I.

[5] Jeder Besucher meines Hauses sieht sich, sobald er den Flur desselben betritt, mitten unter fremdartigen Reiseerinnerungen, von denen ihm zunächst ein arabischer Sattel auffällt, den ich, wie man sich auszudrücken pflegt, als den eigentlichen »intellektuellen Urheber« der vorliegenden Erzählung zu bezeichnen habe. Er ist aus rotem, orientalischem Sammet gefertigt und mit reichen Goldstickereien verziert, ein sogenannter »Paschasattel« mit bequemen Bügelschuhen und jener fürchterlichen Art von Kandare, mit der man den Widerstand selbst des stärksten Pferdes bezwingt.

Zu diesem Sattel kam ich durch meinen Freund, den reichen, judarabischen Händler Mustafa Bustani in Jerusalem, dessen Geschäft im Suk el Bizâr liegt, rechter Hand, wenn man nach dem heutigen Haram esch Scherif geht, wo früher der Tempel des Salomo gestanden hat. Unter Judaraber sind diejenigen Araber des heiligen Landes zu verstehen, welche im Zusammenleben mit den Juden den überlieferten Haß gegen die Hebräer nach und nach aufgegeben haben und sich den streng alttestamentlichen Ansichten des »auserwählten Volkes Gottes« mehr zuneigen als dem Christentum. Ein Christ zu werden ist bei diesen[5] Leuten keine geringere Schande als der Übertritt zum Judentum. Doch betrifft dies nur die innere Anschauung; auf den Umgang, zumal den persönlichen oder gar geschäftlichen, hat diese Ansicht keinen Einfluß gehabt. So war ich Mustafa Bustanis Freund, trotz der religiösen Verschiedenheit, nur weil er mich gern hatte, und ich ihn auch. Ich kaufte, so oft ich in Jerusalem war, wenn möglich, nur bei ihm, doch bevorzugte ich ihn nicht nur als Kaufmann, sondern viel mehr noch als Mensch. Er wußte das und vergalt es mir durch eine derartige freundschaftliche Zuneigung, daß ich mich im Besitze seines ganzen Vertrauens fühlte. Darum kehrte ich oft auch dann in seinem Laden ein, wann ich kein Bedürfnis zu kaufen hatte. Dann saßen wir stundenlang auf einer großen, breiten, mit einem Teppich belegten Kiste nebeneinander, tranken unaufhörlich Kaffee, welchen Bem, der Neger, bereitete, und unterhielten uns in einer Weise, als ob wir Brüder wären und keine Spur von Geheimnis vor einander zu haben brauchten. Dann waren es nur sehr vornehme Käufer, durch die er sich stören ließ; die gewöhnlichen fertigte der Gehilfe ab, auf den er sich ebenso wie auf sich selbst verlassen konnte. Dieser Gehilfe hieß Habakek, war ein höchst gutmütiger Mensch und einer jener Hexenmeister und Passelfritzen, die alles machen können, was ihre Augen sehen.

Mustafa Bustani war ein großer Märchenfreund. Am liebsten aber hörte oder erzählte er jene Art von Märchen, in denen der Wunderglaube oder der Zusammenhang zwischen Verstorbenen und Lebenden eine Rolle spielt. Doch war er keineswegs das, was man abergläubisch im gewöhnlichen Sinne nennt, sondern ein gebildeter Mann, der außer arabisch auch noch türkisch und persisch sprach und sich mit Abendländern ganz leidlich französisch und englisch verständigen konnte. In Beziehung auf den Glauben zeigte er eine anerkennenswerte Duldsamkeit; früher aber schien das Gegenteil der Fall gewesen zu sein, denn er hatte einen Bruder gehabt, der von der Familie verstoßen worden war, weil er sich hatte taufen lassen, und Mustafa Bustani verheimlichte es nicht, daß er mit dieser Verstoßung damals vollständig einverstanden gewesen sei. Nun aber schien er hierüber doch anders zu denken. Ich erfuhr zwar weiter nichts, als daß dieser Bruder sich nach dem Ostjordanlande gewendet und dort eine Christin geheiratet habe, weshalb dann alle seine Aussöhnungsversuche zurückgewiesen worden[6] seien; hierauf war er verschollen; aber man weiß ja nur zu gut, daß Familienbande niemals ganz zerrissen werden können, und der »Harem«1 meines Freundes schien von weicheren Gesinnungen beseelt zu sein, denen er sich doch nicht hatte verschließen können.

Harem? Gewiß! Unsere gegenseitige Vertraulichkeit war nämlich so hoch gestiegen, daß wir uns nicht scheuten, ganz offen von seinem und meinem »Harem« zu sprechen, was dem Muhammedaner doch eigentlich verboten ist. Unter meinem Harem war natürlich nur meine Frau zu verstehen. Kinder habe ich nicht. Der seinige bestand auch nur aus einer Frau, einem elfjährigen Söhnchen und einer schwarzen Köchin. Die andere Dienerschaft wurde nicht zum Harem gerechnet. Der Sohn, welcher den kurzen, oder den bedeutungsvollen Namen Thar hatte, war, was man in Bayern einen »feschen Bub« zu nennen pflegt, also gar nicht so unfreudig phlegmatisch, langsam und überernst, wie orientalische Kinder hier bei uns beschrieben werden. Der Bub kam sehr oft aus der Wohnung, die nicht in der innern Stadt lag, herein nach dem Laden, und wenn er mich traf, so wurde er nicht müde, mir durch die unglaublichsten Fragen meine sämtlichen heimatlichen Verhältnisse rund über den Haufen zu werfen. Ich erfuhr von ihm jede Neuigkeit aus dem Harem seines Vaters, jeden zerbrochenen Topf und jede gefangene Maus; dafür hielt er mich im höchsten Grade verpflichtet, ihm nun auch aus dem meinigen alle Geheimnisse zu berichten, und weh mir, wenn er einmal glaubte annehmen zu müssen, daß es mir in dieser Beziehung an Vertrauen zu ihm fehle!

Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Vater, Sohn und mir hatte zur Folge, daß ich als Gast geladen wurde und bei dieser Gelegenheit auch die Mutter zu sehen bekam. Das wiederholte sich. Ich brachte des öftern ganze Abende im Hause Mustafa Bustanis zu und mußte, als ich mich nach meiner letzten Anwesenheit verabschiedete, versprechen, meine Frau mitzubringen, sobald ich wiederkomme.

Nomen et omen.2 Es war in der Familie Mustafa Bustanis seit Menschengedenken Brauch gewesen, daß immer ein Angehöriger Thar geheißen hatte. Das stammte aus ihrer nun längst verflossenen Nomadenzeit. Der jetzige Träger dieses Namens nun war der Bub, und er war Tag[7] und Nacht bemüht, demselben so viel wie möglich Ehre zu machen. Thar heißt Vergeltung, Wiedervergeltung, Rache, Blutrache. Das ist das alte, fürchterliche Gesetz, welches die Forderung stellt: Blut um Blut, Auge um Auge, Zahn um Zahn! Das hatte im Altertum seine guten Gründe, mag sie bei gewissen wilden Völkern auch in der Gegenwart noch haben, ist aber unter zivilisierten Verhältnissen nicht nur verwerflich und sträflich, sondern einfach lächerlich. Der Bub aber befand sich, seit er auf die Bedeutung seines Namens aufmerksam geworden war, so ganz unter dem Einflusse der Vorstellung, die er sich davon machte, daß er immer auf eine Rache sann, und wenn es keine gab, so machte er sich eine. Alles, was er hörte, und was er sah, mußte ihm zur Konstruktion einer Wiedervergeltung dienen, doch fand er leider niemals die Anerkennung, die er erwartete. Das Schicksal verstand ihn falsch. Die Rache nahm zwar stets ihren köstlichen Verlauf, machte aber zum Schlusse meist eine dumme Wendung und fiel auf die falsche Stelle, nämlich auf ihn selbst, und zwar dorthin, wo die Vergeltung am deutlichsten empfunden wird, ohne daß sie dem übrigen Körper schadet. Das hinderte ihn aber nicht, seinem Namen und seiner Bestimmung treu zu bleiben und immer wieder von neuem zu beginnen.

Diesen notwendigen Bemerkungen füge ich hinzu, daß ich von Sumatra nach Ägypten gekommen war, um dort mit meiner Frau zusammenzutreffen. Ich hatte sie durch das Land der Pharaonen und durch die arabische Wüste geführt, und nun befanden wir uns im gelobten Lande. Wir waren tags zuvor von Jaffa nach Jerusalem gekommen, wollten einige Wochen bleiben, um Ausflüge in die Umgebung bis zum Toten Meere zu machen, und dann nach Damaskus gehen. Hierzu waren zwei Sättel nötig, ein Herren- und ein Damensattel, und da verstand es sich denn ganz von selbst, daß ich meinen Freund Mustafa Bustani aufsuchte, um diesen Bedarf bei keinem andern als nur bei ihm zu decken. Meine Frau begleitete mich. Er und die Seinen waren ihr aus meinen Berichten fast ebenso gut bekannt, wie mir selbst; er, der nach orientalischen Begriffen hochgebildete, edle Mann, der nur in der Erziehung seines Söhnchens auf falschem Wege ging; seine Frau als ein außerordentlich lebhaftes, liebes, gütiges Wesen, in der Vergötterung ihres Kindes mit dem Vater zusammentreffend, und endlich der Bub selbst, der die Eigenschaften der Eltern[8] derart in sich vereinigte, daß er die heitere, scherzhafte Mutter sehr ernst und den ernsten Vater sehr spaßhaft nahm und darum fast immer in der Lage war, ihn und sie und alle Welt zu vexieren.

Wir gingen durch das Jaffator nach dem Suk el Bizâr und fanden Mustafa Bustani anwesend. Er war damit beschäftigt, einen Kunden zu bedienen, der sich einen neuen Fez samt Turbantuch kaufen wollte, und sah und beachtete uns nicht sogleich. In der Mitte des Ladens stand ein Kamel, welches aber eigentlich Habakek, der Gehilfe, war. Er hatte sich auf alle Viere niedergelassen und war genau wie ein zu einem Festzuge hergerichtetes Kamel geschmückt, nämlich die Kopfriemen mit Klingeln und Federbusch, die Vorderbeine mit Schellen behangen, die Seitenteile aus baumwollenen Netzen mit Glasperlentrotteln, und hinten herab ein ziegenlederner Wasserschlauch, damit man in der Wüste nicht zu verdursten brauche. Daneben stand Thar, der Bub, nur in das übliche blaue Hemd gekleidet, welches grade bis zum Knie und bis zum Ellbogen reichte, das Gesicht, die Arme und die Beine dunkelbraun angepinselt. Er rief so eben, als wir kamen, dem in der Kaffee-Ecke kauernden Neger Bem die Worte zu:

»Ich bin Beduinenscheik und füttere mein Kamel!«

Dabei schob er dem Gehilfen eine Handvoll Lattichsalatblätter, die von den Händlern draußen weggeworfen, von ihm aufgelesen worden waren, in den gehorsam geöffneten Mund, und der kaute und verschlang das »Futter« in so lauter und ergötzlicher Weise, daß man hätte glauben sollen, er sei wirklich nicht nur ein Dromedar, sondern sogar ein ganz ausgesprochenes baktrisches Kamel. Übrigens ergab sich nur aus dem folgenden, daß er der Gehilfe Habakek war; erkennen konnte man es nicht, denn sein Gesicht war derart mit allerlei farbigen Kreuz- und Querstrichen bemalt, daß es vollständig unter ihnen verschwand. Deshalb fragte der Neger:

»Warum hast du ihn denn angestrichen?«

Da erklang die verwunderte Antwort:

»Das weißt du nicht? Das ist das Fell, was ich gemalt habe. Ein Kamel hat doch Haare im Gesicht!«

Noch ist zu bemerken, daß vor dem Nachbarladen ein reich geschmückter Esel stand. Sein Herr, jedenfalls kein gewöhnlicher Mann, war abgestiegen und dort eingetreten, um irgend etwas zu kaufen.[9]

Da sah mich zuerst der Neger. Er war damit beschäftigt, Kaffeebohnen in einem Mörser zu Mehl zu zerstoßen, warf vor Überraschung Kaffee und Mörser weg und erhob vor Freude ein Geheul, als ob er gepfählt werden solle. Hierdurch wurden die andern auf mich aufmerksam. Mustafa Bustani war so verwundert, mich plötzlich vor sich zu sehen, daß er ganz still stand und nichts sagte. Umsomehr zeigte sich Thar der Situation gewachsen. Er tat einen Luftsprung, stieß einen Jubelruf aus, deutele auf meine Frau und fragte:

»Ist das die, die du uns versprochen hast?«

»Sie ist es,« antwortete ich.

Da verneigte er sich dreimal vor ihr, winkte nach dem Kamel und bat sie:

»Setze dich darauf; es ist für dich geschmückt!«

Da aber erhob sich das Dromedar auf die hintern Beine, wischte sich mit den Händen das »Fell« aus dem Gesicht und sagte:

»Dazu habe ich keine Zeit, denn nun muß ich den Dienst des Ladens übernehmen!«

Er warf den Kamelschmuck von sich und widmete sich dem Käufer, den Mustafa Bustani nun seinem Schicksale überließ, um sich mir und meiner Frau zuzuwenden. Seine Freude war ebenso groß wie aufrichtig. Er begrüßte mich durch die üblichen Verneigungen, zog mich dann an sein Herz und sagte:

»Welch ein Heil widerfährt mir heut'! Allah sei Dank. Laß dich bei mir nieder, du Liebster meiner Freunde; du weißt, daß du mir hochwillkommen bist!«

Dann machte er meiner Frau dieselben drei Verbeugungen; aber als er zu ihr sprechen wollte, versagte ihm die Stimme, und es stürzten ihm Tränen aus den Augen. Er legte beide Hände auf das Gesicht und schluchzte leise. Da weinte Thar auch, griff in die Falten des weißen Reisekleides meiner Frau, wischte sich mit ihnen die Tränen ab und dann auch die braune Beduinenfarbe aus dem Gesichte und von den Armen und erklärte ihr:

»Er weint darüber, daß du nun da bist und sie dich doch nicht sehen kann.«

»Warum kann sie mich nicht sehen?« fragte meine Frau, die natürlich erriet, daß er seine Mutter meinte.

»Sie ist gestorben. Weißt du das noch nicht?« antwortete er.[10]

Wir erschraken beide. Wir fanden nicht gleich Worte. Der Bub aber fuhr fort:

»Sie freute sich so sehr auf dich, denn dein Effendi, den wir alle so lieb haben, hatte dich stets nur gelobt und nie ein böses Wort über dich gesagt, was man doch eigentlich immer tut, so oft man von seinem Harem spricht. Er und der Vater aber haben das stets unterlassen. Da kam die Krankheit und schloß ihr die Augen; ich habe es selbst gesehen. Man trug sie fort. Nun weint der Vater stets, wenn er an sie denkt, und ich muß mir fast alle Tage eine neue Rache aussinnen, damit er wieder lacht. Aber er lacht nicht mehr und prügelt auch nicht mehr, und das ist beides falsch!«

Er ließ bei diesen Worten sein Auge durch den Laden schweifen. Es fiel auf den Käufer, der sein rundes Turbankäppchen vom Kopf genommen und zur Seite gelegt hatte, um sich einen passenden Fez aufzuprobieren, was nach morgenländischer Weise immer lange dauert und mit vielen Reden und Gegenreden verbunden ist. Sein Kopf war vollständig kahl und glänzend blank und glatt, wie poliert. Da zuckte ein schelmischer Gedanke über das dreiviertel ausgewischte Gesicht des Knaben und er fügte hinzu:

»Da kommt mir gleich wieder eine Rache! Ich bitte euch, stört mich nicht, sondern schaut lieber dorthin, wo ich nicht bin!«

Er schlängelte sich nach der hintern Ecke, wo der Kochherd für den Kaffee stand und verschiedene Geräte allerlei Zweckes dabei. Dort war auch der Platz des Negers, der ihn aber verlassen hatte, um auf einen Wink seines Herrn aus einigen weichen Warenballen und einem Teppichtuche einen Divan für meine Frau herzurichten. Mustafa Bustani half ihm dabei, um seiner Trauer Meister zu werden, und hatte also auf das, was sein Sohn zu uns sagte, nicht geachtet. Als der Divan fertig war, setzten wir uns. Ich bekam meinen von früher her gewohnten Platz auf der Kiste und einen Tschibuk dazu. Dann hätte die Unterhaltung begonnen, wenn uns nicht der Tod der Frau zu früh verraten worden wäre. Die Worte wollten nicht kommen. Glücklicherweise bot uns das Geschäft, welches uns herbeigeführt hatte, einen Notbehelf. Leider hatte Mustafa Bustani keine Sättel im Vorrat liegen, doch bat er uns, morgen wieder zu kommen, er werde inzwischen für die Befriedigung unserer Wünsche sorgen.[11]

Hier störte uns der Käufer, ein Landbewohner aus Aïn Kahrim. Er hatte sein altes Käppchen nebst Kopftuch wieder aufgesetzt und zeigte die gewählten, neuen Sachen vor, einen Fez nebst buntem Turbantuch, deren Preis er wissen wollte. Im Oriente geht selbst ein so unbedeutender Handel nicht sehr schnell von statten; dieses Mal aber gab Mustafa Bustani, um den Mann nur los zu werden, so schnell und so viel im Preise nach, daß der Käufer schleunigst zahlte und sich dann entfernte.

Diese Unterbrechung hatte aber doch die Wirkung, daß das Gespräch nun jetzt mehr Leben gewann. Wir berichteten einander, was während der Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, auf beiden Seiten geschehen war. Dabei ergriff er fast jede Gelegenheit, auf Thar zurückzukommen und irgend ein Lob über ihn zu sagen. Wir sprachen nicht etwa leise, und so mußte der Bub das also hören. Der hockte beim Neger in der Ecke und schien irgend eine Art von Verwandlung mit sich vorzunehmen, die uns aber zu nächst noch zu verborgen war. An Stoffen zu solchen Verwandlungen fehlte es im Laden nicht, wo fast alles nur Denkbare, sowohl Altes wie auch Neues, zu kaufen war. Als er das große Werk mit Hilfe des Negers vollendet hatte, kam er aus der Ecke herbeigeschritten, langsam, stolz und würdevoll, um sich uns vorzustellen. Er hatte sich als Held gekleidet und also höchst wahrscheinlich wieder eine Blutrache auszuüben. Sein Helm bestand aus einem halben tönernen Wasserkrug, wahrscheinlich ausgegraben und dabei zerbrochen. Den Brustpanzer bildete ein blecherner Lampenschirm von der Sorte, die man vertikal vor das Licht zu stellen pflegt. An die nackten Waden hatte er sich zwei alte, riesige Rittersporen gebunden, die sehr wahrscheinlich aus der Zeit der Kreuzzüge stammten. In einem Stricke, welcher den Gürtel bildete, steckten die fürchterlichsten Waffen, die man sich denken kann, nämlich drei Messer, zwei Scheren, zwei Korkzieher und vier Lichtputzen, die rund um den Leib geordnet waren. Außerdem hatte er sich eine Mausfalle und einen Köcher mit Pfeilen und Bogen umgehängt, und die übrige Armatur, die er in den Händen trug, bestand aus einer Sichel, einer Säbelscheide und einem Flintenlauf. Die hierzu gehörige Kriegsbemalung zeigte zwar nur zwei Farben, machte aber ganz genau den Eindruck, auf den sie berechnet war. Der rechte Arm und das linke Bein waren grün bemalt, der linke Arm und das rechne Bein aber blau.[12] Blau waren auch die beiden Backen und die Schnurrbartgegend, das Kinn aber grasgrün. Da konnte man unmöglich ernst bleiben. Wir lachten, und Mustafa Bustani lachte mit.

»Wer bist du denn?« fragte er den Gewappneten.

»Ich bin Gideon, der Held,« antwortete dieser in martialischem Tone, indem et mit allen Waffen rasselte.

»Er nimmt seine Helden stets nur aus dem Alten Testamente,« erklärte uns sein Vater. Und zum Sohn gewendet, fuhr er fort:

»Was hast du als Gideon heute vor?«

»Ich habe die Baalspfaffen zu erschlagen und die Midianiter umzubringen.«

Neues, noch stärkeres Rasseln! Leider war es unmöglich, über diese kühnen Absichten etwas Weiteres zu erfahren, denn die Szene wurde von dem Manne aus Aïn Kahrim unterbrochen, der in diesem Augenblicke nach dem Laden zurückgelaufen kam, und zwar in einer Aufregung, wie sie die Folge nur des höchsten Zornes ist. Er sprach so schnell und so empört, daß man ihn zunächst gar nicht verstand. Man unterschied nur die Worte Fez – Turban – Barbier – Kopf – blau – Seife – Wasser – Scham und Schande! Als wir aber baten, sich zu beruhigen und langsam zu erzählen, tat er es, und so erfuhren wir, daß er von uns aus zum Barbier gegangen war, um wie stets, wenn er sich in der Stadt befinde, nach Haupt und Bart sehen zu lassen, denn diese Reinlichkeit des Hauptes sei von dem Propheten vorgeschrieben. Als er dabei sein Haupt entblößt habe, was eigentlich nur vor dem Barbier, vor keinem andern Menschen geschehen dürfe, hätten alle Anwesenden vor Lachen laut aufgebrüllt, denn das Haupt seines Alters sei nicht mehr weiß wie immer, sondern blau wie der Himmel gewesen, und es habe sich herausgestellt, daß diese Bläue aus der Kopfbedeckung stamme, die er hier abgenommen habe und worein die Farbe von irgend jemand heimlich geschüttet worden sei. Der Barbier habe zwar versucht, sie ihm vom Kopf zu waschen, wodurch die Sache aber nur noch schlimmer geworden sei, denn das Blau des Himmels habe sich durch das Wasser aufgelöst und nur noch tiefer und fester in den Schädel eingefressen; Allah erbarme sich!

»Hier, seht mich an!« rief er zum Schluß, indem er Käppchen und Tuch vom Kopfe nahm. »Der Verbrecher trete vor, daß ich ihn bestrafen lasse!«[13]

Ein vollständig haarloser Schädel, von glänzend himmelblauer Farbe! Dazu der Gedanke, daß der Mann nicht etwa den neuen Fez, sondern grade die alte abfärbende Kappe wieder aufgesetzt hatte! Man brauchte den übrigen Anblick und das im Zorne unbehilfliche Gebaren gar nicht hinzuzufügen, um dem Lachreiz nicht widerstehen zu können. Meine Frau brach zuerst los. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Der Neger folgte, dann Habakek, hierauf ich und schließlich auch Mustafa Bustani. Es gab ein schallendes, aufrichtiges Gelächter, welches aber die sonderbare Wirkung hatte, daß es den Mann aus Kahrim nicht zorniger, sondern kleinlaut zu machen schien, wahrscheinlich durch das Eigengefühl seiner Lächerlichkeit. Nur Einer lachte nicht, der Bub. In seinem Gesicht rührte sich kein Zug. Er trat auf ihn zu und sagte laut und ernst:

»Ich bin es gewesen, ich!«

»Du?« fragte der Mann erstaunt. »Wie kann ein Kind es wagen, das entblößte Haupt eines Moslem zu beschimpfen!«

»So entblöße es nicht! Ich tat es aus Rache, denn ich heiße Thar; daß du es weißt.«

»Thar?« fragte der andere verständnislos.

»Ja, Thar! Hast du nicht selbst gesagt, daß der Gläubige sein Haupt nur dem Barbier entblößen darf? Du hast es aber auch hier, auch uns gezeigt! Darum habe ich dich bestraft, indem ich dir die blaue Vergeltung in die abgenommene Hülle deines Kopfes schüttete!«

»Ist so etwas denn möglich?« fragte der Blauköpfige, im höchsten Grade erstaunt. »Dieser Knabe spricht davon, daß ich zu bestrafen sei, nicht er! Was sagt sein Vater dazu?«

Diese Frage wurde an Mustafa Bustani gerichtet, doch ehe dieser antworten konnte, tat es der Bub:

»Brauchst du hier einen Vater, so hole deinen; den meinen borge ich dir nicht! Ich bin Gideon, der Held aus Manasse. Leb' wohl!«

Er nickte ihm würdevoll zu, ging stolzen Schrittes zum Laden hinaus, stieg so wie er war, in seiner ganzen Waffenrüstung, auf den draußen stehenden fremden Esel und ritt im Trabe davon. Man weiß ja, daß orientalische Knaben von frühester Jugend an den Rücken eines Esels als besten Spielplatz betrachten. Man findet nur selten einen, der den Mut nicht besitzt zu reiten.[14]

Der Mann aus Kahrim wußte jetzt wirklich nicht, was er denken sollte. Sein Mund stand offen. Er schaute hinter dem Knaben drein, ohne ein Wort zu sagen.

»Ist so etwas möglich?« fragte meine Frau, aber deutsch, noch immer lachend.

Ich hatte keine Zeit, ihr zu antworten. Die Szene verwickelte sich. Der Besitzer des Esels war nämlich auf die Entfernung seines Esels aufmerksam geworden. Er hatte sich erkundigt, wer der sonderbar ausgerüstete Knabe sei, und kam nun aus dem Nachbarladen heraus und zu uns herüber, um der Sache entweder zivilrechtlich oder strafrechtlich näherzutreten, je nachdem!

»Wer von euch ist Mustafa Bustani?« erkundigte er sich.

»Ich,« antwortete mein Freund, indem er von der Kiste herabrutschte und sich tief verneigte.

»Kennst du mich?«

»Ja. Wer sollte dich nicht kennen! Du bist Osman Achyr, der Ferik-Pascha des Großherrn. Allah segne ihn!«

»Dein Sohn hat meinen Esel gestohlen!«

»Er hat ihn nicht gestohlen, sondern nur geliehen. Er bringt ihn sicher wieder!«

»Bin ich etwa ein Eselverleiher? Und wäre ich einer, so hätte man mich erst zu fragen!«

»So verzeih!«

Der Mann aus Kahrim war beim Nahen des Generals, dem man seine Vornehmheit ansah, obwohl er Zivilkleidung, nicht Uniform trug, bescheiden zur Seite getreten. Jetzt, da es sich um einen zweiten Beschädigten handelte, bekam er Mut, seine Stimme von neuem zu erheben.

»Nein, verzeih es nicht!« sagte er. »Der Knabe hat dich bestohlen und mich geschändet. Ich fordere, daß er bestraft werde!«

Da drehte sich der Pascha zu ihm um und fragte:

»Wer bist du? Was hat er dir – – –«

Er sah den Mann, den blauen Schädel, hielt mitten im Satze inne, machte Augen, die immer größer und immer glänzender wurden. Das hielt der Blaue für den geeigneten Augenblick loszubrechen und die Missetat nochmals zu berichten. Aber er kam nicht weit damit, denn die Himmelsbläue wirkte auf den General genau so, wie sie auf uns gewirkt hatte; er konnte sich nicht halten und begann zu lachen, und zwar so zu lachen, daß wir andern alle wieder mit einstimmten. Und mitten in dieses Gelächter hinein,[15] was geschah – – –? Da kam der Bub zurückgeritten, ein ganzes Schock von Kindern hinter ihm her. Die Erwachsenen kannten ihn schon; die kümmerten sich schon längst nicht mehr um seine sonderbaren Streiche. Er hielt den Esel genau an derselben Stelle an, auf der er vorher gestanden hatte, stieg ab und kehrte mit demselben Ernste und derselben hoheitsvollen Würde zu uns zurück, wie er uns vorhin verlassen hatte. Das machte einen so unwiderstehlichen Eindruck auf uns alle, daß das Lachen einen Augenblick schwieg, dann aber in doppelter Stärke wieder losbrach und gar nicht enden zu wollen schien. Sogar der Blaue lachte mit, und als er einmal drin war, blieb er am längsten drin; er war der letzte, der zum Aufhören kam. Thar kannte den General auch. Er stellte sich grade vor ihn hin, richtete sich stramm auf und machte genau so ein Honneur, wie er bei Soldaten gesehen hatte, die einem Offizier begegnen. Da fragte ihn der Pascha:

»Du weißt, wer ich bin?«

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»Nun, wer?«

»Du bist Benaja, der Feldhauptmann des Königs Salomo!«

»Brav!« lachte der Offizier. »Du bleibst in deiner Rolle! Was aber sind das hier für Waffen?«

Er deutete dabei auf die Scheren, Korkzieher und Lichtputzen. Aber der Bub war nicht aus der Fassung zu bringen. Er hatte unzählige Male dem Munde der Geschichte, der Sage und des Märchens gelauscht und kannte die Vergangenheit Jerusalems besser wie ein deutscher Knabe die Chronik seiner Vaterstadt. Auch war er sich der symbolischen Bedeutung seiner Waffen sehr wohl bewußt. Er antwortete also schnell und ohne sich zu besinnen:

»Das sind die ›Skorpione‹, mit denen der König von Juda seine Leute in die Ohren kniff, wenn sie nicht gehorchen wollten. Und ich bin Gideon, der Held aus dem Stamme Manasse. Ich habe mir dein Streitroß geborgt, weil ich eine Blutrache gegen die Midianiter habe; aber es ist zu dick und hat keinen Atem; darum bin ich wieder umgekehrt, um es dir zurückzubringen. Ich danke dir, aber es ist wirklich nicht zu gebrauchen!«

Er wiederholte das Honneur. Da lachte der Pascha, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Er schien überhaupt ein sehr leutseliger Herr zu sein.[16]

Mustafa beeilte sich, diese gute Stimmung für die Straflosigkeit seines Knaben auszunützen.

Er sprach die Bitte aus:

»Verzeih' ihm, was er tat! Er ist so außerordentlich klug, und so hochbegabt!«

Er erreichte genau das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Das Gesicht des Pascha wurde im Nu wieder ernst, fast drohend. »Von Straflosigkeit kann keine Rede sein,« sagte er; »dein Sohn hat doppelt gesündigt, an mir und an diesem da.« Dabei deutete er auf den Mann von Aïn Kahrim. Dann fuhr er fort: »Und damit er nicht etwa Lohn statt Strafe erntet, werde ich die Züchtigung in meine eigenen Hände nehmen. Ist ein Stock vorhanden, der sich für solche Zwecke eignet?«

Der Neger, der diese Frage hörte, brachte aus seiner Ecke ein dünnes, knotiges Spazierstöckchen herbei, welches allerdings sehr gut zu jenen erziehlichen Prozeduren zu verwenden war, von denen die Jugend lieber zu schweigen, statt zu reden pflegt. Der General nahm das Rohr, schwippte es zur Probe einige Mal hin und her und auf und ab, nickte befriedigt mit dem Kopfe, blinzelte den Blauen verschmitzt von der Seite an und fragte ihn:

»Du bist doch damit einverstanden, daß der Sünder verurteilt wird?«

»Ja,« nickte und antwortete der Gefragte schnell.

»Soll ich das Urteil auch gleich in deinem Namen mitsprechen?«

»Ja.«

»Und in deinem Namen auch gleich mit ausführen?«

»Ja.«

»Wohlan, so soll er zehn Streiche erhalten, fünf für mich und fünf für dich, und zwar von meiner eigenen Hand!«

»Ist das nicht zu wenig?« fragte der Mann enttäuscht.

»Nein, es ist nicht zu wenig, sondern grad viel genug!« antwortete der Bub.

»Du hast zu schweigen!« fuhr ihn der Blaue an.

»Wer bekommt die Prügel? Ich oder du?«

»Du!«

»So kannst doch du nicht fühlen, ob es zu wenig ist oder zu viel!« Und sich an den Pascha wendend, fügte er die Frage hinzu: »Ist es dein Ernst, das mit den zehn Streichen?«[17]

»Ja,« bestätigte dieser. »Für einen Gideon ist es eigentlich keine große Ehre, mit dem Stocke gezüchtigt zu werden?«

»Das meine ich auch!« stimmte der Knabe bei. »Aber ich habe nun einmal das Unglück, die Rache nicht bloß auszugeben, sondern auch wieder einzunehmen! So bitte ich dich wenigstens um die Erlaubnis, erst mein Heldentum ablegen zu dürfen!«

Das wurde ihm gestattet. Er ging in die Kaffee-Ecke, entledigte sich dort seiner kriegerischen Ausrüstung und kehrte dann zurück, um sich der improvisierten Strafrechtspflege zur Verfügung zu stellen.

»Halte ihn!« befahl der Pascha dem Vater. Dieser gehorchte. Er bog sich nach vorn, schob das linke Knie vor und legte den Inhaber der Blutrache quer darüber, in jener uns allen sehr wohl bekannten Weise, in der die Rückseite des Empfängers nach oben kommt. Thar ließ es mit sich geschehen, ohne sich zu sträuben und ohne ein Wort zu sagen. Der Pascha postierte sich quer dazu, holte aus und zählte die Hiebe, die er gab:

»Eins – – – zwei – – – –!«

Er kam nicht weiter, denn jetzt stand meine Frau von ihrem Sitze auf, stellte sich mitten zwischen die Akteurs hinein, so daß die Exekution unterbrochen wurde, und bat um Gnade. Der Pascha fragte, wer sie sei. Sie sagte es. Er besann sich einen Augenblick, verbeugte sich dann und antwortete, daß er ihre Bitte zwar mit Vergnügen erfülle, aber ganz unmöglich von der Zahl zehn, die er diktiert habe, abgehen könne, denn er pflege unter allen Umständen Wort zu halten. Die zwei bereits gegebenen Streiche freilich könne er nicht mildern, aber die noch ausstehenden acht möge nun sie verabreichen, und zwar ganz so, wie es ihr Herzensbedürfnis sei. Dabei reichte er ihr den Stock, trat zurück und winkte fortzufahren. Sie tat es, und zwar so, daß wir alle, den Delinquenten mit eingeschlossen, wohl zufrieden waren. Als sie sich dann nach dem Pascha umwendete, sah sie ihn nicht mehr. Er war inzwischen in den nebenanliegenden Laden zurückgekehrt. Der Mann aus Aïn Kahrim schickte sich zwar an, Einspruch zu erheben, doch Mustafa Bustani forderte ihn auf, in einer Stunde wieder zu kommen und sich ein Geschenk zu holen. Es fielen nur noch einige kurze Worte hin und her, dann[18] ging der Landmann einstweilen befriedigt fort. Inzwischen flüsterte, da sein Vater es nicht hörte, der Bub uns beiden zu:

»Er hat gelacht, aber sehr gelacht! Habt ihr es gesehen? Wie mich das freut!«

Seine lieben, guten Augen leuchteten. Dann küßte er meiner Frau die Hand und sagte:

»Ich danke dir für die acht, die du mir gegeben hast! Sie waren zart und mild wie Zuckergebackenes, in dem kein Pfeffer ist. Ich werde dir das nie vergessen. Du weißt, ich bin ein Held. Ich bitte dich, in jeder Not auf mich zu rechnen!«

Hierauf zog er sich wieder in die Kaffee-Ecke zurück, um unter Beihilfe des Negers irgend eine neue Veränderung mit sich auszuführen. Sein Vater nahm wieder auf der Kiste Platz, um unsere unterbrochene Unterhaltung von neuem aufzunehmen. Den Schelmenstreich seines Lieblings tat er mit den lächelnden Worten ab:

»Er war der ›Auserwählte‹ seiner Mutter. Die sah ihm alles nach! Und übrigens ist er wirklich sehr hochbegabt; der Pascha mag es glauben oder nicht!«

»Wie ist er nur zu dieser sonderbaren Liebe zur Farbe gekommen?« erkundigte ich mich. »Oder war das früher schon?«

»Nein,« antwortete er. »Mein Kaffeeneger hier und meine schwarze Köchin sind Eheleute. Die haben einen Jungen, der seit einiger Zeit zu einem Tüncher in die Lehre geht. Daher das lebhafte Interesse meines Knaben für das bunte Reich der Farben. Mir scheint, er ist zum Künstler geboren. Natürlich sind vorerst nur die Anfänge zu sehen, aber die verraten schon so viel, daß ich denke, mein schönes liebes einträgliches Geschäft wird einst in fremde Hände übergehen müssen. Der Islam ist zwar der Ab- oder Nachbildung des menschlichen Körpers nicht zugeneigt, doch bietet die übrige Schöpfung so sehr viel des Großen und Schönen, daß für Thar und seine Kunst genug vorhanden ist, geehrt und berühmt zu werden. Alle meine Bekannten sind der Meinung, daß Bedeutendes in ihm steckt. Ist es da nicht meine Pflicht, ihn zum großen Mann zu machen?«

Er sprach nicht etwa leise; der Knabe hörte jedes Wort. Infolgedessen kam er aus der Ecke zu uns hervor und sagte zu mir:

»Du mußt das richtig erfahren, Effendi; der Vater[19] teilt es dir nicht vollständig mit. Es ist nämlich so: Der Vater sagt: Er ist der ›Auserwählte‹ der Mutter; die sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum Künstler und wird ein großer Mann. Die Mutter sagte immer: Er ist der ›Auserwählte‹ des Vaters; der sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum tapferen Helden und wird ein großer Mann. Und der Lehrer, zu dem ich in den Unterricht gehe, der sagt stets: Er ist der ›Auserwählte‹ seines Vaters, seiner Mutter und seiner ganzen Verwandtschaft; die sehen ihm alles nach; aber er hat nicht das geringste Talent zu irgend etwas Großem und ist nur zum Handel und Schacher und zum Vexieren bestimmt. So, nun weißt du es, Effendi!«

Er sagte das sehr ernst, und es war auch ernst, und nicht nur das, sondern sogar wichtig, unendlich wichtig. Sein Vater ahnte nicht den tiefen Sinn, der in den ehrlichen Worten des Kindes lag. Meine Frau aber ahnte ihn, denn sie sah mich an und nickte mir bedeutungsvoll zu. Der Bub hatte sich inzwischen äußerlich verändert, wenn auch nicht in den Farben, so doch in Beziehung auf ihre Anordnung. Was nämlich vorher grün gewesen war, das war nun blau, und was erst blau gewesen war, das war nun grün. Also grün waren jetzt das rechte Bein, der linke Arm und die beiden Backen, und blau waren das linke Bein, der rechte Arm und der Schnurrbart und der Knebelbart. Darum erkundigte ich mich zunächst:

»Wer bist du denn nun jetzt?«

Er antwortete prompt:

»Ich bin Judas Makkabäus und habe eine Blutrache gegen die Syrer. Aber das lasse ich einstweilen noch ruhen, weil ich gehört habe, was der Vater über mich sagte. Ich habe dir mitgeteilt, wie er über mich denkt, wie die Mutter über mich dachte, und wie der Lehrer über mich denkt. Nun möchte ich gern auch wissen, wie du über mich denkst, Effendi.«

»Sag' mir vorerst deine Meinung darüber, wer recht hat, der Vater, die Mutter, oder der Lehrer!«

Er errötete, warf auf den Vater einen um Verzeihung bittenden Blick und antwortete:

»Den Vater habe ich lieb, die Mutter habe ich lieb; aber sie haben beide unrecht. Den Lehrer habe ich nicht lieb, aber er hat recht.«

Da konnte ich nicht anders: Ich zog den Jungen[20] an mich und küßte ihn auf die frei von Farbe gebliebene Stirn. Das Herz wollte mir überquellen, und ich sah, daß auch meine Frau tief innerlich ergriffen war; ihre Augen feuchteten sich. Es war ein geradezu heiliger Augenblick. Und Mustafa Bustani saß neben mir, sah uns lächelnd an und hatte nicht die geringste Ahnung von der tiefen Reinheit, der keuschen Offenheit und dem packenden Zauber der Kindesseele, die uns soeben offenbart worden war.

»So gib mir eine Frist,« bat ich Thar. »Wir sehen uns jetzt zum erstenmal wieder, und du bist anders geworden, als du früher warst. Ich sehe dich jetzt oft. Da mache ich mir eine Meinung über dich, und die sage ich dir, ehe ich Jerusalem verlasse.«

»Wirklich?« fragte er bittend.

»Ja, wirklich,« antwortete ich.

Da strich er mir mit der Hand leise und zärtlich über die Wange und beteuerte:

»Ich liebe auch dich; aber du wirst nicht unrecht haben, das weiß ich ganz bestimmt. Willst du einmal etwas sehen, was ich gemalt habe, wirklich gemalt?«

»Ja,« antwortete ich.

»Wann kommst du wieder?«

»Morgen um dieselbe Zeit.«

»Also schon am Vormittag. Da muß ich die Bilder heut' Nachmittag beginnen und vollenden!«

Er sann einige Augenblicke nach. Ein schalkhaftes Lächeln zuckte über die grünen Backen und über die blaue Schnurrbartgegend. Dann fragte er seinen Vater:

»Darf ich dich bitten, mir für heut' unser Gartenhaus zu überlassen?«

»Was willst du drin?« erkundigte sich der Gefragte.

»Zwei Bilder malen und sie morgen dem Effendi zeigen.«

»Gut, du darfst.«

»Aber es darf mich niemand stören! Es ist keinem Menschen erlaubt, zu mir hereinzukommen, wenn ich nicht will!«

»Auch mir nicht?«

»Auch dir nicht.«

»Das ist ja interessant! Aber ich hoffe, daß es dir gelingen wird, dem Effendi etwas wirklich Gutes zu zeigen, und so habe ich nichts dagegen.«

»Allah sei Dank!« rief der Bub. »Gleich geht es los!«

Er schlug vor Entzücken einen Purzelbaum und schoß dann zum Laden hinaus.[21]

»Nun, was sagst du zu ihm?« fragte Mustafa Bustani nach einer Minute des Schweigens. »Was für ein Knabe! Nicht wahr, ein Künstler?«

»Warten!« antwortete ich. »Erst sehen! Solche Urteile wollen überlegt und wohl betrachtet sein. Ich habe um Frist gebeten. Zunächst sehen wir uns ja schon morgen wieder.«

Das gab uns Veranlassung, uns zu verabschieden. Wir gingen. Das war gegen Mittag, wo die heißeste Zeit des Tages beginnt, die man am liebsten in der Kühle des Zimmers verbringt. Als sie vorüber war, wanderten wir nach dem Ölberge, um nach Bethanien hinauf zu spazieren und dann über die Stätte Betphage und Kafr et Tur nach der Stadt zurückzukehren. Wir nahmen den photographischen Apparat mit, ohne den meine Frau fast nie verreist. Was aber mich betrifft, so mache ich meine Touren in der Weise, daß es mir unmöglich ist, mich mit solchen Dingen zu befassen, weil sie viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen und die persönliche Selbständigkeit und Beweglichkeit in hohem Grade beeinträchtigen. Meine Frau aber liebt es, Erinnerungsbilder mit nach Hause zu bringen und sich und andere später an ihnen zu erfreuen. So machte sie auch heute in Bethanien einige Aufnahmen, welche die Eigenartigkeit der dortigen Stein- und Mauerreste zeigen. Dann stiegen wir zur vollen Höhe des Ölbergs hinauf. Da gibt es Stellen, an denen man nicht nur die ostjordanischen Berge, sondern sogar einen Teil des Toten Meeres liegen sieht. Indem wir diese reiche Fernsicht genossen, sprachen wir über unsern heutigen Besuch bei Mustafa Bustani, und ich hob hervor, daß er gegen früher leidend aussehe und schnell und mehr gealtert sei, als die Jahre eigentlich mit sich brachten. Der Tod seiner Frau hatte ihn viel, viel tiefer ergriffen, als man einem Mohammedaner sonst zuzutrauen pflegt. Und hierzu kam noch ein zweites, fast ebenso tiefes Leid und eine innere seelische Aufregung, die wir noch nicht kannten, jetzt aber kennen lernen sollten. Denn nachdem wir unsere Aufmerksamkeit bisher ausschließlich nach Osten gerichtet hatten, wendeten wir uns jetzt dem Westen zu, also der Stadt, die vor uns lag, und da gewahrten wir in abgeschiedener Gegend einen einsamen Mann, der in der Nähe eines Johannisbrotstrauches saß und, die Hände wie zum Gebet gefaltet, unbeweglich gegen Morgen starrte. Das war einige Zeit vor der Abenddämmerung.[22] Wir mußten an ihm vorüber. Als wir näher kamen, erhob er sich. Es war Mustafa Bustani, unser Freund, von dem wir soeben erst gesprochen hatten. Wir sagten ihm das. Er aber schien über dies ganz unbeabsichtigte Zusammentreffen nicht ganz unverlegen zu sein. Es war, als ob er sich über etwas ertappt fühle, was niemand wissen solle. Seine Worte, die sich an die Begrüßung schlossen, klangen so, als ob er die Verpflichtung fühle, sich entschuldigen zu müssen.

Er teilte uns mit, daß die Stelle, an der wir uns befanden, seit einiger Zeit sein Lieblingsplatz sei, den er fast täglich aufsuche, um gegen Osten hinzuschauen. Ich mußte dabei unwillkürlich an seinen verstoßenen Bruder denken, der ja gegen Osten hin verschwunden und verschollen war. Wir setzten uns bei ihm nieder und bemerkten bald, daß er sich in einer eigenartigen Stimmung befand, deren Grundton als eine außerordentlich weiche, seelische Hilflosigkeit herauszufühlen war. Ich suchte die Ursache hierzu nicht in der uns umgebenden, szenisch ergreifenden und geschichtlich gewaltigen Örtlichkeit, denn diese war er gewohnt, sondern in ihm selbst, in seiner Psyche. Und ich hatte recht. Denn er leitete das Gespräch sehr bald auf seinen schon erwähnten Lieblingsgegenstand, nämlich auf den Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt und auf die biblische Behauptung, daß es Wunder gebe. Hierauf gestand er uns, daß ihn ein Traum herauf an diese Stelle treibe, ein Traum, der so klar, bestimmt und deutlich gewesen sei, als ob er im Wachen, nicht aber im Schlafe stattgefunden habe. Diese Deutlichkeit sei so groß und so überzeugend gewesen, daß er sich den Tag des Traumes aufgeschrieben habe, den fünfzehnten Tag des Monats Adar.3 Halb sich entschuldigend und halb fragend fügte er hinzu, daß er uns wohl nicht zumuten dürfe, uns mit seinen Träumen zu beschäftigen. Wir versicherten ihm, daß uns alles, was ihn und ganz besonders sein Seelenleben betreffe, im höchsten Grade interessiere, und so erzählte er:

»Du weißt, Effendi, daß mein Bruder verstoßen wurde, weil er Christ geworden war, und daß wir alle seine Aussöhnungsversuche zurückwiesen, weil er sodann noch gar eine Christin zur Frau genommen hatte. Hierauf ist er verschollen. Niemand konnte er fahren, wohin er sich dann später gewendet hat. Aber du weißt nicht, daß die[23] Verstoßung die vollständige Enterbung zur Folge hatte und daß er alles verlor, worauf zu rechnen er ein ebenso großes Recht besaß, wie ich selbst. Ich wurde der einzige Erbe; er aber war arm, arm wie ein Bettler!«

»Eine Folge eurer Gesetze und der herrschenden Familienrechte,« versuchte ich zu entschuldigen.

»Du bist Christ und denkst also anders, als du mir zuliebe sprichst!« wies er mich zurück. »Ich fühlte jahrelang keine Spur der Ungerechtigkeit, die wir gegen ihn begangen hatten. Besitz und Religion sind doch ganz verschiedene Dinge. Darf ich etwa aus der Reihe der Gläubigen gestoßen werden, wenn sich mein Reichtum in Armut verwandelt? Nein! Ebensowenig darf man mich aus dem Kreise der Besitzenden stoßen, weil ich nicht Moslem bleiben, sondern Christ werden will. Dieser Gedanke aber ist nicht von mir, sondern er kam von meinem Weibe. In ihrem Herzen wohnte eine Liebe und eine Güte, die es in dem meinigen nicht gab. Diese ihre Güte begann eine schwere, schwere Arbeit an mir, aber sie gelang. Meine Härte wurde weicher, immer weicher, und als sie starb, die Mutter meines Sohnes, starb sie als Siegerin. Ich versprach ihr, meinen Bruder aufzusuchen und alles, was ich besitze, mit ihm zu teilen. Sie dankte mir, segnete mich, schloß die Augen und – – – und – – – verschied.«

Er verhüllte das Gesicht mit den Händen und schwieg eine Weile, um seine Bewegung zu meistern; dann fuhr er fort:

»Ich suchte und ließ suchen, doch vergebens. Der Bruder war verschwunden. Ich dachte stets, stets an ihn, fast ebenso oft wie an sie, deren Tod mir mehr genommen hat, als du, Effendi, wahrscheinlich denkst. Mir kam die Frage, ob mein Bruder wohl gar gestorben sei und ob er und sie sich jenseits dieses unseres Lebens finden, sehen und sprechen. In solchen Gedanken grübelte ich. Mit ihnen wachte ich, und mit ihnen schlief ich ein. Da, am fünfzehnten Tage des Monats Adar, träumte mir, daß ich in der Moschee kniee und bete. Da öffnete sich die Kiblah4 der Heiligkeit und mein Bruder erschien und forderte mich auf, mir zu merken, was er mir sage. Und das lautete: ›Ich bin gestorben, aber ich lebe. Nicht ihr habt mir, sondern ich habe euch zu verzeihen. Ich werde dir diese meine Verzeihung senden. Sie naht von Osten her. Schau täglich[24] nach ihr aus und mach' an ihr wieder gut, was ihr an mir verbrochen habt!‹ So lauteten seine Worte. Dann verschwand er. Die Kiblah schloß sich wieder, und ich erwachte aus dem Traum. Der erschien mir so deutlich und so wahr, daß ich mein Lager verließ, um mir den Tag anzumerken. Seitdem treibt es mich fast täglich hier herauf, um gegen Osten auszuschauen, ob der Traum in Erfüllung geht. In Bethanien aber verweile ich stets für kurze Zeit, um das Grab des Lazarus zu besuchen; warum, das weiß ich nicht; aber es ist mir, als ob ich mit dem Boten meines Bruders grad dort zusammentreffen werde, an keiner andern Stelle. Was sagst du zu diesem Traum, Effendi?«

»Nun, das, was du selbst über ihn sagst«, antwortete ich. »Dein eigenes Gefühl leitet dich da richtiger als jede, noch so klug erscheinende Auskunft, die ein anderer, also auch ich, dir geben kann.«

»So meinst du, daß ich meine täglichen Spaziergänge nach dieser Stelle hier herauf fortsetzen soll?«

»Werden sie dir durch irgend jemand oder durch irgend etwas verboten?«

»Nein.«

»So ist auch kein Grund vorhanden, sie zu unterlassen.«

»Ich danke dir! Erst wurde es mir schwer, zu euch von dieser Angelegenheit zu sprechen; nun ich es aber getan habe, fühle ich, daß mir das Herz davon leicht geworden ist. Doch kommt! Es beginnt bereits zu dämmern. Wir müssen gehen, sonst überrascht uns die Dunkelheit noch unterwegs.«

Er stand auf, und wir folgten diesem seinem Beispiele. Er hatte recht; der Abend senkte sich hernieder, und so beeilten wir uns heimzukommen.

Hierbei teilte er uns im Gehen mit, daß er inzwischen geschäftlich für uns besorgt gewesen sei. Er wisse in El Chalil5 einen köstlichen Paschasattel, der aus Arabien stamme und verkauft werden solle. Er werde einen Boten senden, ihn holen zu lassen, und ihn mir dann zeigen.

»Ich muß ja selbst nach El Chalil,« fiel ich da ein. »Ich will meiner Frau das Grab Abrahams und den berühmten Hain Mamre zeigen, wo die drei Engel dem Patriarchen erschienen sind.«

Da rief er fröhlich aus:

»So begleite ich euch, wenn ihr es erlaubt! Ich[25] habe dort so viel Wichtiges und so viel Dringendes zu tun, daß ich, nun der Gedanke einmal da ist, am liebsten gleich morgen reisen möchte.«

»Das können wir ja! Uns ist jede Zeit recht, die dir paßt!«

»Wirklich? Auch morgen schon?«

»Ja.«

»Und darf ich Thar mitnehmen, meinen Sohn, für den es die größte aller Wonnen sein wird, mit euch und mir in einem schönen Wagen zu sitzen und in die unbekannte Welt hinauszufahren? Er ist nach dieser Richtung hin nicht weiter als nur bis Betlehem gekommen.«

»Wenn es dir recht ist, so haben auch wir nichts dagegen, daß er uns begleite.«

»Gut, so sei es beschlossen, wir fahren; den Wagen besorge ich! Und da euch euer Weg jetzt an meinem Hause vorüberführt, so ersuche ich euch, für einige Augenblicke bei mir einzukehren. Ihr sollt die Freude sehen, die ihr dem Knaben durch diese eure Erlaubnis bereitet.«

Es wurde vollständig dunkel, ehe wir an dieses Ziel gelangten. Mustafa Bustani klopfte an das von innen verriegelte Tor. Schlürfende Schritte nahten; die schwarze Köchin kam uns zu öffnen. Sie hatte eine orientalische Windlaterne in der Hand, bei deren Schein wir sahen, daß sie ihre ganze Gestalt in ein ursprünglich weißes Laken gehüllt hatte, welches jetzt aber so voll blauer, grüner, roter und gelber Wischflecke war, daß man den ursprünglichen Untergrund fast gar nicht mehr erkennen konnte.

»Maschallah! Wie siehst du aus?« rief der Hausherr, als er das sah.

»Das ist die Kunst!« antwortete sie stolz, indem ein höchst befriedigtes Grinsen ihr Gesicht fast um das Doppelte verbreitete.

»Die Kunst? Wie so?«

»Wir malen!«

»Was?«

»Das rote Meer. Wir haben gleich nach dem Mittagessen angefangen und sind noch nicht ganz fertig.«

»Du – – – du malst mit?« fragte er, indem gewisse, nicht ganz frohe Ahnungen in ihm aufstiegen.

»Ja, ich!« versicherte sie im Tone sehr hoch gestiegener Selbstzufriedenheit. »Der ›Auserwählte‹ malt nur das[26] Wasser, die Luft und die Sonne; ich aber male das grüne Land; das bringt er nicht fertig.«

»Das grüne Land? Worauf malt er denn? Hoffentlich doch nur auf Papier?«

»Auf Papier? O nein! Das wäre doch viel zu klein. Wir malen auf die Wand.«

»Auf die Wand? Wo denn?«

»Im Gartenhaus!«

»Allah, Allah! Im Gartenhaus! An die Wand! Das ist ja fürchterlich! Was werde ich da sehen! Ich muß gleich hin, sofort, sofort!«

Er eilte vom Tore weg, unter dem er bisher gestanden hatte. Daher sah uns die Köchin erst jetzt. Sie leuchtete uns an und erkannte mich.

»Der Effendi!« rief sie aus. »Schon heut'! Der ›Auserwählte‹ sagte doch, daß du erst morgen kommen werdest! Eile und folge mir! Du darfst es sehen; das hat der ›Auserwählte‹ gesagt. Aber dem Herrn ist es noch verboten. Wir müssen ihm schnell nach. Er darf nicht hinein!«

Sie trabte mit ihrer Laterne von dannen. Wir folgten langsamer. Es war nicht weit, kaum zwanzig Schritte. Das Wohnhaus lag in der Mitte des Gartens, das Gartenhaus aber an der Gartenmauer. Mustafa Bustani war nicht mehr einzuholen. Er hätte sich auch nicht abhalten lassen, die Stätte, in der die »Kunst« jetzt weilte, zu betreten. Ich kannte sie. Ich war oft in dem Häuschen gewesen. Es bildete ein Quadrat, die Türseite nach dem Garten, die andern drei Seiten ohne Fenster, also mit keinem Blick in die Außenwelt, elfenbeingelblichweiß gestrichen und mit goldenen Kuransprüchen verziert. Es hatte in dieser seiner Abgeschlossenheit, Sauberkeit und künstlerischen Ruhe und Bescheidenheit stets einen wohltuenden, besänftigenden Eindruck auf mich gemacht. Und jetzt?

Jetzt war die Tür weit aufgerissen. Vor ihr stand Mustafa Bustani. Er war noch nicht eingetreten, weil sein Sohn sich dagegen sträubte. Von der Decke hing eine Ampel, deren Lampe mit heller Flamme brannte. Im Innern sah man den Künstler, dessen Gestalt und Hemd nicht mehr in zwei, wie am Vormittage, sondern in vier Farben getaucht erschien, nämlich in azurnes Blau, in giftiges Grün, in leuchtendes Gelb und in glühendes Rot. So intensive, schreiende Farben regen auf, zumal wenn man[27] künstlerisch zart besaitet ist. Was Wunder, daß da der Bub nicht grad bei ganz guter Laune war! Noch ehe wir das Gartenhaus erreicht hatten, hörten wir seine zornige Stimme, mit der er dem Vater zurief:

»Nein! Du hast es mir versprochen! Du darfst nicht herein! Auch bin ich noch nicht fertig! Der Effendi ist der erste, der es sehen darf, nicht du!«

»Aber der ist ja da, der Effendi!« antwortete Mustafa Bustani.

»Wo?«

»Hier!« meldete ich mich, indem ich den Vater zur Seite schob und mich dem Sohne zeigte.

»Schon heut'?« wunderte sich dieser. »Du wolltest doch erst morgen kommen! Aber es ist trotzdem schön, daß du schon jetzt da bist. Ich bin zwar noch nicht fertig, denn du siehst, daß die Haifische noch fehlen, aber die mache ich gelegentlich dazu; das geht sehr schnell. Tretet also ein, ihr beiden und – – –«

»Nun, und ich?« unterbrach ihn sein Vater.

»Ich will so gütig sein und auch dir es erlauben, weil die beiden Hauptpersonen doch zugegen sind. Das tue ich aber nur, weil auch du zuweilen nachsichtig mit mir bist!«

»Leider, leider! Allah weiß, daß ich das bin!«

So schickten wir uns denn in nicht ganz harmonischer Stimmung und mit nicht ganz gewöhnlichen Gefühlen an, das Kunstwerk zu genießen, und ich muß allerdings der Wahrheit gemäß konstatieren, daß mir weder vorher noch nachher wieder etwas so hoch in der Tiefe Aufgefaßtes und so tief in der Höhe Ausgeführtes vor die Augen gekommen ist. Wir standen vor einer so großen, erstaunlichen und in ihrer Wirkung so beispiellosen Leistung, daß ich unbedingt wenigstens eine Situationszeichnung geben muß. Denn eine Beschreibung ist, genau so wie bei einem Rafael Santi oder einem Rembrandt van Ryn, absolut unmöglich.

Das Gartenhaus konnte also nur nach dem Garten hin geöffnet werden, dem orientalischen Gebrauch entsprechend, sich von der Außenwelt abzuschließen. Trat man durch die geöffnete Tür, so stand man vor drei geschlossenen Wänden, vor sich eine und je rechts und links eine. Diese Wände waren früher, wie bereits erwähnt, weißgelb, mit goldenen Kuransprüchen gewesen. Das gab es jetzt nicht mehr. Die Mittelwand war bis in Manneshöhe blutrot oder vielmehr glühend rot. Die beiden Seitenwände zeigten, auch bis in[28] Manneshöhe, eine saftig grüne Farbe. Über diesem Rot und über diesem Grün war alles blau angestrichen. Und hoch oben an der Decke, da, wo die Ampelschnur befestigt war, saß ein großer, gelber Fleck, der erst wahrscheinlich rund gewesen, dieser Form aber nicht treu geblieben, sondern mit dem Blau zusammengelaufen war. Mitten in dem Grün zur rechten Seite stand ein weißes Haus; das hatte zwei Haustüren, ein Fenster und drei Schornsteine. Und mitten in dem Grün zur linken Seite stand ein schwarzes Haus; das hatte drei Haustüren, gar kein Fenster und zwei Schornsteine. Ganz unten am Mittelfelde links, wo das Rot mit dem Grün zusammenstieß, sah man eine schwarze, menschliche Ferse, die bis zur halben Wade hinauf aus der roten Farbe schaute. Und ganz unten, am Mittelfelde rechts, wo das Grün mit dem Rot zusammenstieß, sah man eine weiße, menschliche Fußspitze, die bis zum halben Schienbeine hinauf aus der roten Farbe schaute. Daß noch Haifische hinzukommen sollten, war zwar bekanntgegeben worden, doch fand ich trotz aller Mühe auf keiner der drei Flächen auch nur den allergeringsten Platz, wo sich ein Haifisch hätte wohlfühlen können.

»Da steht ihr nun alle und staunt!« sagte Thar, indem er seinen Blick in höchst überlegener Weise über uns gleiten ließ. »Wißt ihr, was das bedeutet? Weißt du, Effendi, was es ist?«

Da er sich so direkt an mich wendete, so sah ich mich gezwungen, der Sache wohl oder übel auf die verwischte Spur zu kommen. Ich war aber so diplomatisch, keinen Gegenstand zu nennen, den das Bild vielleicht hätte vorstellen können, denn ich wollte mir die Hochachtung des Künstlers auf alle Fälle erhalten. Darum antwortete ich nur so im allgemeinen, aber möglichst kunstbegeistert:

»Es ist das reine blaugrünrotgelbe Wunder!«

»Richtig!« stimmt er mir bei. »Du sagst nie etwas falsch! Es hat uns auch Mühe und Farbe genug gekostet. Schau' nur her!«

Er deutete auf den Boden nieder, wo halb- und ganzleere Farbentöpfe standen und Pinsel bis zur äußersten Größe lagen, die Abreibe-, Wisch- und Scheuerlappen gar nicht gerechnet.

»Das haben wir vom Tüncher geholt,« fuhr er fort. »Und weil die Zeit zu kurz war, und ich nicht allein fertig werden konnte, hat mir die Köchin helfen müssen. Sie hat[29] aber nur das Land gemalt; das ist leicht. Das übrige mußte ich selber machen; dazu hat sie kein Talent!«

Sein Vater befand sich im höchsten Zorne. Er gab sich alle Mühe, ihn zu unterdrücken, und fragte:

»Wer hat dir denn erlaubt, diese Wände und die köstlichen Sprüche zu übermalen?«

»Doch du!« antwortete der Sohn.

»Ich – – –?«

»Ja, du selbst! Ich fragte dich, ob ich im Gartenhause zwei Bilder malen dürfe, und du hast es mir erlaubt.«

»Habe ich da etwa annehmen können, daß du sie an die Wände malst, anstatt auf Papier? Wir sprechen noch hierüber mein Sohn!« Er machte die Gebärde, als habe er einen Stock in der Hand, und fügte hinzu: »Übrigens sehe ich nur ein Bild, nicht zwei.«

»Ich habe mich anders besonnen. Es gibt noch mehr als zwei. Das hier ist das erste. Die andern kommen noch nach. Der Effendi will doch sehen, was ich kann, und da muß ich ihm soviel wie möglich zeigen.«

»Noch mehr Bilder? Derartige Bilder? Bist du toll? Welche denn?«

»Morgen malen wir im Harem.«

»Was?«

»Die Posaunen von Jericho und wie die Mauern einstürzen.«

»Allah erbarme sich! Und übermorgen?«

»Übermorgen malen wir im Schlafzimmer!«

»Aber was?«

»Den Untergang von Sodom und Gomorra, mit lauter Rauch und Feuer, Blitz und Donner. Die Farben sind schon bestellt!«

»Schon bestellt! Auch das noch! Im Schlafzimmer Blitz und Bonner, Rauch und Feuer! Für deine Kunst scheint es nichts Unmögliches zu geben. Ich sehe ein, daß ich ihr Grenzen ziehen muß. Was stellt denn dies hier vor? Da ist doch keine Spur von Gedanken drin!«

Er hatte bei dem Worte »Grenzen« eine Bewegung gemacht, als ob er ihn wieder, wie heut' am Vormittag, über das Knie nehmen wolle. Trotz dieser Drohung mußte der Knabe lachen, als er jetzt antwortete:

»Keine Gedanken? Da steckt doch das ganze Volk Israel und der König Pharao mit allen seinen Ägyptern drin!«[30]

»Wieso?« erkundigte sich der Vater. »Ich sehe doch nichts von ihnen!«

»Weil sie eben im Wasser sind! Dieses Bild ist der Durchgang der Kinder Israel durch das Rote Meer. Siehst du es denn nicht, das Rote Meer, da grad vor dir? Und drüber ist die blaue Luft, und ganz oben, grad über dem Kopf, die gelbe Sonne, denn es ist genau Mittagszeit. Hier links, das grüne Land, das ist Ägypten, und das Haus, das ist der Palast des Pharao. Und hier rechts, das grüne Land, das ist Palästina, und in dem Haus, welches drinsteht, wohnt der König der Jebusiter. Dazwischen liegt das Rote Meer. Die Kinder Israels waren Sklaven in Ägypten. Moses hat ihnen losgeholfen. Er floh mit ihnen in das Rote Meer. Jetzt eben stecken sie alle drin. Pharao eilte ihnen nach mit seinem ganzen Heere. Schau' her! Soeben ist der letzte von ihnen verschwunden. Man sieht nur noch seine Ferse, die noch nicht im Wasser ist. Und drüben, auf der andern Seite, da kommen die Kinder Israels soeben wieder aus dem Wasser heraus. Man sieht schon die Fußzehen des ersten von ihnen, die außerhalb des Wassers sind. Sobald sie sich alle auf dem Trockenen befinden, male ich meine Haifische hinzu, und dann sollst du sehen, daß der Pharao mit seinen sämtlichen Soldaten aufgefressen wird und daß kein einziger von ihnen übrig bleibt! Sind das etwa keine Gedanken?«

Er stellte sich breit vor seinem Vater hin und sah ihm überlegen in das Gesicht. Und da erklang hinter uns die vorwurfsvolle Stimme der Negerköchin, die mit ihrer Windlaterne noch an der Tür stand und alles gehört hatte:

»Und das ganze, grüne Ägypten und das ganze, grüne Palästina, das stammt von mir. Morgen male ich Jericho!«

Da konnte sich der gute Mustafa Bustani nicht länger beherrschen. Sein ganzer Zorn brach los.

»Was du morgen malst, das wird sich finden!« donnerte er sie an: »Marsch! Fort mit dir! Ins Haus!«

Da fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Sie ließ die Laterne fallen, daß sie zerbrach und verlöschte, und rannte davon, so schnell ihre Füße sie trugen. Aber diese Wirkung seines Grimmes gab dem Händler sofort die über sich verlorene Gewalt zurück. Er wendete sich in entschuldigendem Tone an uns:

»Verzeiht! Der Zorn tut nie das Richtige. Erlaubt, daß ich euch begleite!«[31]

Wir verstanden und begriffen ihn sehr wohl. Er führte uns nach dem Tore, durch welches wir gekommen waren. Es stand noch offen. Dort sagte er:

»Es bleibt bei unserer Fahrt, morgen früh. Ich hole euch ab, sieben Uhr nach europäischer Zeit. Ob ich den Knaben mitnehme, weiß ich noch nicht.«

»Wirst du ihn strafen? Etwa sehr?« erkundigte sich meine Frau, die den Bub auch liebgewonnen hatte.

»Wer hier, in diesem Falle, die Strafe verdient, dar über werde ich nachdenken,« antwortete er in ungewöhnlich ernstem Tone: »Es ist, als ob mir mit Euch ein Licht gekommen sei. Mir scheint, ich habe seit heute vormittag ganz andere Augen und Ohren. Wie kam es, daß ihr, ohne allen sichtbaren Grund, genau denselben Weg nach der Höhe des Ölberges gegangen seid, den ich täglich einzuschlagen pflege? Und genau zu derselben Zeit?«

»Zufall!« warf ich leicht hin.

»Das sagst du, ohne es selbst zu glauben! Ich weiß nur zu gut, daß du das Wort Zufall für eine Verlegenheitserfindung hältst. Doch das ist für jetzt nebensächlich. Hauptsache für heut' abend ist mein Sohn. Ich habe nachzudenken. Ich habe allein zu sein. Und – – – euch beiden kann ich das sagen, ohne mich schämen zu müssen – – – ich habe zu beten! Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich mich mit der Seele meines Kindes auf falschem Wege befinde. Nur Allah allein kennt die verborgenen Tiefen unseres Innern. Er wird mir zeigen, was recht ist und was falsch. Ich bitte, sorgt euch nicht um den Knaben! Er bekommt keine Strafe, die er nicht verdient. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagten auch wir, reichten ihm die Hände und gingen sehr gespannt darauf, wie sich die Angelegenheit für morgen entwickeln werde.

Quelle:
Schamah. Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. Stuttgart 1911. Band 7, S. 5-32.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon