3.

[301] Es war um Weihnachten. Der Winter war über das Land gegangen und hatte seine Schneeflocken auf Feld und Flur gestreut. Deutschland lag unter der drückenden, erwartungsvollen Stille, wie sie dem Sturme vorherzugehen pflegt; am Rheine war die politische Schwüle am drückendsten, und[301] der heilige Christ, welcher sonst so fröhliche Gesichter findet, begegnete gar manchem ernstblickenden Auge, welches von Dingen redete, die der Mund nicht auszusprechen wagte.

Auch auf den beiden Mühlen ging es außerordentlich ruhig zu. Von Franz hatte man seit jener Nacht Nichts wieder gehört. Jambrieu war von der erhaltenen Messerwunde vollständig genesen und wohnte jetzt in der Niedermühle. Er schien sich in St. Goar nicht mehr ganz sicher zu fühlen und hatte dieses Logis gewählt, weil er bei dem zu erwartenden Rückzuge gern einen reichen Vogel mitgenommen hätte.

Anna sträubte sich zwar nach Kräften gegen die von dem Vater ihr aufgezwungene Verbindung, aber das Drängen des Lieutenants wurde von Tag zu Tag nachhaltiger, und es war vorauszusehen, daß er den Müller endlich zu einem rücksichtslosen Machtspruch bewegen werde.

So war der zweite Feiertag gekommen; die Familie saß noch spät in der von dem brennenden Tannenbaume hell erleuchteten Stube und horchte auf die ruhmredigen Berichte, welche Jambrieu zum hundertsten Male von seinem Kaiser vortrug. Da klopfte es an die Thür, und auf das laute »Herein« des Müller trat ein Mann herein, dessen zerfetzte Kleidung auf überstandene schwere Strapazen deuteten. Er trug den linken Arm in der Binde und ein Heftpflaster über das Gesicht, welches sich von der Nase bis fast an das Ohr erstreckte. Hätten ihn nicht schon diese Blessuren als Krieger gekennzeichnet, so wäre es sicher durch das Kreuz der Ehrenlegion geschehen, welches seine breite Brust schmückte.

»Kut' Apend!« grüßte er in gebrochenem Deutsch. »Kann ein arm' Soldat 'ab' un peu ßu ess', ßu trink' hund ßu schlaf'?«

Der Douanenoffizier erhob sich sofort und zog den beklagenswerthen Mann an den Tisch. Es verstand sich von selbst, daß ihm das Begehrte reichlich vorgesetzt wurde, und ebenso zahlreich waren auch die Fragen, welche er während des Essens zu beantworten hatte. Er gehörte zu der großen französischen Armee, welche aus Rußland retirirt war, in Deutschland geschlagen wurde und ihre versprengten Theile als Bettlerkolonnen heim in das gelobte Frankreich sandte. Im Laufe des Gespräches fand es sich, daß er ein Müller sei, und dieser Umstand bewog den Hausherrn zu der Frage, ob er auf der Niedermühle bleiben wolle, bis er sich von den ausgestandenen Beschwerden erholt habe. Er willigte mit Freuden ein und ward nach vollendetem Abendbrode bedeutet, sich von der Tochter des Hauses zur Ruhe weisen zu lassen.

Anna ergriff eines der Lichter, um ihn zu begleiten, es zitterte in ihrer Hand, aber sie brachte ihre Angst nicht eher zum Ausdrucke, bis sie in der Kammer stand, wo kein Lauscher zu befürchten war.

»Franz!«

Nur das eine Wort sprach sie aus, aber der Ton sagte mehr, als alle Worte es vermocht hätten.

»Anna! So hast Du mich erkannt?«

»Nicht gleich, aber endlich doch. Um Gottes Willen, geh' fort von hier; wenn es herauskommt, wer Du bist, so bist Du verloren!«

Er nahm das falsche Haar vom Kopfe, entfernte den struppigen Bart aus dem Gesichte und warf die Binde fort, die seinen Arm gehalten hatte.

»Ich bleibe hier, Anna; ich muß hier bleiben, und Niemand wird mich erkennen!«

»Nein, Du mußt fort; ich würde sonst vor Angst sterben!«

»Es geht nicht; ich muß, Anna, und damit laß es gut sein! Wie steht es mit dem Jambrieu?«

»Ich muß ihn nehmen, wenn keine Hilfe kommt.«

»Sie wird kommen, und zwar bald. Deswegen bin ich hier. Wie geht es meinen Eltern?«

»Sie sind gesund und wohl. Was ist's hier mit dem Pflaster? Geht das auch herunter?«

»Nein, der Hieb ist nicht falsch; ich habe ihn wirklich erhalten.«

»Einen Hieb? Sag', wo!«

»Das werde ich Dir später erzählen. Jetzt geh' hinab, damit Niemand Verdacht schöpft!«

Er schlang die Arme um sie, gab ihr einen herzlichen Kuß und schob sie dann zur Thür hinaus. Nachdem er die Letztere verriegelt hatte, öffnete er das Fenster. Es führte auf den Damm des Teiches, welchen der Bach hier bildete und an welchen sich die hintere Seite des Hauses lehnte. Mit einem gewandten Sprunge stand er draußen und gelangte auf einem Umwege zu dem Pfade, welcher längs des Wassers hinauf zur Obermühle führte. Dort angelangt, fand er die Thür verschlossen und alles Licht erloschen. Die Eltern, welche er sehen wollte, waren schlafen gegangen. Sollte er sie in ihrer Ruhe stören? Nach kurzem Besinnen beschloß er, umzukehren. Er mußte mehrere Tage bleiben und konnte sie also ja morgen aufsuchen.

Langsam schritt er den Weg, welchen er gekommen war, wieder hinab und stand, als er die Niedermühle erreicht hatte, eben im Begriff, seine Kammer aufzusuchen, als er Schritte vernahm, welche sich von vorn dem Hause näherten.

Er blieb lauschend stehen. Es wurde geklopft, und als nach einiger Zeit der Müller aus dem geöffneten Fenster blickte, frug eine Stimme in fremdländischem Accent nach dem Lieutenant Jambrieu.

Franz schlich sich näher und versteckte sich hinter einem Haufen Reißholz, welcher in der Nähe der Thür aufgeschichtet lag. Der Lieutenant erschien nach einiger Zeit; aber kaum hatte der späte Gast einige Worte zu ihm gesprochen, so faßte er ihn am Arme und zog ihn von der Thür hinweg bis in die nächste Nähe des unberufenen Lauschers.

Dieser vernahm jedes Wort der hastig geführten Unterhaltung und erhob sich, als die beiden Männer sich mit raschen Schritten entfernt hatten, mit einem tiefen Athemzuge aus seiner gebückten Stellung.

Es währte eine lange Zeit, ehe sie wiederkehrten, aber nicht zu Zweien, sondern zu Dreien. Sie trugen einen schweren[302] Gegenstand, machten einen möglichst weiten Bogen um die Mühle und verschwanden in dem Gesträuch, welches den Teich von drei Seiten umgab. Nach wenigen Minuten knirrschte es wie zerbrochenes Eis und es wurde ein kurzes Plätschern hörbar, als werde ein fester Gegenstand in das Wasser gesenkt und fahre, von den haltenden Händen losgelassen, mit kräftigem Schlage zu Boden.

Am nächsten Morgen fand der Müller statt des einen Franzosen, den er gestern aufgenommen, noch zwei, welche durch den Lieutenant hier ein Obdach gefunden hatten und für einige Tage hier zu bleiben erklärten. Und zu derselben Zeit traf man bei St. Goar auf einen alten Wagen, vor welchen ein alter, abgetriebener Gaul gespannt war, der traurig und hungrig den Kopf zur Erde senkte. Das Geschirr war aus irgend einem Grunde von seinem Führer verlassen worden.

Quelle:
Die Kriegskasse. Eine kleine Episode aus einer großen Zeit von E. Pollmer. In: Frohe Stunden. 2. Jg. Dresden, Leipzig (1878). Nr. 19, S. 301-303.
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