III.

»Der Gichtmüller hat die Niedermühl' ersubhastirt, und die Nachbarn sollen nach dem Gasthof kommen. Er giebt dort den Freitanz und das Einstandsbier!«

So lautete die Kunde, welche der Dorfwächter von Haus zu Haus getragen hatte, und Jeder, der nicht durch eine Nothwendigkeit zurückgehalten wurde, war ihr gern und willig gefolgt. Es gab so vielerlei Gründe, sich über das Ereigniß des Tages auszusprechen, und als man gar sah, daß der Obermüller auf seinem Räderstuhle durch das Dorf gerollt und nach dem Gasthause geschoben wurde, wollte es Niemand versäumen, den Mann zu sehen, dessen Wohlhabenheit erst jetzt zu imponiren begann und dessen Person durch die Unnahbarkeit, in welche er in den letzten Jahren gehüllt gewesen war, ein gewisses romantisches Interesse erhalten hatte. Die Achtung, welche man seinem Sohne zollte, der es bis zum Geschäftsführer einer weit entfernten amerikanischen Dampf- und Wassermühle gebracht hatte, floß unwillkürlich auch auf ihn mit über, und Viele, die es mit ihren Rechtsansichten nicht so genau nahmen, erkannten gern die Schlauheit an, mit welcher von ihm der Lotteriegewinn zu demselben Zwecke aufgehoben worden war, zu welchem er Ferdinand in die Fremde ge schickt hatte, um etwas Tüchtiges zu lernen.

Man hatte seinen Stuhl hinauf in den Saal getragen, damit er sich überzeugen könne, welch einen fleißigen Gebrauch man von seiner reichlichen Spendung mache. Hier hielt er schon mehrere Stunden lang inmitten der Tanzenden und von einem Kreise lustiger Trinker stets umschlossen. Die Beine staken auch jetzt in einem dicken Wattüberzuge, und der Kopf mit dem leidenden und eingefallenen Gesichte lag weit hintenüber in dem verbrauchten Polster der Lehne. Obgleich so matt und angegriffen, daß er es nur bei einem ganz besonderen Ausbruche der Laune zu einem kurzen, schmerzhaft verzogenen Lächeln brachte, mußte er doch hier und da Rede und Antwort stehen; es ging nicht anders, und als er sich nach vielem Zureden sogar herbeiließ, aus einem dargebotenen Glase zu nippen, schien er Alles gethan zu haben, was in seinen arg geschädigten Kräften stand. Es gab Keinen, der ihm eine besonders große Freundschaft gezollt hatte, aber sein außerordentliches Leiden hatte einen versöhnenden Charakter für Vieles, was sonst ganz sicher zur Geltung gekommen wäre.

Keiner der Anwesenden bemerkte, daß in dem unerleuchteten Nebenzimmer, welches durch ein Buffetfenster mit dem Saale in Verbindung stand, Einer weilte, der mit bleichem Angesichte das bunte Treiben beobachtete und den forschenden Blick ganz besonders auf den Müller geheftet hielt. Dieser Letztere konnte endlich den ihn umwogenden Lärm unmöglich mehr ertragen; er hatte seiner Pflicht als Geschenkwirth genug gethan und gab dem bereitstehenden Hans einen Wink, ihn fortzubringen. Er wurde unter Dankesbezeigungen in seinem Sessel hinunter auf die Straße getragen und von dem treuen Knechte dann trotz des beschwerlichen Weges glücklich nach Hause gebracht.

»Geh' hinauf, Hans,« gebot er dort, »und schau nach dem Ferdinand! Er darf nun herunterkommen!«

Der Abgesandte kehrte nach kurzer Zeit zurück und meldete, daß der junge Herr noch wie zuvor im tiefen Schlafe liege. Der gute Alte konnte die Einsperrung gar nicht begreifen, hatte sie aber doch pflichtschuldigst ausgeführt, weil er gewohnt war, jeden Befehl des Müllers ohne Widerrede zu vollziehen.

»Das ist gut; so hat er also gar nicht gemerkt, daß wir fortgewesen sind und ihn festgehalten haben. Erzähl' ihm nichts davon und geh' jetzt schlafen!«

Hans rollte den Stuhl hinaus in die Kammer, schob seinem Meister behutsam ein Kissen unter den Kopf, sah nach, ob Alles sich in der gehörigen Ordnung befinde, und begab sich dann zur Ruhe.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so erhob sich der Müller vom Stuhle, streifte die Watte von den Beinen[622] und reckte und dehnte die Glieder, als fühle er sich um einen beträchtlichen Theil seiner Größe zusammengeschrumpft.

»Endlich ist's für heut' und nun bald auch für immer überstanden! Ich hab' nun die längste Zeit Komödie gespielt, und den Schluß, den wird das wunderthätige Muttergottesbild zu Mariahilf zu Weg' bringen. O, über die Dummen, die gar nimmer alle werden! Solche Staatsstreich' wie den fremden Lotteriegewinn und die Schwagerschaft mit dem Horn, durch die ich ihn sicher gemacht hab', bringt doch nur der Obermüller fertig. Und die Gicht mit sammt meinem dicken Bauch ist erst recht ein Meisterstück. Wer nicht laufen kann, der kann auch nicht den Leuten ihr Geld wegholen, und wer nun gar am Leib so geschwollen ist, wie ich, der vermag unmöglich durch ein Fenster zu kriechen!«

Er knöpfte die Kleidung auf und zog das Futter hervor, welches ihm ein so geschwollenes Aussehen ertheilt hatte.

»Jetzt will ich hinaus in meine Räuberhöhl'; der Lebrecht wird bald kommen und mir die verheißene Botschaft bringen! Ich hab' mich heut' im Dorf gezeigt; sie Alle haben gesehen, wie schlimm es mit mir steht, und sind voll Mitleid und Erbarmung gewesen. Wenn morgen früh dem Horn seine Herauszahlung fehlt, so weiß ich ganz gewiß, auf wen der Verdacht unmöglich fallen kann. Er muß als Bettler fort; ich hab's damals geschworen, als ich den Proceß verlor, und darum werd' ich heut' noch einen Gang zu ihm machen. Es ist der letzte, den ich thu', und was so viele Mal gelungen ist, das wird auch dieses letzte Mal von statten gehen!«

Er verriegelte die Thür, welche zur Wohnstube führte, trat dann an das Bett und schob es mit Leichtigkeit bei Seite. Als er den Zugang zu dem Nebenraume aufstieß, drang durch denselben ein heller Lichtschein in die Kammer.

»Bist Du schon da, Lebrecht?« fragte er leise, sich niederbeugend.

»Schon eine ziemliche Weil',« lautete die Antwort. »Ich hab' mir die Lamp' angebrannt, weil mir die Zeit zu lang geworden ist.«

»Schon recht! Ist das Loch oben zu?«

»Ja. Ich werd' es doch nicht offen lassen, damit die Frösch' und Kröten herunterschauen und dann unsere Sach' in die Welt hinein quaken können!«

Der Sprecher war ein kleiner, verwachsener und rothhaariger Bursche, der dem jetzt herbeikriechenden Müller die Hand zum Willkommen bot.

»Ihr habt heut' gute Zeit gehabt, Obermüller; ich aber bin mit Seufzern gespeist und mit Klagen getränkt worden, so daß es mir ganz elend und jämmerlich im Magen ist. Habt Ihr nicht einen guten Trunk bei der Hand, der Einen curiren kann? Bei uns in der Niedermühl' ist's zu End' damit!«

»Erst kommt das Geschäft und dann der Lohn. Wie steht's mit dem Geld?«

»Ich hab' aufgepaßt wie ein Himmelslauscher, der wissen will, wohin die Sternschnupp' fallen wird, und bin endlich auch richtig dahinter gekommen.«

»Nun?«

»Ja, wie steht es denn eigentlich mit dem Papier von wegen der Obermühl'? Wir haben doch so gehandelt, daß ich Euch den Aufpasser mach' und dafür die Obermühl' erhalt', sobald die Niedermühl' Euer geworden ist. Noch gestern bin ich hier gewesen, und Ihr habt gesagt, daß Ihr es mir geben wollt, sobald wir das Geld haben, welches der Niedermüller vielleicht herausbekommt.«

»Das ist Alles richtig, und ich werd' auch Wort halten, denn Du hast Deine Sach' sehr gut gemacht und mir so viel treffliche Nachricht gebracht, daß ich oft geglaubt hab', Du seiest allwissend. Aber jetzt ist das Geld doch noch nicht unser! Ich hab' das Papier ganz fertig geschrieben und werd' es nachher mitbringen. Sobald der Kasten beim Niedermüller leer ist, geb' ich Dir's in die Hand, aber keinen Augenblick eher, das kannst Du nicht von mir verlangen. Und aus Vorsicht sagen wir einstweilen, daß Du die Obermühl' bloß gepachtet hast. Also wo ist das Geld zu finden?«

»In der kleinen Stub', wo der Müller jetzt schläft, da liegt es in dem kleinen Wandschrank, der nicht weit vom Fenster ist. Aber den Schlüssel dazu hat er in der Tasch', und der Laden ist von innen fest verschlossen.«

»Da ist die Sach' nicht leicht für mich! Schläft das Weibsvolk mit in der Stub'?«

»Nein, die sind vorn heraus. Die Müllerin liegt krank auf dem Kanapee, und die Bertha will nicht weg von ihr.«

»So wird sich's doch vielleicht noch machen lassen. Hör', was ich Dir sag'! Du gehst jetzt nach Haus; ich komm' in kurzer Zeit nach und bring' den Dietrich und die Strickleiter mit, auf welcher ich alle Mal in Deine Giebelkammer gelangt bin. Wir müssen den Müller aus seiner Stub' herauslocken. Sobald ich oben bei Dir bin, gehst Du hinunter und sagst, Du hättest Jemanden um das Haus schleichen sehen. Er wird herausgehen, und dann eil' ich schnell hinab, um das Geld zu nehmen. Ich bin bestimmt fertig, ehe er wiederkehrt, und dann treffen wir uns wieder in Deiner Kammer, wo Du das Papier erhältst. Er schaut sicher nicht gleich in den Schrank hinein, und wenn er es auch thut, so wird er zuerst im Haus nach mir suchen, und dann kann ich ja ganz ungestört auf der Leiter davon. Hast Du Alles vernommen?«

»Ja. Es ist der einzige Weg, den es giebt. Aber nehmt Euch nur hübsch in Acht, daß wir zu guter Letzt nicht gar noch ein Unglück erleben! Ihr dürft nicht eher an die Mühl' kommen, als bis ich das Licht ganz nah' an das Fenster setz'. Dann ist die Luft rein, und ich laß die Schnur herab, um die Leiter hinauf zu ziehen. Jetzt will ich geh'n; laßt mich nicht lange warten!«

Als er fort war, kehrte Klaus in die Schlafstube zurück und nahm das Leinen- und Federzeug aus der Bettstelle. Unter dem Strohsacke befand sich ein Doppelboden, welcher alle nothwendigen Diebeswerkzeuge enthielt.

»Heut' brauch' ich bloß die Strickleiter, die Latern' und den Dietrich. Aber halt, den Todtschläger nehm' ich noch mit dazu; ich werd' ihn wohl auch gebrauchen können, denn der Lebrecht, der Dummkopf, darf nicht denken, daß er die Obermühl' bekommt. Er muß den Mund halten und zufrieden sein, wenn Niemand erfährt, daß er mir beigestanden hat. Wenn ich das Geld hab' und er verlangt das Papier, geb' ich ihm Eins auf den Kopf und mach' mich davon!«

Er brachte die angegebenen Gegenstände in die »Räuberhöhle«, wie er den verborgenen Raum genannt hatte, wechselte die Kleidung und stieg nach dem Damme empor. Noch war er damit beschäftigt, den Deckel auf die Oeffnung zu bringen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Im Nu hatte er sich umgedreht und erhob den Schläger; aber ebenso schnell war auch seine Hand gepackt und festgehalten.

»Vater, willst Du Deinen Sohn erschlagen?!«

»Wer – wer ist's? Du bist's? Wie kommst Du hier her und was willst Du da?«

»Den ›Marder‹ will ich zurückhalten, damit er nicht noch größeres Unheil anrichtet, als er bisher gestiftet hat!«

»Den – den ›Marder‹? Du weißt, daß – daß –«

Er konnte vor Bestürzung nicht weiter reden. Daß der eigene Sohn sein Geheimniß entdeckt hatte, war schlimmer, als wenn ein Anderer ihn ergriffen hätte.

»Ich weiß Alles! Ich bin aus meiner Stub' fortgewesen und hier hinabgestiegen, wo ich das Geld gesehen und die Kalender gefunden hab'. Ich kenne nun die Lotterie, in welcher Du gewonnen hast; es ist eine schreckliche, eine fürchterliche, und ich – ich hab' Alles, Alles in ihr verloren. Komm mit hinab in Deinen Fuchsbau, ich hab' mit Dir zu reden!«

»Ich hab' nicht Zeit dazu. Sag's gleich hier!«

»So willst Du wohl eben wieder einen Gichtweg thun? Ich hab' mir's gleich gedacht! Es schlich Jemand so heimlich um die Eck'; ich hab' gemeint, Du wärst's selber, und bin dann gleich herbeigekommen, um nachzuschau'n, ob das Nest leer ist. Also deshalb sollt' ich heut' gleich wieder fort und weil Du wußtest, daß ich nie zugegeben hätt', daß Du den braven Niedermüller aus dem Seinigen treibst. Steig' wieder hinab; ich laß Dich nimmer fort!«

»Meinst Du?« fragte Klaus. »Du bist der Sohn und hast mir nichts zu befehlen!«[623]

»Grad' weil ich der Sohn bin, muß ich darauf achten, daß ich's auch bleiben kann. Vater, ich bitt' Dich gar sehr, bleib' hier und vernimm, was ich Dir sagen muß!«

»Dazu ist morgen Zeit! Da sollst Du Alles hören. Jetzt aber geh' und schlaf'. Ich bin auf gutem Weg und auch bereit, mit Dir zu sprechen, vielleicht schon, wenn ich wiederkehr'!«

»Nein! Ich kann's nicht auf mein Gewissen nehmen, Dir zu gehorchen. Der Weg, den Du gehst, ist kein guter; er führt in ein Elend, das nicht so leicht zu heilen ist, wie die Gicht, welche Du nach Mariahilf tragen willst!«

»Auch das weißt Du? Dich hat der Geier aus der Fremd' herbeigetrieben! Wenn Du gewartet hättest, bis ich Dir schrieb, wär' Alles gut gewesen. Geh' weg, ich kann Dich nicht gebrauchen!«

»Bleib', Vater, bleib'! Noch ist es Zeit, das Vergangene wieder gut zu machen; noch weiß Niemand, wer der ›Marder‹ ist, und wenn Du im Stillen zurück erstattest, was nicht Dir gehört, so giebt's noch Heil und Segen auf der Obermühl'!«

»Zurückerstatten? Schau doch, was Du sagst! Ist's denn wirklich so gewiß, daß ich der ›Marder‹ bin? Wart's ruhig ab, und red' nicht eher, als bis Du es verstehst!«

Er machte sich von der Hand Ferdinand's los und versuchte, an diesem vorüber zu kommen.

»Vater, ich darf Dich nicht fortlassen, ich muß Dich halten. Hör' auf mich, sonst muß ich Gewalt brauchen, und das will ich doch nicht gegen Dich thun. Laß mich doch zu Dir reden, und Du sollst sehen, daß ich nicht zu viel von Dir verlang'!«

»Was willst Du? Vergreifen willst Du Dich an mir? Tritt aus dem Weg, sonst mach' ich mir die Bahn!«

»Ich kann nicht! Ich darf nicht! Ich bitt' Dich von ganzem Herzen, bleib'!«

»Geh' weg!«

»Bleib', Vater!«

»So fahre hinweg, wenn Du's nicht anders willst!«

Mit einem raschen, kräftigen Stoße warf er sich auf den Sohn.

Dieser hatte den Angriff nicht vermuthet, verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in das tiefe Wasser des Teiches.

Klaus bog sich weit vor und blickte hinab in die dunkle Flut, auf welcher Ring an Ring hineintrieb in die stille, schweigsame Nacht. Hatte er es so gewollt? Er fuhr sich mit den Händen nach dem Kopfe, stieß einen heiseren, unarticulirten Laut hervor und sprang dann zwischen die Sträucher hinein, welche sich auf der Böschung des Dammes hinunterzogen.[624]

Wäre Klaus nur noch einige Augenblicke geblieben, so hätte er gesehen, daß Ferdinand wieder emportauchte und einen Zweig erfaßte, welcher in das Wasser niederhing. Er horchte nach dem Damme empor. Als er nichts vernahm, schwang er sich auf das Trockene und schüttelte die triefende Nässe aus der Kleidung.

»Er ist fort; er hat nicht daran gedacht, daß ich schwimmen kann! O Du heiliger, lieber Gott, was hab' ich denn verbrochen, daß mir's so grausam hart ergeht! Wo ist er hin, und wer war der, den ich vorher gesehen hab'? Ob's nicht der Lebrecht, der alte Knapp' von der Niedermühl' war, der erst bei uns gewesen ist? Ich muß fort, ich muß nach, und sollt' ich mir die Füß' ablaufen; der Vater darf nicht wieder thun, was er bisher vorgenommen hat!«

Er eilte davon. Als er die Niedermühle erreichte, umging er dieselbe und war bemüht, mit Auge und Ohr die Finsterniß und nächtliche Stille zu durchforschen. Als er an der einen Giebelseite des Wohngebäudes gegenüber anlangte, glaubte er, in der Höhe ein Geräusch zu vernehmen. Vorsichtig schlich er bis an die Mauer heran und blickte an derselben hinauf. Im Dachstocke klirrte ein Fenster leise, und ein langer, strickähnlicher Gegenstand wurde emporgezogen.

»Was war das? Es ist Jemand an dem Seil hinauf geklettert! Ist's der Vater gewesen? Soll ich den Müller wecken, oder soll ich warten, bis der, welcher es gewesen ist, wieder herunter kommt, und ihn dann wegfangen?«

Er war noch nicht mit sich im Reinen, als er schleichende Schritte vernahm, die sich ihm näherten. Es war der Müller. Ferdinand wußte das nicht, hielt sich verborgen, bis er vorüber war, und folgte ihm dann geräuschlos nach, um zu sehen, wen er vor sich habe und was der Mann im Schilde führe.

Dieser umsuchte erst das Wohnhaus und dann auch die Nebengebäude. Bei der etwas abgelegenen Schneidemühle angekommen, blieb er stehen und horchte; es war, als sei ein durch die Entfernung gedämpfter Schrei erklungen, dem nach einigen Secunden ein harter Fall folgte. So eilig, als es die Vorsicht gestattete, huschte er zurück und an Ferdinand, welcher erst jetzt den mit einer Büchse bewaffneten Horn erkannte, vorbei. Den jungen Mann ergriff eine schlimme Ahnung. Kaum war der Niedermüller an der einen Seite des Hauses verschwunden, so stürzte er nach der anderen. An der Stelle, wo er vorhin empor geblickt hatte, sprang ein Mann von der Erde auf und floh davon; ein anderer lag am Boden und gab kein Lebenszeichen von sich. Ferdinand bückte sich nieder und erkannte ihn. Es war sein Vater. Der Niedermüller konnte jeden Augenblick hier sein; er durfte ihn nicht finden. Der vor Schreck zitternde Sohn hob den Leblosen auf und suchte mit ihm den Weg nach der Obermühle zu gewinnen.

Als er so weit fortgekommen war, daß er es wagen konnte, einen Halt zu machen, legte er seine Last auf die Erde. Ein leises Stöhnen und Röcheln war die Folge der dabei verursachten Schmerzen.

»Vater,« fragte er mit angstvollem Herzen, »lebst Du noch? Hörst Du mich?«

Er bekam jetzt und auf alle seine ferneren Bemühungen keine andere Antwort, als dasselbe Röcheln und Stöhnen. Er nahm ihn wieder auf die Arme und trug ihn, selbst halb bewußtlos, der Gichtmühle zu.

Dort angelangt, fand er die Thür verschlossen. Auch wenn der schwerhörige Hans zu wecken gewesen wäre, er durfte nichts von dem Geschehenen erfahren. Ferdinand entledigte sich deshalb seiner Bürde und stieg den Damm hinan, um durch den verborgenen Eingang in das Haus zu gelangen und dann zu öffnen. Er war nur wenige Schritte noch von demselben entfernt, als eine Gestalt aus der Erde emportauchte und nach dem Deckel griff, um ihn auf den Einstieg zu legen. Sofort hatte er sie ergriffen.

»Halt, Mann! Wer bist Du?«

»Wer – wer – wer ich bin?« stotterte der Erschrockene. »Wer – wer – wer bist denn Du?«

»Ich bin der Müllerssohn hier aus dem Haus und will wissen, was Du hier zu schaffen hast!«

»Der Müllerssohn? Der Ferdinand?« klang es mit etwas beruhigter Stimme. »Ja wirklich, Du bist's! Ich hab' geglaubt, Du bist gar nicht daheim.«

»Und daher hast Du gemeint, Du darfst jetzt ebenso in das Loch steigen, wie vorher, als der Vater unten war! Sag' gleich, Lebrecht, was hast Du d'rin gethan?«

»Was ich gethan hab', willst Du wissen? Deinen Vater, den ›Geldmarder‹, hab' ich ausgezahlt. Geh' nur zur Niedermühl', da liegt er todt unter meinem Fenster! Er hat mir meinen Lohn verweigert und mich gar noch auf den Kopf geschlagen.[638] Aber der ist dick und hart und verträgt schon einen Puff. Als der alte Heimtücker aus dem Fenster war, hab' ich ihn ergriffen und von der Leiter gestürzt. Dann bin ich ihm nachgestiegen, hab' ihm das Herausgeld abgenommen, und nachher – nachher habe ich mir auch noch das geholt, was da unten im Tischkasten war. Verwundre Dich nur, immer verwundre Dich! Vor Dir brauch' ich mich nicht zu fürchten, denn wenn Du mir 'was thust, so erfährt das ganze Dorf, wer der ›Marder‹ gewesen ist!«

Er machte sich mit einer raschen Bewegung von den Händen Ferdinand's los und eilte den Weg zu rück, den er gekommen war. Es kam ihm Alles darauf an, daß seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde; deshalb strengte er seinen verwachsenen Körper zum schnellsten Laufe an und fühlte sich nun sicher, als er bei seiner Ankunft bemerkte, daß die Leiter noch hing. Aber noch hatte er die halbe Länge derselben nicht erklommen, so rief es unter ihm:

»Halt an, Spitzbub', und komm herab, damit ich Dir guten Abend sagen kann!«

Der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. Was sollte er beginnen? Hinauf durfte er nun auf keinen Fall, da wäre er gefangen gewesen, denn der Müller hätte ganz sicher die Leiter herabgerissen, wäre nach oben gekommen und hätte das Geld bei ihm gefunden. Zurück konnte er aber auch nicht. Es gab nur einen einzigen Weg für ihn. Das Fenster, bei dem er eben hielt, führte auf den Treppenboden; wenn er es einschlug und hindurch sprang, so war er gerettet. Er zögerte nicht, diesen Gedanken sofort auszuführen. Die Scheiben klirrten; da ertönte es wieder:

»Halt, Bursch'; nicht weiter oder ich schieß'!«

Das Klingen des aufgestoßenen Fensterflügels bewies, daß er nicht gewillt sei, auf die Warnung zu hören. Der Schuß krachte; der herabstürzende Körper des Getroffenen schlug auf die Erde; er lag an derselben Stelle, an welcher Ferdinand seinen Vater gefunden hatte. –

Der Morgen war noch nicht weit vorgerückt, aber die Kunde, daß Horn heute Nacht den »Geldmarder« erschossen habe, hatte trotz der frühen Stunde schon viele Neugierige, die den Todten, welcher in seinem Leben so gefährlich war, sehen wollten, aus dem Dorfe herbeigezogen. Er war noch nicht vom Gerichte aufgehoben worden und lag noch an der Giebelseite, wo er getroffen worden war. Der Dorfwächter stand bei ihm und sah streng darauf, daß nichts an dem status quo, wie er sich gelehrt und wichtig ausdrückte, verändert werde.

Da kam Ferdinand langsam und gesenkten Hauptes den Mühlenweg herab. Man hatte ihn noch nicht gesehen und eilte ihm entgegen.

»Weißt Du auch, was hier passirt ist?« wurde er gefragt, als die Begrüßungen vorüber waren. »Der Niedermüller hat den ›Marder‹ erschossen, und denk' Dir nur, sein eigner Knapp', der Lebrecht ist's gewesen!«

Er horchte hoch auf und ließ sich zu der Leiche führen. Es war kein schöner Anblick, der sich ihm bot; trotzdem nahm sein Gesicht einen helleren Ausdruck an, begann sich aber bald wieder zu verfinstern, als man ihm bemerkte:

»Wie gut, daß er unschädlich gemacht ist! Er hätt' Dir eben solchen Schaden gemacht, wie dem Horn und noch Anderen, denn Dein Vater ist jetzt Niedermüller und würd' ihn sicherlich behalten haben!«

»Mein Vater ist heut' Nacht an seiner Gicht gestorben, und wer Niedermüller ist, das wird sich erst noch finden!«

Er wartete die Antwort der Verwunderten nicht ab, sondern trat in das Haus und klopfte wie gestern an die Thür. Der Müller öffnete selbst.

»Du bist's schon wieder? Was willst Du heut'?«

»Ich möcht' Euch an das Wort erinnern, welches ich Euch gestern beim Abschied gesagt habe.«

»An welches?«

»Ich sagte: ›Wenn ich wiederkehr', so bleibt Ihr Niedermüller!‹ Ich bin gekommen, um dieses Versprechen zu halten!«

»Das ist nicht möglich. Sag's deutlicher, was Du meinst!«

»Der Vater ist todt. Wenn die Gicht erst einmal in den Leib tritt, so ist's oft schnell zu End'. Ich mag die Niedermühl' nicht haben und will sie Euch verkaufen!«

»Die Niedermühl'? Verkaufen? Willst Du mich etwa verhöhnen?«

»Das kommt mir gar nicht in den Sinn! Wenn Ihr sie gern behalten wollt, so sollt Ihr mich bereit und billig finden. Ich hab' Euch schon gesagt, daß ich gern gut machen will, was Euch Böses geschehen ist; nur sollt Ihr nicht auch mich für schlimm und ungut halten!«

»Wenn es Dein Ernst ist, so will ich gern vergessen, was ich Dir vorgeworfen hab'. Schau, der ›Marder‹ hat seinen Lohn bekommen. Es war mein eigner Knecht. Ich traf ihn grad', als er herab wollt', um mein Herausgeld fortzutragen. Nun weiß ich auch, warum er stets gewußt hat, wenn ich welches bekam und wo ich es liegen hatte. Auch das von den letzten Malen trug er bei sich; er muß irgendwo ein Nest haben, wo es versteckt liegt, und es ist ganz möglich, daß wir es einmal finden. Was ich bei ihm gefunden hab', reicht vielleicht zur Anzahlung hin, wenn Du mit Deiner Forderung nicht gar hoch hinaus willst. Für welchen Preis giebst Du die Mühl' zurück?«

»Für denselben, den der Vater gestern gezahlt hat. Ein Angeld braucht Ihr nicht zu geben. Ich laß Alles darauf stehen, und vor der Hand sollt Ihr auch keine Zinsen zahlen.«

Horn sah ihn erstaunt an.

»Du bist nicht klug! Mir kann's schon recht sein, wenn ich so wohlfeil bleiben darf; aber Du mußt auch auf Dich sehen und in Deiner guten Meinung nicht zu weit gehen. Warum willst Du nicht selber Niedermüller werden?«

»Weil ich dann eine Müllerin brauche, und das könnt' nur die Bertha sein. Ihr aber habt gesagt, wir sind geschied'ne Leut' und das Klausvolk darf Euch gar nimmer in die Stub'!«

Horn reichte ihm mit einem versöhnenden Lächeln die Hand entgegen.

»Ich bin hart gegen Dich gewesen, Ferdinand, weil auch ich hart getroffen war. Der Hans ist gut und treu; setz' ihn auf die Obermühl' und komm' zu uns herab! Die Müllerin ist vor Herzleid krank geworden; Du machst sie mit Deiner Güte wieder gesund. Und die Bertha hat Dich lieb, sonst hätt' sie gestern nicht für Dich gebeten. Laß uns freundlich zueinander sein, dann will ich nicht mehr daran denken, daß mein Haar weiß ist und daß ich gestern die Subhaste hab' erdulden müssen!«

In den Zügen des Jünglings sprach sich eine tiefe Bewegung aus. Er ergriff mit der einen Hand die dargebotene Rechte und hielt die andere dem erröthenden Mädchen hin.

»Habt Dank, Niedermüller! Ich sagt' Euch gestern wohl, Ihr würdet einsehen, daß ich nicht so schlimm bin, als Ihr meintet. Aber wenn der Vater auf dem Sarg liegt, so ziemt es sich schlecht für den Sohn, an Freud' und Fröhlichkeit zu denken. Ich hab' seit meiner Heimkehr viel Trauriges erlebt, mehr als Ihr glaubt und wißt. Laßt mich jetzt meine Leich' begraben; vielleicht wird mir das Herz dann wieder leicht, und nachher soll die Bertha die Erste sein, die mich lachen hört. Ihr seid jetzt gut zu mir; vergebt auch dem Vater. Die Elendsmühl' bleibt Euch erspart, und er ist ja dahin gegangen, wo man Vergebung braucht!«[639]

Quelle:
Der Gichtmüller. Originalerzählung aus dem Erzgebirge von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 19–20. Dresden (1879). Nr. 40, S. 638-640.
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