hernieder und schritt zur Hausthür. Sie war von außen verschlossen, und Niemand schien daheim zu sein. Konnte der Vater das Haus verlassen? In tiefen Gedanken wendete er sich dem Dorfwege zu. Bei der Niedermühle angekommen, sah er die Gebäude derselben dunkel und lichtleer vor sich liegen. Der Graben war zugestellt; das reiche Wasser rauschte arbeitslos über das Wehr hinab; kein Rad ging, kein Stampfkolben ließ sich hören, und auch die Säge im Schneidehause ruhte. Warum wurde heut', an einem Werktage, gefeiert?

Ein einziges, im Parterre gelegenes Fenster war erleuchtet. Er begab sich in den Flur und klopfte; auf den von innen erschallenden Ruf öffnete er und trat in das Zimmer.

Das junge Mädchen, welches arbeitend am Tische saß, sprang bei seinem Anblicke vom Stuhle empor und eilte mit freudeglänzendem Gesichte auf ihn zu.

»Vater, Mutter, der Ferdinand ist's! Kennt Ihr ihn denn nicht?«

»Halt!« ertönte es da; der Vater eilte aus dem Dunkel der Ecke herbei und stellte sich zwischen die beiden jungen Leute. »Du brauchst mir nicht zu sagen, wer es ist; ich seh' es schon von ganz allein. Es ist der neue Niedermüller, der von der Wanderschaft zurückkehrt, um uns hinweg zu jagen. Scheer' Dich hinaus, Gichtmüllerssohn! Die Mühl' ist Euer, aber diese Stub' gehört noch mir, und so lang' ich noch darin zu wohnen hab', darf mir das Klausvolk mit keinem Schritt herein!«

»Ich bitt' Euch, Niedermüller,« meinte Ferdinand erschrocken, »was hab' ich Euch denn zu Leid gethan, daß Ihr solche Red' gegen mich führt? Was ist's mit der Mühl' und mit dem neuen Müller? Ich versteh' Euch nicht!«

»So hat Dein Vater, der alte Judas Ischarioth, es Dir noch nicht gesagt und Dir auch nichts davon geschrieben? Da muß ich Dir's schon mittheilen, damit Du die Schadenfreud' ein wenig eher hast! Er hat heut' die Niedermühl' erstanden und von seinem Lotteriegeld baar bezahlt. Du bist nun ein großer Mann und brauchst jetzt den Horn und seine Leut' gar nimmer anzuschau'n!«

»Die Niedermühl' erstanden – und baar bezahlt – – der Vater?« fragte der Jüngling fast erschreckt. »Das ist ja gar nicht möglich! Wie ist es denn gekommen, daß Ihr sie versteigert habt?«

»Weil ich von dem ›Geldmarder‹ ruinirt worden bin. Doch geh' hinaus! Dein Alter hat mich heut' aus seiner Stub' gejagt, so brauch' ich nun auch Dich nicht hier zu dulden!«

»Nein, ich geh' nicht eher von dannen, als bis ich Alles weiß. Ihr habt ja früher immer viel auf mich gehalten; ich begreif' von Allem nichts und bitt' Euch sehr, mir wenigstens nicht eher bös' zu sein, als bis Ihr seht, daß ich Euch übel will!«

»Das klingt gar schön und vernünftig, und es ist auch wahr, daß ich Dir und Deinem gichtbrüchigen Verräther immer wohl gewogen war, aber desto schlechter ist ja das von ihm, was er an mir gethan hat, viel schlechter und schlimmer, als wenn er mich gleich lieber ganz erschlagen hätt'!«

»Dann seid so gut und sagt mir's doch. Vielleicht vermag ich's wieder gut zu machen!«

»Nein, diese Schart' ist nimmer auszuwetzen! Du hast mich gekannt und weißt, was ich früher für ein starker und rüstiger Mann gewesen bin; ich war so gesund und kraftvoll, daß ich hätt' mit Kirchthürmen hausiren können. Nun schau' mich jetzt einmal an! Das Haar ist mir schneeweiß geworden; das Gesicht hat Falt' an Falt' und auch die Knochensicht bekommen; ich kann nicht grad' mehr steh'n, und was ich angreif', das möcht' ich vor Schwäch' und Unvermögen gleich wieder aus der Hand fortthun. Das hab' ich dem ›Marder‹ zu verdanken, der mich langsam abgekerkert hat, bis die Subhaste über mich hereingebrochen ist.«

»Dem ›Marder‹? Wer ist das?« fragte Ferdinand, das Wort jetzt zum zweiten Male hörend. Er dachte an die Kalender und an die Zahlen, bei denen es gestanden hatte.

»Auch das weißt Du nicht? Es ist ein Spitzbub', der nun seit Jahren hier und in der Gegend einbricht, ohne daß man weiß, wie er herein gekommen ist. Er war auch einige Mal in der Obermühl', am meisten und öftersten aber hier bei mir. Er nimmt nur Geld, nichts Anderes als Geld; er weiß ganz genau, wann man es bekommt und wo es liegt, selbst wenn man es im tiefsten Grund verbirgt. Wenn ich welches bekommen hab', so bin ich damit voll Angst im Haus herumgelaufen und hab' es jeden Tag wo anders hingesteckt; aber gefunden und geholt hat er's. So ist mir's viele, viele Mal gegangen; ich bin ärmer, immer ärmer geworden, und die Sorg' und Unruh' hat mich[607] abgezehrt, wie der Schwamm dem Baum ins Leben frißt. Und als hernach endlich die Niedermühl' aufgeschrieben wurde mit Allem, was darin stand und hing, hat mir Dein Vater Hilf' versprochen und mich abgehalten, sie bei einem Anderen zu suchen. Ich hab' ihm auch vertraut und gewartet bis zum letzten Augenblick. Aber als ich dann heut' gekommen bin, um mir das Geld zu holen, ist er voll Freud' und Lachen gewesen, daß ich zu Schanden bin, hat mich den Dümmsten von den Dummen geheißen und drauf am Nachmittag das höchste Gebot gethan, so daß ihm meine liebe, schöne Mühl' mußt' zugeschlagen werden. Geh' nach dem Dorf' ins Wirthshaus, wenn Du ihn finden willst. Er ist mit dem Hans dorthin gefahren und giebt den Freilanz und das Einstandsbier. Da werden sie nun jubeln und springen, und ich mag sehen, wo mir ein Aufenthalt bleibt!«

Es war Ferdinand unmöglich, ein Wort zu dem Gehörten zu sagen. Er lehnte mit erbleichtem Angesichte an der Thür und starrte den Müller an, als habe er von ihm ein Ungeheuerliches, eine Schreckensbotschaft vernommen, unter der er die Antwort im Munde ersterben fühle. Horn war auf einen Sitz gesunken und hatte das Gesicht in die Hände verborgen. Nach kurzem Schweigen aber sprang er wieder empor und trat auf den jungen Mann zu.

»Jetzt weißt Du, was Du wissen wolltest. Ich hätt' gar nicht so viel zu Dir gesprochen, aber Du warst früher gut und brav und wirst auch jetzt noch ein Gefühl im Herzen haben, obgleich der Apfel nicht gar weit vom Stamme zu fallen pflegt. Dein Vater sagte heut', ich würd' als Bettler aus dem Haus getrieben und könnt' am Armuthsbach die neue Elendsmühl' errichten. Er mag sich nur nicht verrechnen. Ich hab' von dem Zahlgelde doch noch so viel herausbekommen, daß ich nicht von Thür zu Thür zu wandern brauch', und er ist doch auch nicht vor dem End' glücklich zu preisen. Wer seinen besten Freund verräth und betrügt und gar noch den Glauben abschwören will, der soll mit dem Hohn nicht billig sein. Der liebe Gott hat auch seine Mühlen, und die mahlen zwar oft langsam, aber trefflich klein!«

»Den Glauben abschwören, sagt Ihr! Wie meint Ihr das?« klang die Frage zwischen den zuckenden Lippen hervor.

»Er will katholisch werden und nach Mariahilf wallfahrten, um dort Heilung zu finden und sich als Mirakel anstaunen zu lassen. Das ist die Krone, die dem heiligen Klaus noch fehlt. Geh' fort, geh' fort! Er ist ein Judas, und Du bist sein Sohn; wir sind geschied'ne Leut'. Spiel' den reichen Niedermüller, so lang' Du willst und so lang' es geht; ich kann auf meine Elendsmühl' stolzer sein, als Ihr auf Euer Lotterieheimwesen!« Er öffnete die Thür und deutete hinaus. »Verlaß die Stub' und kehr' mir nimmer wieder!«

»Vater,« klang die bittende Stimme des Mädchens, »thu' ihm das nicht zu Leid; er ist ja unschuldig an dem, was uns betroffen hat!«

Ferdinand erfaßte ihre beiden Hände mit den zitternden seinen.

»Bertha, ich dank' Dir schön für die Lieb' und Güt', mit welcher Du gesprochen hast; aber der Vater hat Recht, wenn Alles wahr ist, was er sagt. Ob wir uns wiederseh'n, das weiß ich nicht; aber wenn ich die Fremd' wieder aufsuchen muß, so vergiß den Ferdinand nicht, der an Dich gedacht hat, so lang' er fort gewesen ist, und der ein Leid mitnimmt, für das es keine Heilung giebt!«

Seine Augen glänzten feucht, und seine Stimme bebte. Er sah aus wie Einer, der die tödtende Kugel erwartet, und als er sich jetzt an den Niedermüller wendete, wollten ihm die Worte nur langsam und wie heiser von den Lippen gehen.

»Lebt wohl; ich will Euch gehorchen und Eure Stub' verlassen! Kehr' ich wieder, so bleibt Ihr Niedermüller und sollt erkennen, daß ich besser bin, als Ihr wohl meint. Kehr' ich aber nicht zurück, dann vergebt mir das Weh, das Euch ohne mein Wissen und ohne meine Schuld bereitet worden ist. Ich bin ärmer noch, als Ihr, und der Armuthsbach, an dem ich steh', ist tiefer noch und schlimmer, als derjenige, an dem Ihr Eure Elendsmühl' errichten sollt. Gott geb', daß ich nicht darin versink'!«

Er ging. Es war mittlerweile dunkler Abend geworden. Am Wege, der zum Dorfe führte, rauschten hüben und drüben die Tannen; das Strauchwerk flüsterte so lind und heimlich, und der Bach murmelte auch jetzt sein altes Lied. Ferdinand vernahm von diesen »Stimmen und Tönen«, denen er heute Morgen so glücklich gelauscht hatte, nichts; er schritt unsicher und wankend auf dem so wohlbekannten Wege dahin; es war in ihm ebenso finster, wie in der Natur um ihn her, und dieses innere Dunkel wurde durch die Lichter, welche das bald erscheinende Dorf ihm entgegenwarf, nicht aufgehellt. Wie ganz anders sah es doch jetzt in ihm aus, als vor den wenigen Stunden, da er gemeint hatte: »Daheim ist's doch am schönsten; ich komme nie wieder fort!«[608]

Quelle:
Der Gichtmüller. Originalerzählung aus dem Erzgebirge von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 19–20. Dresden (1879). Nr. 38, S. 606-609.
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