II.

[32] Nach Hebron!

Welche Erinnerungen knüpfen sich an den Namen dieser alten, berühmten Königs- und Levitenstadt! Man sagt, sie sei die älteste der Städte des Gelobten Landes. Nach 4. Mose 13, 23 bestand sie schon dreitausend Jahre vor Christi Geburt. Nach der Tradition des Mittelalters lag in ihrer Nähe die Stelle, an welcher Gott den Adam[32] schuf. Sie hieß früher Kiriath Arba, wo mythenhafte Riesen wohnten, und war später die Hauptstadt der Hithiter, deren Fürsten da residierten. Nach der Eroberung von Kanaan durch die Kinder Israel fiel sie der Familie Kaleb zu. Später verlebte König David hier die ersten sieben Jahre seiner Regierungszeit. An ihren Toren wurde Abner von Joab ermordet. Und die Männer, die Isboseth, den Sohn Sauls, getötet hatten, wurden auf Davids Befehl hier aufgehängt. Von Hebron ging die Auflehnung Absaloms gegen seinen Vater aus. Die Stadt fiel während der babylonischen Gefangenschaft den Edomitern in die Hände, die aber von Judas Makkabäus wieder vertrieben wurden. Die Römer zerstörten sie und verkauften ihre Bewohner in die Sklaverei. Die Kreuzfahrer machten Hebron zur Bischofsstadt, die auch den Mohammedanern immer heilig gewesen ist, weil sie der Wohnsitz der Patriarchen war. Schon Abraham wohnte da, und Jakobs Zug nach Ägypten begann von Hebron aus. Die Moslemin nennen Abraham Chalîl er Ramân, Freund des Barmherzigen, wovon Hebron seinen jetzigen arabischen Namen, El Chalîl, bekommen hat.

Hebron ist also in hohem Grade ehrwürdig, leider aber nicht freundlich gegen Fremde, zumal gegen Christen. Die Bevölkerung ist die bigotteste des ganzen Landes, ungefähr neuntausend Mohammedaner und fünfhundert Juden, die zwar vom Christen so viel wie möglich Geld verdienen wollen, ihn aber sonst als einen minderwertigen, wohl gar unreinen Feind betrachten, durch dessen Berührung man sich beschmutzt. Ein durch die Gassen Hebrons gehender Christ tut wohl daran, wenn er sich bemüht, die Augen der »wahren Gläubigen« so wenig wie möglich auf sich zu ziehen, sonst kann es leicht kommen, daß wenigstens die Jugend hinter ihm herläuft, um ihn nicht nur mit Schimpfworten, sondern auch mit noch kompakteren Dingen zu bewerfen. Dieses feindselige Verhältnis spricht sich wohl am deutlichsten durch den Umstand aus, daß es in Hebron kein Gasthaus zur Aufnahme von Christen gibt, obgleich die Stadt durch eine recht gut fahrbare Straße mit Jerusalem verbunden ist. Es müßte jetzt anders sein; ich bin im Jahre 1900 zum letztenmal dort gewesen.

Wenn die Stadt mit dem freundlichen Namen und der unfreundlichen Bevölkerung trotzdem von Europäern besucht wird, wenn auch nicht allzu oft, so hat sie das nur[33] der christlichen Verehrung der Erzväter, besonders Abrahams zu verdanken. Als Sara starb, kaufte Abraham die Doppelhöhle Machpela von Ephron, dem Hethiter, und verwandelte sie in eine Begräbnisstelle. Man sagt, daß dort alle sechs begraben liegen, nämlich Abraham, Isaak und Jakob, Sara, Rebekka und Lea. Die von der heiligen Helena – andere sagen vom Kaiser Justinian – über dieser Stelle gegründete Kirche wurde von den Moslemin in eine Moschee verwandelt, die von Christen leider nicht besucht werden darf. Sie dürfen sich höchstens dem äußern Umfang des Heiligtums nähern. Um weitergehen zu dürfen, muß man eine hohe, fürstliche Person sein und einen besonderen Ferman des Großherrn besitzen. In der Nähe, auf Dêr el Arba'in, findet sich das Grab von Isai, König Davids Vater. Eine halbe Stunde von der Stadt steht die Eiche Abrahams, und man behauptet, daß dies die Stätte sei, wo einst der Hain Mamre gelegen habe. Fast jede besondere Stelle der Umgegend ist mit dem Gedächtnis des Patriarchen verknüpft, und darum ist es mir, so oft ich in Jerusalem war, stets Bedürfnis gewesen, auch Hebron zu besuchen. So auch jetzt.

Am nächsten Morgen, genau sieben Uhr, hielt ein wohlbespannter, bequemer, viersitziger Kutschwagen vor unserer Wohnung. Mustafa Bustani und Thar saßen drin.

»Also doch!« sagte meine Frau, als sie das sah. »Er darf mit!«

Auch ich freute mich darüber. Der Knabe sprang aus dem Wagen und kam, uns abzuholen. Er war festlich gekleidet. Gelbe Schuhe, weiße Strümpfe, eine weiße Hose, darüber ein weißes Beduinenhemd und eine rote Weste mit gelben Husarenschnüren. Auf dem Kopfe ein roter Fez, um den ein weißseidenes Nackentuch gebunden war. Der Bub sah heut' außerordentlich reputierlich aus.

»Wir sind da,« sagte er. »Der Vater läßt bitten, zu kommen!«

Das klang kräftig und offiziell. Leiser aber und in vertraulichem Tone fügte er die Frage hinzu: »Habt ihr gestern abend auch gedacht, daß ich Schläge bekommen werde?«

»Nein,« antwortete ich.

»Nicht? Ich habe es sehr gedacht, sehr, sehr! Und ich wollte, er hätte mich geschlagen.« Er sann einen Augenblick nach und wiederholte dann: »Ja, ja, ich wollte es!«[34]

»Warum?«

»Wenn die Strafe vorüber ist, dann ist er nicht mehr zornig und nicht mehr traurig, und es tut auch mir nicht mehr weh. Wenn ich sie aber noch zu erwarten habe, wie wahrscheinlich jetzt, so hat er immer so traurige Augen, und das verursacht mir doppelten Schmerz.«

»Wieso doppelten?«

»Nun, erstens über diese seine Augen und zweitens über die Hiebe, die noch kommen werden. Die fühle ich unaufhörlich voraus, aber, ganz unnützerweise, denn gewöhnlich stellen sie sich dann nicht ein. So wird es vielleicht auch heut'. Trotzdem aber tun sie mir schon seit gestern abend weh. Er hat nämlich kein Wort gesagt, kein einziges. Und heut' früh hat er mich selbst geweckt und auch selbst angekleidet, und als er so still dabei war, da konnte ich es nicht länger aushalten, sondern ich bin ihm um den Hals gefallen, um ihn zu küssen, und habe ihn gebeten, mich zu schlagen, aber tüchtig, tüchtig! Da hat er ganz leise gelächelt und nur den Kopf geschüttelt. Ich halte das für falsch. Oder meint ihr, daß es richtig ist?«

»Was der Vater tut, ist stets richtig. Das mußt du dir merken!« belehrte ich ihn.

»Auch dann, wenn ich es für falsch halte?«

»Auch dann! Denn wenn du so alt sein wirst, wie er jetzt ist, wird dir die Erfahrung gekommen sein, daß er recht gehabt hat. Doch komm'! Er ist so pünktlich gewesen; so dürfen wir ihn nicht warten lassen.«

»Nur noch einen Augenblick!« bat er. »Ich habe euch noch zu sagen, daß heut Freitag ist, also Feiertag. Da ist es mir verboten, mich schmutzig zu machen. Darum habe ich keine Farben mit. Aber ein Held bin ich trotzdem. Es ist nämlich nicht allemal notwendig, daß man sich anmalt, wenn man seine Feinde belegen will. Es gibt auch Fälle, in denen – –«

»– – der Sieg ein wirklicher, kein angemalter ist,« fiel meine Frau lachend ein. »Du sagtest aber doch gestern, daß du heut' die Erstürmung von Jericho malen wollest. Hast du da nicht an den heutigen Freitag gedacht?«

»Nein. Aber es wird überhaupt aus Jericho nichts.«

»Warum?«

»Es fehlt mir der nötige Lärm dazu. Die Posaunen kann man malen, die Mauern auch; aber woher soll man den Lärm nehmen, wenn man keinen machen darf? Es[35] ist wirklich schade, jammerschade! So, nun bin ich fertig. Wir können gehen.«

So brachen wir also auf und gingen zum Wagen. Eben, als wir einstiegen, ritt Osman Achyr, der Ferik-Pascha, auf seinem dicken Esel vorüber, um einen Morgenausflug zu unternehmen. Als er uns sah, zügelte er sein Tier für einen Augenblick, grüßte freundlich nickend und fragte den Bub: »Was für ein Held bist du denn heut'?«

Der antwortete in gewohnter Geistesgegenwart sofort:

»Ich bin Josua, der Eroberer.«

»Wohin willst du?«

»In das Land der Kananiter, um ihnen zu zeigen, daß wir uns nicht vor ihnen fürchten.«

»Wo liegt denn dieses Land?«

»In Chalîl.«

»So nimm dich wohl in acht, mein Junge! Die Leute dort hauen zu, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.«

Hierauf ritt er weiter. Mustafa Bustani versicherte uns, daß er für alles, was unterwegs nötig sei, gesorgt habe. Thar schwang sich neben den Kutscher auf den Bock, wo er sich jedenfalls freier und höher fühlte als bei uns tiefer im Wagen. Dann zogen die Pferde an.

Der Weg führt vom Jaffator ziemlich steil in das Hinnomtal hinab, am Birket es Sultan6 vorüber und drüben wieder hinauf, zur Hochebene El Buckei'a, an deren Ende das Kloster Mar Eljâs liegt, von dem aus sich eine weite, hochinteressante Fernsicht bietet. Man bringt den Namen dieses Klosters mit dem Propheten Elias in Verbindung und behauptet, daß aus dem Brunnen, der in der Nähe liegt, die heilige Familie getrunken habe. Jenseits des Klosters kommt man an das Kubbet Rachil7, wo Rahel, die Frau des Patriarchen Jakob, begraben wurde. Von diesem Orte steht 1. Mos. 35, 19-20 geschrieben: »Also starb Rahel und ward begraben an dem Weg gen Ephrat, welches nun Bethlehem ist. Und Jakob richtete ein Denkmal auf über ihrem Grabe; das ist das Grabmal der Rahel bis auf diesen Tag.«

An dieser Stelle teilt sich der Weg. Links führt er nach Bethlehem und geradeaus nach Hebron. Wir schlugen also die letztere Richtung ein und kamen nach drei Viertelstunden[36] zu den drei »Salomonischen Teichen«, welche in weit vorchristlicher Zeit angelegt wurden, um Jerusalem mit Wasser zu versorgen. So interessant diese Teiche und das in ihrer Nähe liegende Kastell in geschichtlicher und baulicher Beziehung sind, auf unsere Erzählung haben sie keinen Einfluß, und so fahren wir für jetzt an ihnen vorüber. Interessanter ist mir das breite Wadi el' Arrûb, wo auf halbem Wege zwischen Jerusalem und Hebron ein »Café« errichtet ist, damit Menschen und Tiere einen Platz finden, sich auszuruhen. Man hat sich da nicht etwa ein europäisches Café vorzustellen, sondern ein enges, niedriges, steinernes Mauerwerk, in dem ein ziemlich schmutziger Kerl in einem schmutzigen Topfe aus schmutzigem Wasser eine schmutzige Brühe kocht, die er Kaffee nennt und an vorüberreisende Europäer zu sündhaften Preisen verkauft. Aber die Sünde besteht nicht etwa darin, daß er diese Preise fordert – o nein, dazu ist er zu pfiffig. Es könnte ihm dann infolge von Beschwerden die Erlaubnis, Kaffee zu schänken, entzogen werden. Er fängt das klüger an. Von Einheimischen fordert er den denkbar niedrigsten Preis; zu Fremden aber sagt er stets: »Ich nehme, was du mir gibst!« Hiervon ist er durch keine Bitte und durch keine Drohung abzubringen, und da der hier vorüberkommende Europäer fast stets wohlhabend und dabei noch extra in gehobener Stimmung ist, und der Kaffeewirt einen sehr hilfsbedürftigen Eindruck macht, so werden ihm Preise bezahlt, die nicht mehr Preise, sondern Geschenke oder gar Tribute sind. Es kam vor, daß er für ein kleines, orientalisches Täßchen Kaffee, welches einen Inhalt von zwei bis drei Fingerhüten hat, die Hand so lange hinhielt, bis er nach deutschem Gelde eine Mark und noch mehr bekam, wo fünf Pfennige vollständig genügt hätten. Auch ich war immer »nobel« gegen ihn gewesen, hatte aber, als ich das letzte Mal bei ihm war, gesehen, daß er, als ich dann weiterritt, hinter mir herlachte, und das sollte er mir heute nun büßen.

Wir hielten, als wir das »Café« erreichten, bei ihm an und stiegen aus. Er kam herausgeeilt und fragte nach unsern »Befehlen«, indem er sich mehr als demütig tief verneigte. Mustafa Bustani »befahl« fünf Tassen Kaffee, dann nochmals fünf und hierauf sogar zum drittenmal fünf. Also fünfzehn Tassen! Das zog. Der Mann zerfloß in Unterwürfigkeit; aber er wußte, daß Mustafa Bustani, der geschäftlich oft nach Hebron reiste und hier einkehrte, kein[37] Fremder war. Den konnte er also nicht als Europäer behandeln. Aber dann, als wir uns anschickten wieder einzusteigen, zog ich den Beutel. Da strahlte sein ganzes Gesicht. Ich fragte, was die fünfzehn Tassen kosteten.

»Gib, was du willst,« sagte er.

»Ich gebe nur, was du verlangst!« erklärte ich.

Das half mir aber nichts. Er stellte absolut keinen Preis. Und als ich ihm drohte gar nichts zu zahlen, wenn er nichts verlange, antwortete er einfach: »So schenke ich es dir!« Dies war der Kniff, der ihm stets gelang. Er nahm an, daß kein Europäer sich von ihm etwas »schenken« lassen werde. Da tat ich, als sei ich überwunden und gab ihm einen Franken. Der Frank ist nämlich in Palästina die beliebteste Silbermünze. Er sah ihn an, hielt ihn mir wieder hin und sagte: »Den schenk' ich dir!« Ich nahm das Geld zurück, gab ihm dafür erst zwei Frank, dann drei Frank. Er gab mir auch dies beides mit den Worten wieder: »Dies schenk' ich dir!« Ich kannte den Mann; ich wußte, wie weit ich gehen durfte. Seine Geldgier wuchs mit der Höhe der Gabe. Ich gab ihm vier und dann sogar fünf Franken. Bei der letzteren Summe schloß er allerdings die Hand und machte eine Bewegung, als ob er das Geld einstecken wolle. Dabei sah er mich forschend an. Ich machte mein gutmütigstes Gesicht und hob die Hand, als ob ich noch weiter in den Beutel greifen wolle. Das war zu viel für ihn; er konnte nicht wider stehen. Er hielt mir auch die fünf Franken wieder hin und sagte in einem Tone, als ob dies für ihn gar nichts sei: »Ich schenke dir auch das!«

Da nahm ich es zurück, tat es in den Beutel, aber recht hübsch langsam, um ihn nicht um den kleinsten Teil des Genusses zu bringen, steckte den Beutel ein und antwortete:

»So weiche ich deiner Güte und nehme dein Geschenk an. Ich danke dir! Leb' wohl! Allah segne dich und dein großmütiges Haus für alle ferneren Gäste!«

Hierauf stiegen wir ein, doch ohne uns zu beeilen, denn das Gesicht, welches er machte, war des größten Zögerns wert. Er hielt die Arme weit ausgestreckt, als ob er uns festhalten wolle. Der Mund stand ihm offen. Und auf dem Gesichte lag der Ausdruck einer Bestürzung, die fast an Entsetzen grenzte. Er war sprachlos, brachte kein Wort, keinen Laut hervor. Da zogen die Pferde an und fielen, um die verlorne Zeit einzubringen, sogleich in Trab. Als[38] wir an der nächsten Biegung des Weges zurückschauten, stand der Mann noch immer starr auf demselben Flecke. Ein allgemeines, herzliches Lachen, in welches sogar der arabische Kutscher einstimmte, war die Folge. – Der weitere Weg bietet viel geschichtlich Interessantes, was aber nicht auch in anderer Beziehung interessant erscheint. In Aïn ed Dirwe gibt es eine schön mit Quadern gefaßte Quelle, wo nach Apostelgeschichte 8 der Apostel Philippus den Schatzkämmerer der Königin Candace von Äthiopien taufte. Später kommt man an den Ruinen von Beth Zur vorüber, welches Josua 15, 58 und Nehemia 3, 16 erwähnt wird und zur Zeit der Makkabäer von Bedeutung war. Nach etwa einer halben Stunde liegt links von der Straße, vielleicht 400 Schritte von ihr entfernt, ein großes Mauerwerk, Haram Ramet el Chalil8 genannt, in dem sich eine Zisterne, der sogenannte »Brunnen Abrahams« befindet. Mit diesem Platze haben wir uns noch eingehend zu beschäftigen.

Schon längst, ehe man an dieser Stelle vorüberkommt, kündigt sich die Nähe der Stadt durch Weinberge und Gärten an, deren Früchte schon im Altertum einen guten Ruf besaßen. So sagt man z.B., daß die Riesentraube, welche die Kundschafter dem Moses brachten, bei Hebron am Bache Eskol geschnitten worden sei. Zu fahren hat man von hier aus nach der Stadt nicht ganz eine halbe Stunde. Früher pflegte ich, so oft ich nach El Chalil kam, bei dem alten, ehrwürdigen und gegen Bekannte außerordentlich gefälligen Juden Eppstein einzukehren, welcher, weil er aus Deutschland stammt, der deutschen Sprache mächtig ist und sich jedes Deutschen annimmt, soviel es seinen, bei dem hiesigen Christenhaß allerdings nur schwachen Kräften möglich ist. Heute konnte ich das nicht, und zwar um Mustafa Bustanis willen, mit dem wir kamen. Er hätte sich durch die Einkehr bei einem Juden für immer um seinen ganzen guten Ruf gebracht. So fuhren wir denn zu einem seiner Geschäftsfreunde, der Platz genug besaß, Pferde und Wagen unterzubringen. Ob aber auch uns, nämlich mich und meine Frau? Glücklicherweise war der Mann einer der wenigen Toleranten9, die es hier in Hebron gab. Wir wurden nach einigem Zögern aufgenommen, aber von Mustafa und seinem Sohne getrennt und in einem kleinen viereckigen Raume untergebracht, der keine Fenster hatte. Um Licht zu haben,[39] mußte man die Tür offen lassen, die nach einem stinkend schmutzigen Hof führte. Als einziges Möbel gab es eine Strohmatte, auf die man sich setzen konnte, wenn man so kühn war, dies zu wagen. Als wir hier eine halbe Stunde zugebracht hatten, brachte man uns einen alten Krug voll übergestandenen Wassers, welches nicht zu trinken war. Auf unsere Fragen konnten wir weiter nichts erfahren, als daß dieses Wasser alles sei, was man uns bieten könne, denn wir seien ja Christen, aber doch keine Moslemin. Aus diesem Kruge werde nun niemand mehr trinken, weil er von uns verunreinigt worden sei. Das war die Gastfreundschaft eines »toleranten« Moslems. Wie mochte es um diejenige eines intoleranten beschaffen sein?! Ich ließ Mustafa Bustani zu mir bitten. Er kam und brachte Thar mit. Er entschuldigte sich. Man hatte ihm mitgeteilt, daß man uns ganz standesgemäß untergebracht und für uns gesorgt habe. Wir teilten ihm mit, daß wir nun doch zum Juden Eppstein gehen würden, und Thar war sofort entschlossen uns zu begleiten. Sein Vater hatte nichts dagegen. Er konnte sich uns nicht so, wie er wünschte, widmen. Nun er einmal da war, hatte sich die Notwendigkeit geschäftlicher Besprechungen und Besuche herausgestellt, die ihn ganz in Anspruch nahmen und bei denen ihn der Knabe nichts weiter als nur stören konnte. Er war uns also dankbar dafür, daß wir ihn mitnehmen wollten. Zunächst aber schlug er vor zu dem Araber zu gehen, der den Sattel zu verkaufen hatte. Die Reise sei dieses Sattels wegen unternommen worden, und darum verstehe es sich ganz von selbst, daß diese Angelegenheit zuerst erledigt werde. Da fragte meine Frau:

»Ist es denn heut', am Freitag, erlaubt zu kaufen und zu verkaufen?«

»In diesem Falle ja,« antwortete er. »Wir wohnen nicht hier, sondern wir sind Passanten und können nicht warten.«

»Aber wir sind doch auch in Beziehung auf die Gastlichkeit Passanten, die nicht warten können! Warum ist der Islam nachgiebig, wenn es sich im Geldverdienst handelt, aber rücksichtslos und hart, wenn es darauf ankommt, dem Nächsten Liebe und Güte zu erweisen?«

»Ich bitte, meinen Geschäftsfreund nicht mit dem Islam zu verwechseln!« bat Mustafa Bustani. »Für den Islam gehört die Gastfreundschaft zu den Tugenden, die keinem Menschen erlassen sind.«[40]

»Auch gegen Andersgläubige?«

»Auch gegen Christen, Juden und Heiden.«

»Wie es nur kommen mag, daß die Bewohner von Hebron die vom Islam vorgeschriebenen Tugenden nicht üben und sich trotzdem oder vielmehr grad darum für tadellose Bekenner des Propheten halten?«

»Diese Frage kann wohl niemand beantworten.«

»O doch!« fiel ich ein.

»Wer?« erkundigte er sich.

»Unser Thar hat sie beantwortet.«

»Wann?«

»Heut' früh, als er mit dem Ferik-Pascha sprach.«

Der Bub hatte uns zugehört. Als er jetzt erfuhr, daß er eine Frage beantwortet habe, von der sein Vater meinte, daß niemand sie beantworten könne, fühlte er sich in hohem Grade wichtig und rief bestätigend aus:

»Ja, das ist richtig! Ich weiß immer mehr als andere Leute! Darum werde ich von unserer Köchin und von ihrem Manne stets nur der ›Auserwählte‹ genannt. Was habe ich denn gesagt, Effendi?«

»Du hast die Bewohner von Hebron als Kananiter bezeichnet, zwar nur bildlich, aber doch nicht ohne wirklichen Grund.«

»O ja! Gründe habe ich stets!«

»Sie sind nämlich nur äußerlich Moslemin, innerlich aber noch immer Kananiter. Die Feinheiten des Mosaismus und des Islam sind an ihnen vorübergegangen und nur der Bodensatz blieb haften.«

»Das muß ich mir merken, Effendi, weil ich der erste bin, der es gesagt hat. Den Mosaismus, den vergesse ich nicht, und den Islam auch nicht. Aber wie hießen denn eigentlich die Kananiter alle?«

»Man versteht unter ihnen die Hethiter, die Jebusiter, die Girgasiter, die Heviter, die Amoniter, die Siniter, die Arkiter, die Zemariter, die Arvaditer, die Hamathiter und die Bewohner von Sidon. Diese Namen aber wirst du wohl nicht lange behalten.«

»So hast du hier mein Merkbuch. Bitte, schreib' sie mir ein!«

Er zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seiner Weste und gab es mir. Ich sah hinein. Was da stand, machte mir Freude. Ich sah, daß er ziemlich richtig schrieb und sich bisher nur ernste Dinge aufgezeichnet hatte. Ich[41] fügte die elf Namen hinzu und gab es ihm dann zurück. Er begann sofort sie durchzulesen, um sie sich einzuprägen. Der Vater ging mittlerweile zum Wirt, seinen Dank für die uns erwiesene Gastfreundschaft abzustatten, und kehrte dann zurück, um mit uns den Besitzer des Sattels aufzusuchen. Der Händler holte ihn und zeigte ihn vor. Er erklärte auch, daß er ihn verkaufen wolle und nannte unaufgefordert den Preis, den ich wohl ansehnlich, aber nicht übertrieben gefunden habe. Der Sattel war wirklich ein Prachtstück und das, was für ihn gefordert wurde, wert. Da beging Mustafa Bustani den Fehler zu sagen, daß nicht er, sondern ich der Käufer sei, und sofort erklärte der Araber, daß er mit mir nichts zu tun haben wolle; er halte es für eine Sünde einen Sattel, auf dem ein mohammedanischer Pascha gesessen habe, an einen Christen zu verkaufen. Dabei blieb er, und wir mußten uns unverrichteter Dinge entfernen.

Mustafa Bustani war über diese Behandlung in hohem Grade aufgebracht, doch sahen wir uns gezwungen sie ruhig hinzunehmen. Er begleitete uns nach dem Begräbnisorte Abrahams, hatte damit aber auch kein Glück, denn überall in den engen und schmutzigen Gassen, durch die wir kamen, sah man uns mit feindseligen Augen an, und an Ort und Stelle selbst wurde uns einfach bedeutet, sofort wieder umzukehren, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, vom Volke mißhandelt zu werden. Mustafa Bustani aber solle sich als Moslem schämen, an einem so großen Tage, wie der heutige sei, christliche Personen an das Heiligtum zu führen! Eine solche Unduldsamkeit hatte ich selbst hier noch nicht erlebt, sondern ich war bisher immer bis an das eigentliche, innere Sanktuarium geführt worden, wenn auch nicht hinein. Mustafa Bustani fragte, was für einen großen Tag man denn meine, und jetzt erfuhren wir, daß heute der Geburtstag und zugleich der Verstoßungstag Ismaels sei, denn Hagar sei grad am Geburtstag ihres Sohnes von Sarah in die Wüste getrieben worden. Nun war uns das Verhalten des ungastlichen Geschäftsfreundes, des bigotten Sattelbesitzers und der fanatischen Moscheebeamten erklärlich. Die Erinnerung an die Verstoßung des nationalen Ahnherrn verdoppelte die überhaupt vorhandene Schärfe. Für Juden war es da angezeigt, sich heute ja nicht sehen zu lassen, und für mich desgleichen. Daß ich meine Frau mit hatte, konnte sehr leicht als Mißachtung aufgenommen werden und die Erbitterung nur vergrößern, anstatt sie zu verkleinern. Darum[42] mußte ich Mustafa Bustani mein Wort geben, jetzt direkt zu Eppstein zu gehen, um bei ihm zu essen, und dann die Straßen der Stadt zu vermeiden und nur auswärts liegende Punkte zu besuchen. Davon kamen für heute nur zwei in Betracht, nämlich die Eiche von Mamre und der Haram Ramet el Chalil. Der letztere liegt, wie bereits erwähnt, ungefähr vierhundert Schritte von der Straße nach Jerusalem, und so setzten wir eine genaue Zeit fest, in der Mustafa Hebron verlassen und dort an der Straße den Wagen halten lassen werde, um uns zur Heimfahrt aufzunehmen. Nachdem diese Verabredung getroffen worden war, trennten wir uns. Thar freute sich außer ordentlich darüber, daß er mit uns gehen durfte, und auch ich war nicht gleichgültig über diesen Beweis des Vertrauens, den sein Vater mir gab, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Mein alter, braver Eppstein nahm uns im höchsten Grade gastlich auf. Er gab uns sein mir sehr wohlbekanntes »bestes Zimmer«, welches verhältnismäßig luftig auf dem platten Dache liegt. In dem Tagebuche meiner Frau, die sich derartige Dinge gern notiert, sind hierüber folgende Zeilen zu lesen: »Es war ein sehr heißer Tag. Wir bekamen ein schönes, kühles, gewölbtes Zimmer, welches zwei weitgeschweifte Bogen hatte. An drei Seiten Fensteröffnungen und an der vierten Seite die Tür. Der Raum war nach dortigen Verhältnissen splendid zu nennen. Die Ausstattung bestand aus zwei Betten, einem auf drei alten Kisten aufgebauten Divan und einem Tisch nebst vier Stühlen mit Holzsitzen, die aber mit weißen Kappen, welche auch noch eine Falbel hatten, belegt waren. Ein schöner Wasserkrug, wie er schon zu Christi Zeiten in Gebrauch war, stand in einer Ecke. Die Wände waren blau getüncht. Auf einem der Stühle stand ein Waschservice aus Messing. Über die Bilder, die an den Wänden hingen, schweige ich. Bewirtet wurden wir mit vorzüglichem Hebronwein, die ganze Flasche für einen Frank. Das Essen, welches man uns vorsetzte, zeugte von großer Mühe, die man sich gegeben hatte, doch wäre diese Mühe gewiß einer bessern Sache wert gewesen.«

Leider wurden wir durch die Verhältnisse verhindert nach den Speisen zu schicken, die Mustafa Bustani aus Jerusalem mitgenommen hatte. Sie waren im Wagen gut verpackt und kamen uns dann später, während der Heimfahrt, wohl zu statten.

Während des Essens berichtete uns Eppstein, daß heute[43] großes, muselmännisches Kinderfest sei, zur Feier der Geburt des Knaben Ismael. Da ziehen die Kinder hinaus ins Freie, um allerlei friedliche und kriegerische Spiele zu unternehmen, begleitet von Erwachsenen, denen es ansteht, die Aufsicht über sie zu führen. Da wird so viel von der Verstoßung und von andern erlittenen Ungerechtigkeiten erzählt, daß es keinem Andersgläubigen zu raten ist, etwa den Zuschauer spielen zu wollen. Als Eppstein hörte, daß wir die Absicht hätten nach der Eiche und nach dem Brunnen Abrahams zu reiten, gab er uns den Rat uns sofort zu entfernen, falls ein solcher Kinderzug sich einem dieser Orte nahen sollte. Da rief Thar entrüstet aus: »Entfernen? Also fliehen? Das fällt uns gar nicht ein! Ich und der Effendi, wir fürchten uns nicht, und unsere Gattin fürchtet sich auch nicht, denn ich habe ihr extra gesagt, daß ich ein Held bin und daß sie sich in jeder Not auf mich verlassen kann!«

»Ein Held?« fragte Eppstein lächelnd, indem er ihn so ansah, wie man eben Kinder anzuschauen pflegt, die sich als Helden preisen.

Damit kam er aber bei dem Bub an den Unrechten. Der stand vom Tisch auf, trat auf ihn zu und antwortete:

»Du lächelst über mich? Das dulde ich nicht! Ich heiße Thar, und wehe dir, wenn ich eine Rache gegen dich habe!«

»Das würde wohl schlimm für mich?« scherzte der Jude.

»Du lächelst immer noch? Hüte dich! Ich zähle zwar erst elf Jahre, aber es gibt in ganz Jerusalem nicht einen einzigen Vierzehnjährigen, den ich nicht schon niedergerungen habe!«

»Hältst du etwa auch mich für einen Vierzehnjährigen?«

»Nein. Aber wie alt bist du?«

»Sagen wir sechzig!«

»Sag' meinetwegen hundert; das ist mir gleich. Paß auf!«

Er schnellte sich an die Rückseite des Juden und legte ihm von hinten die Arme um den Leib. Ein Ruck, ein Druck, und – Eppstein saß an der Erde, grad da, wo er soeben gestanden hatte. Das war natürlich eine Folge der Schnelligkeit, mit der ihn der Bub überrumpelt hatte, aber es gehörte trotzdem eine Körperkraft dazu, die weit über die gewöhnliche eines elfjährigen Knaben ging. Dieser kehrte an seinen Platz zurück, nickte dem Juden befriedigt zu und sagte:

»Erst hast du oben gelächelt, nun lächle unten!«[44]

Und Eppstein lächelte, aber ganz anders als vorher. Er sah sich nach allen Richtungen um, besonders nach der Tür, krabbelte sich langsam wieder auf und bat mit erhobener Hand und in gedämpftem Tone:

»Pst – –! Still – –! Pst – –! Ich hoffe, wir sind verschwiegen! Wer hätte das gedacht! Du bist ein Teufelsjunge! Aber die Ehre befiehlt, daß nicht hiervon gesprochen wird! Darum verzeihe ich dir!«

Er ging nach der Tür, öffnete sie und schaute hinaus um sich zu überzeugen, daß niemand von seinem Personal hinter ihr gestanden und vielleicht etwas gehört habe. Dann fragte er den Knaben:

»Woher hast du denn eigentlich diese Schnelligkeit und diesen überraschenden Griff?«

»Vom Klub der Löwen,« antwortete der Bub.

»Was ist das? Und wie und wo?«

»In Jerusalem. Wir Knaben haben da vier Klubs, um uns zu üben. Den Klub der Löwen; der spielt vor dem Jaffator. Den Klub der Elefanten; der spielt vor dem Damaskustor. Den Klub der Nilpferde; der spielt vor dem Stephanstor. Und den Klub der Walfische; der spielt im Siloahteich. Ihr hört, daß dies lauter starke, edle Tiere sind. Die Löwen siegen durch Schnelligkeit und Kraft des Sprunges; das habe ich hier getan. Die Elefanten treten einander nieder, was sich ganz von selbst versteht. Die Nilpferde rennen mit den Köpfen aneinander, wobei das stärkere stehen bleibt, das andere aber zusammenbricht. Und die Walfische kämpfen nur im Ozean. Der, welcher den andern untergetaucht hat, der nimmt den Mund voll Wasser und bläst es in die Luft, wie Walfische tun. Das ist der Sieg! Ich bin bei allen vier Klubs und noch niemand hat mich überwältigt. Wollen wir einmal Nilpferd machen?«

Er senkte den Kopf, um Eppstein anzurammen. Der aber trat schleunigst zur Seite und rief:

»Laß mich in Ruhe! Ich bin keine von diesen Bestien! Ich wollte nur warnen, aber nicht meuchlings überfallen werden! Soll ich für den beabsichtigten Ritt einen zuverlässigen Eselsverleiher bestellen?«

»Ja,« antwortete ich. »Doch möglichst einen, der kein Christenfresser ist.«

»Da gibt es nur einen und den werde ich kommen lassen. Es tut mir leid, daß grad heute ein solcher Tag des Hasses ist und daß man der Dame nicht einmal gestattet hat, sich[45] auch nur das Äußere der Moschee anzusehen. Ich habe es aber stets gesagt und sage es auch jetzt wieder: Wäre der Glaube dieser Leute rein und edel, so hätten sie nicht nötig, ihre Heiligtümer vor andern zu verbergen!«

Er entfernte sich, um nach dem Eselstreiber zu senden. Thar aber zog sein Merkbuch hervor, um sich die letzten Worte des Juden zu notieren. Sie erschienen ihm wichtig genug, behalten zu werden. Der Hammahr10 stellte sich in kurzem ein, um unsere Bedingungen zu hören. Er sah mürrisch aus, war aber ein gutmütiger und gar nicht ungefälliger Mensch. Pferde hatte er überhaupt nicht, Esel waren nicht mehr zu haben; man hatte sie des Festes wegen schon Tage vorher bestellt. Aber es gab drei Maulesel, die er uns bringen konnte. Er war ehrlich genug, uns zu sagen, daß sie nicht zum Reiten, sondern nur zum Karrenziehen berufen seien, und daß besonders einer von ihnen einen sehr störrischen Charakter habe; aber wir mußten froh sein, daß diese lieben Tiere grad noch zu haben waren, schlossen mit dem Manne ab und forderten ihn auf, sie ohne Verzug zu holen.

Wenn der Orientale und zumal der Hammahr verspricht, ohne Verzug zu erscheinen, so meint er damit, daß er in einer oder gar erst in zwei Stunden kommen werde. Dieser aber war brav; er stellte sich schon nach einer halben Stunde ein und er wäre sogar schon eher gekommen, wenn er es nicht für notwendig befunden hätte, seine Maulesel vorher etwas herauszuputzen. Ich will sie nicht beschreiben, sondern nur einfach eingestehen, daß ich bei ihrem Anblick einen nicht geringen Schreck bekam. Sie bestanden aus Haut und Knochen, waren wohl monatelang weder gewaschen noch geputzt und gestriegelt worden und das, was wir als Sattel- und Riemenwerk betrachten sollten, war lauter zusammengesuchtes Zeug, welches aber nicht zusammenpaßte. Besonders war der Damensattel ein Produkt so kühner und gedankenvoller Improvisation, daß ich dem Hammahr für diese Leistung der freien, künstlerischen Erfindung gleich im voraus ein Extrabakschisch in die Hand drückte, eine Tat, für die er mich seiner ewigen Liebe, Treue und Ergebenheit versicherte.

Ganz selbstverständlich ließen wir die armen Tiere schleunigst füttern. Sie fraßen alles Genießbare, auch alles Brot, das sich in Eppsteins Haus befand, und waren dann noch immer nicht satt. Das Schönste an ihnen waren ihre Namen.[46] Das meinige hieß Güwerdschina; das bedeutet zu deutsch »die Taube«. Natürlich hatte ich mir grad dasjenige gewählt, welches als störrisch bezeichnet worden war. Und es traf ein: Wir sollten unsere Freude an ihm haben und zwar in bösem, wie dann auch in gutem Sinne. Als wir nämlich bezahlt hatten und aufstiegen, um fortzureiten, stellte sich heraus, daß Güwerdschina nicht mitmachen wollte. Sie war nicht von der Stelle zu bringen. Ich wendete alle meine Reitkünste an; der Hammahr selbst machte den Versuch und die Bediensteten Eppsteins taten dasselbe, doch vergebens. Sie kannten üb rigens das Vieh und versicherten, daß es sich lieber totschlagen lasse, als auch nur zwei Schritte von der Stelle gehen werde. Was sollte ich tun? Zu Fuße gehen wie der Hammahr? Nein! Ich stieg wieder auf und befahl ihm, Güwerdschina zu führen. Da ging sie nämlich mit. Ich hoffte sie draußen, wenn wir die Stadt hinter uns hatten und uns auf freiem Feld befanden, zu Verstand bringen zu können – und das gelang mir auch, aber nicht ganz. Gute Worte und Liebkosungen halfen nichts, Schläge noch weniger. Da versuchte ich es mit dem Daumen, den ich der »Taube« zwischen die ersten Rückenwirbel grub, von der Seite her natürlich. Da schoß sie vorwärts und gehorchte einige Zeit, aber ja nicht allzulange; dann war ich gezwungen, das Experiment von neuem anzuwenden. So quälte ich mich mit dem bockbeinigen Tiere während des ganzen Weges, der eine halbe Stunde lang zwischen Gärten nach der Eiche führt, von der man behauptet, daß sie aus der Zeit des ersten Patriarchen stamme. Dies ist eine Übertreibung. Sie gehört zur Gattung Quercus ilex pseudo-coccifera, hat unten einen Umfang von ungefähr zehn Metern und teilt sich vier Meter hoch in mehrere ungeheure Äste, die zum großen Teil bereits abgestorben sind. Der Baum, der schon im sechzehnten Jahrhundert verehrt wurde, hat jedenfalls ein ganz bedeutendes Alter, wird aber wohl nicht mehr so lange stehen, wie er gestanden hat. Er gehört den Russen, die hier ein Hospiz und einen Aussichtsturm erbaut haben, von dessen Höhe aus man bis zum Toten Meere sieht. Der Schlüssel zu diesem Turm ist im Hospiz zu holen; man hat hierfür eine Kleinigkeit zu entrichten. Ich schickte Thar, um ihn zu bringen und dann wieder abzugeben. Als er das letztere getan hatte, brachte er eine Schnur mit, die er sich hatte geben lassen.[47]

»Die ist für deine liebe Güwerdschina«, sagte er, indem er sie mir zeigte.

»Wieso?« erkundigte ich mich.

»Ich werde dich bitten, sie an deiner Stelle reiten zu dürfen.«

»Glaubst du sie von der Stelle zu bringen?«

»Mit Leichtigkeit.«

»So, weißt du ein Mittel?«

»Ja, es hilft auf jeden Fall.«

»Warum hast du es mir nicht gleich mitgeteilt?«

Da zwinkerte er mich listig mit den Augen an, lachte, daß seine prachtvollen weißen Zähne glänzten, und antwortete:

»Weil ich dir eine doppelte Freude bereiten wollte; doppelt aber erfreut das Mittel nur dann, wenn man sich vorher geschunden hat. Paß auf!«

Er band die Mitte der Schnur in einem festen Knoten um den Schwanz der »Taube«, so daß die beiden Enden herunterhingen, und stieg in den Sattel. Wir wollten aufbrechen, um jetzt nach dem Haram Ramet el Chalil zu reiten. Meine Frau saß schon auf ihrem Tiere und ich stieg auf dasjenige, welches Thar bisher geritten hatte. Wir warteten also nur, was der Bub tun werde. Dieser ließ sich von dem Hammahr die beiden Schnurenden reichen, behielt sie aber einstweilen nur locker in den Händen.

»Nun paßt auf, wie schnell das hilft!« sagte er. »Laßt mich voranreiten; macht Platz!«

Wir wichen zur Seite. Da trieb er die liebe Güwerdschina an. Sie wedelte mit den Ohren und mit dem Schwanze, tat aber keinen Schritt. Da schlug er sie; es half nichts. Er brüllte sie an; er stemmte ihr die Füße in den Leib – – vergeblich. Da zog er die beiden Schnüre an. Dadurch wurde der Schwanz emporgehoben und über den Rücken des Maulesels nach vorn gestülbt. Der Bub legte sich die Schnüre um den Leib und machte einen Knoten. So waren sie also fest angespannt und konnten nicht zurück. Die Güwerdschina erschrak sichtlich. So etwas war ihr im ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Sie bewegte die Ohren wie Windmühlenflügel. Sie wollte auch mit dem Schwanze wedeln; das ging aber nicht. Da ließ sie die Ohren hängen und dachte nach. Der Bub fügte zu dieser geistigen Anstrengung einige derbe Hiebe. Da wendete die »Taube« den Kopf nach der rechten Seite, um nach hinten zu sehen, sah aber nichts. Und sie wendete ihn nach der linken Seite, um nach hinten[48] zu sehen, konnte aber auch hier den Schwanz nicht sehen, obgleich sie sich die größte Mühe gab, ihn zu bewegen.

»Jetzt wird ihr himmelangst!« lachte Thar. »Sie denkt, der Schwanz sei fort. Sie glaubt, da hinten gehe etwas Fürchterliches vor. Nun wird sie laufen, was sie laufen kann!«

Kaum hatte er das gesagt, so ließ die Güwerdschina ein markerschütterndes Wiehern hören, machte einen krummen Katzenbuckel, tat einige Seitensprünge nach rechts und nach links und schoß dann mit einer Schnelligkeit geradeaus, als ob sie sich den Kopf einrennen wollte. Es gehörte ein sehr fester Sitz dazu, dabei nicht herunterzufallen, doch Thar behauptete sich mühelos im Sattel. Wir folgten ihm so schnell wie möglich und herzlich lachend, denn bei dem angstvollen, tragikomischen Gebaren des Maulesels war es geradezu unmöglich, ernst zu bleiben.

Der neue Weg führte über die Ruinen des Dorfes Chirbet en Nasara nach der Straße von Jerusalem. Da holten wir den Buben ein, der stolz auf seinem Tiere saß, welches ihm nun ganz leidlich gehorchte. Von der Straße aus ging es dann die erwähnten vierhundert Schritte nach dem »Brunnen Abrahams«, der in der Ecke eines quadratischen, großen Mauerwerkes liegt. Wozu diese Mauern bestimmt gewesen und ob sie überhaupt jemals ausgebaut worden sind, das weiß man nicht. Jetzt liegen sie in Trümmern. Die Blöcke sind ganz ohne Mörtel auf- und aneinander gefügt und oft bis fünf Meter lang. In Baalbek habe ich zwar derartige Quader von über neunzehn Meter Länge gesehen, aber fünf Meter beweisen doch auch schon zur Genüge, daß man zur Zeit, als diese Mauern entstanden, bedeutende Lasten zu bewegen wußte. In der Nähe liegt noch eine andere Zisterne, die man »das Bad der Sarah« nennt. Auch gibt es zwei in dem Felsen angebrachte Ölkeltern und unweit davon die Ruinen einer großen Kirche, möglicherweise der Basilika, welche Konstantin der Große bei der »Terebinthe von Mamre« erbaute. Man nennt diese Stelle noch heute das »Terebinthental« und es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß hier die Gegend des einstigen Haines Mamre zu suchen sei.

Als wir das Mauerviereck erreichten, sahen wir eine ärmlich gekleidete Araberin, die mit einem kleinen Mädchen in der Brunnenecke saß. Sie zog sich bei unserm Anblick sofort vom Wasser zurück. Wir schöpften für unsere Tiere[49] und dann, als sie getrunken hatten, machte sich meine Frau daran den Platz zu photographieren. Als der Hammahr das sah, brachte er sich und seine Maulesel sofort in Sicherheit, denn er war der Meinung, daß nur Christen und Juden das Photographieren aushalten können, jede andere Kreatur aber, gleichviel ob Mensch oder Tier, daran zugrunde gehen müsse. Schließlich aber trieb ihn die Neugierde doch, sich in der Nähe an den Stein zu stellen um zuzuschauen. Er sah das »Auge des Ungeheuers«, nämlich das Glas der Kamera, auf mich nach der Ecke gerichtet und war überzeugt nicht mit getroffen zu werden; die Sonne aber hat auch ihn mit an das Licht gebracht. – Eigentlich brauchten wir ihn und seine Maulesel nicht mehr. Wir befanden uns an Ort und Stelle und konnten die paarhundert Schritte nach der Straße, wo wir auf Mustafa Bustani warten sollten, auch zu Fuß zurücklegen. Das sagte ich ihm, als das Photographieren vorüber war, und lohnte ihn ab. Es ist im Verkehr mit andern Menschen niemals meine Art und Weise gewesen zu knickern und zu feilschen. Man kommt mit offener Hand bedeutend weiter als auf dem Wege des Geizes. So auch hier. Der Hammahr zählte, was ich ihm gegeben hatte, und sagte dann:

»Das ist zu viel, Effendi.«

»Nein,« antwortete ich. »Ich gebe es dir gern. Du bist freundlich und höflich gewesen und hast dieses Bakschisch also verdient.«

»Auch als Bakschisch ist es zu viel. Aber vielleicht verdiene ich es mir noch besser. Ich werde also diesen Ort nicht eher verlassen, als bis auch du ihn verlässest. Ich habe nichts weiter zu tun und es ist ja doch nicht ausgeschlossen, daß ich dir noch dienen kann.«

Was Thar betrifft, so hatten wir geglaubt, daß er sich für das Photographieren interessieren werde; er tat dies aber nicht. Die fremde Araberin und ihr Töchterchen übten größere Anziehungskraft auf ihn aus, als der ihm schon wohlbekannte, schwarzverhangene Apparat. Er suchte an sie zu kommen. Er schlängelte sich nach Knabenart erst von weitem um sie herum, kam ihnen immer näher, saß dann plötzlich zwischen ihnen drin und redete mit einer Vertraulichkeit auf sie ein, als ob er ein längst Bekannter oder gar Verwandter von ihnen wäre. Als ich nach vollendeter photographischer Aufnahme wieder mit meiner Frau am Brunnen saß, brachte er uns das kleine Mädchen zugeführt.[50] Ihre Mutter blieb sitzen. Das Kind hatte ein gar liebes und zartes, aber trotzdem kerngesundes Gesichtchen, leise gerötete Pfirsichwangen und große, blaugraue Sammetaugen, deren Blick so tief aus dem Innern zu kommen schien, daß er wie ein holdes, aber noch völlig unberührtes Rätsel wirkte. Eine Fülle lichtbraun gewellten Haares quoll unter einem roten Käppchen hervor. Das eine kleine, sonnverbrannte Händchen hielt einige lange, große Glockenblumen gefaßt. Das andere versteckte sich in die Falten des dünnen, aber fleckenlosen Kleidchens und die niedlichen, dunkelgebrannten Füßchen mit den winzigen, elfenbeinernen Miniatur-Nägeln an den feinen Zehen machten einen so eigentümlichen Eindruck auf mich, daß ein unendliches Erbarmen und der Wunsch in mir aufstieg, diesem ebenso schönen wie armen Kinde irgend einen recht, recht großen Dienst erweisen zu können. Genau dasselbe fühlte, wie sie mir später mitteilte, auch meine Frau.

»Hier bringe ich euch meine neue Freundin,« sagte der Bub, indem er sie uns hinschob.

»Wie heißt sie denn?« erkundigte sich meine Frau.

»Das weiß ich nicht. Frag' sie selbst! Ich habe noch weiter gar nichts mit ihr reden können als dreierlei: nämlich daß sie mir gefällt, daß ich ein Held bin und daß ich für sie kämpfen werde.«

»Ich bin Schamah,« sagte das Kind, den Ton auf die zweite Silbe des Wortes legend; »und dort ist meine Mutter!« Das andere Händchen kam aus den Falten hervorgekrochen und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf die Araberin. Die Stimme klang weich, aber eindringlich; sie hatte einen Ton, der nicht leicht zurückzuweisen ist.

»Was heißt Schamah?« fragte mich meine Frau, indem sie das Kind an sich zog und liebkoste.

»Es ist die ostjordanländische Aussprache von Samah, Verzeihung,« antwortete ich.

»Du kleines, reines Seelchen,« lächelte meine Frau auf das Kind herab; »dir wird man wohl noch nichts zu verzeihen haben!«

»Ich bringe euch Glocken,« lächelte Schamah zurück. Und die Blumen an das Ohr meiner Frau emporhaltend und dort bewegend, fuhr sie fort: »Jetzt läute ich sie. Kannst du es hören?«

»Ja, ich höre es.«[51]

»Nicht wahr? Ganz leise, leise, leise, wie aus dem Himmel herunter! Aber wenn sie großgewachsen sind, so groß, wie sie in der Kirche hängen, dann wird die ganze Welt das Läuten hören.«

»Du sprichst von der Kirche?« fragte Thar. »Bist du vielleicht Christin?«

»Ja, eine Christin,« nickte sie.

»Und deine Mutter auch?«

»Sie auch.«

Da klatschte er in die Hände und rief:

»Das ist schön! Das ist gut! Das freut mich!«

»Warum?«

»Weil ich eben ein Held bin und weil ich für dich kämpfen will. Für eine Mohammedanerin kann man keine Heldentaten verrichten. Die wickelt sich in Tücher ein und humpelt, häßlich wie ein Frosch, mit hölzernen Pantoffeln an den Füßen. Die Christinnen aber kann man sehen und das ist notwendig, wenn man begeistert werden soll, das Leben für sie in die Schanze zu schlagen. Unsereiner muß sich doch auch sehen lassen! Weißt du, wie ich ausschauen werde, wenn ich für dich kämpfe?«

»Doch so wie jetzt! Oder nicht?«

»Nein. Mein jetziges Aussehen ist nicht tapfer genug. Weißt du, schon die Farbe hat den Feind zu erschrecken! Darum male ich mich an, sobald es zum Kampfe geht. Im Gesicht bin ich auf der einen Seite blau und auf der andern grün – – –«

»Pfui!« unterbrach sie ihn.

»Die Beine streiche ich rot an und die Arme gelb –«

»Pfui, pfui!«

»Auf dem Rücken habe ich weiße und schwarze Striche von oben nach unten, und vorn habe ich schwarze und weiße Striche von hüben nach drüben.«

»Pfui, pfui, pfui!«

»Das gefällt dir nicht?« fragte er, halb verwundert, halb enttäuscht.

»Nein, gar nicht! Ich will dich so haben, wie du bist, nicht aber angemalt!«

»Gut, so bleibe ich, wie ich bin! Und wenn ich mir die Sache richtig überlege, so hast du recht, sehr recht. Nämlich wenn ich mich mit meinen Feinden herumschlage, so haben doch sie blau, gelb und grün auszusehen, nicht aber ich. Das werde ich mir merken. Unsere vier Klubs[52] müssen neue und bessere Gesetze haben. Nämlich der, an dem man Farben entdeckt, hat als besiegt zu gelten! Dir zulieb bin ich gern bereit über alle Regeln, die nichts mehr taugen, hinwegzuspringen!«

Er richtete sich so hoch wie möglich auf und gestikulierte mit seinen beiden Armen so überzeugend, daß sie ihre großen Augen bewundernd auf ihn richtete und ihn fragte:

»Ja, ich glaube es schon, daß du ein Held bist; aber wo gibt es denn einen Grund grad meinetwegen, andere totzuschlagen?«

»So ein Grund läßt sich immer finden, zumal wenn man nach ihm sucht. Vielleicht kommt er dort. Schaut hin!«

Er deutete nach der Gegend der Kirchenruine, hinter der Leute hervorkamen, die uns bisher unbemerkt geblieben waren. Es waren zehn bis zwölf Männer, die auf Eseln ritten, und hinter ihnen ein Zug von vielleicht vierzig bis fünfzig Knaben, die Fahnen und allerlei Kinderwaffen trugen. Einige waren mit Lärminstrumenten versehen, die sie jetzt, da sie uns erblickten, in Bewegung setzten. Das war einer jener Kinder-Festzüge, die am heutigen Tage die Umgebung der Stadt belebten.

»Kann das nicht gefährlich werden?« fragte meine Frau. »Wir wollen uns schnell entfernen!«

»Keinesfalls,« antwortete ich; »am allerwenigsten schnell! Wir haben allen Schein, daß wir uns etwa fürchten, zu vermeiden. Wir werden ihnen das Wasser freigeben, aber nicht sofort. Ich hoffe, sie werden uns grüßen!«

Der Zug hatte jetzt den Platz erreicht. Die Männer hielten bei unseren Hammahr an und fragten ihn nach uns. Da erfuhren sie zwar, daß wir Christen seien, aber Schlechteres jedenfalls nicht. Schamahs Mutter verließ ihren Platz und kam zu uns. Sie fürchtete sich vor den fanatischen Leuten aus El Chalil und bat, sich uns anschließen und den Ort mit uns verlassen zu dürfen. Sie sei Christin, eine Witwe aus der Gegend von El Kerak jenseits des Toten Meeres, und mit ihrem Töchterchen auf einer Pilgerreise nach den heiligen Stätten von Bethlehem und Jerusalem. Sie war zwar arm und einfach, aber – ich möchte mich des Ausdruckes bedienen – arabisch chic gekleidet und in der Art und Weise, wie sie sich ausdrückte, pflegt eine gewöhnliche Araberin oder gar Beduinin nicht zu sprechen. Auch sie war schön, aber von jener schwermütigen, durchgeistigten Schönheit, die eine Tochter des Leides, nicht aber des Glückes[53] ist. Meine Frau reichte ihr die Hand und zog sie an ihre Seite heran und ich empfahl ihr, ja keine Sorge zu haben; es werde ihr nichts geschehen.

Jetzt kamen die Reiter auf uns zu. Sie hielten einige Schritte von uns an und stiegen ab. Man sah, daß sie nicht die Absicht hatten, uns zu grüßen. Das durfte ich nicht dulden, denn das hätte die Unverschämtheiten, die ich vermeiden wollte, grad herbeigeführt. Es gibt da eine gewisse Art von Blick, der immer wirksam ist, wenn man ihm die nötige Festigkeit zu geben versteht. Den richtete ich auf denjenigen von ihnen, welcher der Vornehmste zu sein schien. Er wurde verlegen, hob die Hand an die Brust, verbeugte sich leicht und sagte:

»Sallam!«

Das klang sehr kurz.

»Sallam!« antwortete ich darum ebenso kurz, ohne daß ich aufstand.

»Sallam!« antwortete auch der Bub.

»Ich bin Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad11!« rühmte sich der Hebronit.

Noch ehe ich antworten konnte, antwortete der Bub:

»Und dieser mein Effendi ist der oberste Schreiber des Bürgermeisters von Deutschland! In seine Tasche fließen sämtliche Steuern. Er setzt ein oder ab, wen er will. Er ist nach El Chalil gekommen, um von den Russen die Eiche Abrahams zu kaufen und nach Hause schaffen zu lassen. Heil sei ihm!«

Als er das gesagt hatte, nahm er seine »neue Freundin« bei der Hand und ging mit ihr den Knaben von Hebron entgegen. Ich vergaß ganz ihn zu warnen, so entsetzt war ich über die Unverfrorenheit, mit der er seine tollen Behauptungen vorgebracht hatte. Aber das Unerwartete geschah. Die Männer nahmen sie ernst. Sie hielten eine kurze, leise Beratung; dann machten sie alle eine tiefe Verneigung und Abdullah sagte:

»Effendi, du bist ein großer, ein mächtiger Herr, aber leider ein Christ. Wir dürfen dich darum nicht einladen unser Gast zu sein, und werden die Spiele der Jugend erst dann beginnen, wenn ihr diesen Ort verlassen habt.«

Das war eine indirekte Aufforderung, uns aus dem Staube zu machen. Dann gingen sie mit ihren Eseln fort, nach einer entfernteren Stelle. Eine weniger friedfertige[54] Szene spielte sich da ab, wo Thar und Schamah mit den Knaben aus Hebron zusammengetroffen waren. Die letzteren waren in Aufregung. Sie brüllten etwas, was wir nicht verstanden, weil zu viele es riefen. Der Bub stand furchtlos vor ihnen, hatte den linken Arm schützend auf das Mädchen gelegt, gestikulierte mit dem rechten drohend in der Luft herum und hielt eine Rede, die wir auch nicht verstanden. Der Mutter wurde angst um ihr Kind. Ich beruhigte sie. Wir näherten uns der lebhaft bewegten, schreienden Gruppe. Als der Bub uns kommen sah, rief er uns zu:

»Es ist weiter nichts! Sie wollen Schamah ersäufen – im Wasser, dort wo ihr gesessen habt! Weil sie eine Christin ist und das heutige Fest besudelt. Da habe ich gesagt, daß ich das nicht dulde, sondern für sie kämpfen werde. Nun wählen sie einen Anführer, mit dem ich verhandeln soll. Da ist er schon!«

Er deutete auf einen großen, robusten Jungen, der jetzt aus dem Haufen trat, um, wie die Erwachsenen zu tun pflegen, vor dem Kampfe eine Rede zu halten. Er stellte sich in Positur und schrie zu Thar und uns herüber:

»Du bist ein Christenhund und sie ist ein Christenmädchen, also noch schlimmer als ein Hund. Wir werden sie ertränken, da wo die Zisterne so tief ist, daß sie gar keinen Boden hat. Wir sind wahre, strenge und gehorsame Gläubige des Propheten. Wir können nicht dulden, daß heute, am Geburtstage Ismaels, die Füße einer Christin diesen Boden berühren. Sie muß also sterben. Aber du willst um sie kämpfen, weil du sagst, du seiest ein Held. Wir sind bereit dazu, denn auch wir sind Helden. Ich fordere dich auf, mir deine Bedingungen zu sagen!«

Als die Mutter von Schamah das hörte, stieg ihre Angst auf das höchste. Ich aber erklärte ihr, daß es sich zwar wohl um einen wirklichen Zorn, in der Ausübung desselben aber nur um ein Spiel handle; es sei ja heute der »Tag der Jugendspiele«. Sie könne sich darauf verlassen, daß ihrem Kinde nichts geschehen werde. Sie brauche Schamah nicht von unserm Knaben wegzuholen.

Dieser erklärte jetzt dem Kinde:

»Du bist die Königin des Spieles, welches vor deinen Augen stattzufinden hat. Komm', setze dich!«

Sie nahm auf einem Steine Platz, neben den er sich stellte. Dann zog er sein Merkbuch aus der Westentasche, schlug es auf und begann die Gegenrede:[55]

»Ihr nennt mich einen Christenhund, doch bin ich ein Moslem aus Jerusalem, welches größer ist als euer El Chalil. Wer aber seid denn ihr?« Das folgende las er vor: »Ihr seid Kananiter, Hethiter, Jebusiter, Girgasiter, Heviter, Amoriter, Siniter, Arkiter, Zemariter, Arvaditer, Hamathiter und Sidoniter! Die Feinheiten des Islam sind an euch vorübergegangen und nur der Bodensatz ist sitzengeblieben! Wäre euer Glaube rein und edel, so hättet ihr nicht nötig, eure Heiligtümer vor andern zu verbergen!«

Jetzt steckte er das Notizbuch wieder ein und fuhr dann fort:

»Ihr nennt meine kleine Freundin hier noch schlimmer als einen Hund. So etwas sagt kein Held. Ich aber bin einer und darum bin ich höflich, auch gegen euch. Ich werde mit euch kämpfen, aber nicht so, wie es hier bei euch: viele gegen einen, sondern wie es in Jerusalem Sitte ist: Mann gegen Mann. Ihr werdet euch in Löwen, in Elefanten, in Nilpferde und in Walfische verwandeln. Ihr wählt den kühnsten Löwen, den mächtigsten Elefanten, das stärkste Nilpferd und den größten Walfisch unter euch aus. Mit diesen vier Bestien werde ich kämpfen. Wenn einer von euch mich besiegt, so dürft ihr mich ersäufen, nicht aber sie, um die ich kämpfe. Wenn aber ich alle vier besiege, so bekomme ich – – –«

»Hier meine Glockenblumen!« rief Schamah, indem sie das kleine Händchen mit den Blumen hoch emporstreckte.

»Ja, diese deine Glockenblumen,« stimmte Thar bei. »Ihr Hebroniter aber setzt euch jetzt um sie und mich herum, damit ich euch erkläre, was es mit den Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen für eine Bewandtnis hat!«

Sie gehorchten sofort und mit Freuden. Es gab für einige Augenblicke ein wirres Kribbeln und Krabbeln in- und durcheinander hinein; dann aber trat tiefe Stiele ein, in welcher nur die erklärende Stimme des Bub zu hören war. Als sie alle begriffen, um was es sich handelte, erhob sich großer Jubel. So etwas war noch niemals dagewesen! Ein jeder drängte sich dazu, zur Bestie zu werden, und inmitten all dieser Ungetüme, die nach Rache strebten, saß Schamah, die Verzeihung, ein friedliches Lächeln im lieben Angesicht und ohne alle Furcht verletzt zu werden. Und sonderbar, nicht nur die Jungen, sondern auch die Alten fühlten sich begeistert. Sie gesellten sich hinzu. Sie wählten mit und sie bestimmten mit. Sie steckten den Kampfplatz[56] ab und Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad, hatte sogar die Güte, die Ordnungs- und Sicherheitspolizei in die eigene Hand zu nehmen. Von Glaubenszwist und Glaubenshaß war keine Rede mehr.

Der Kampfplatz bildete ein Viereck, welches nördlich von den Löwen, südlich von den Nilpferden, östlich von den Elefanten und westlich von den Walfischen eingeschlossen wurde. Schamah saß an der Südseite auf ihrem Throne, um alles leicht überschauen zu können. Dieser Thron war Güwerdschina, der Maulesel, die sicherste Stelle, die stehen blieb. In den Ecken saßen die Musikanten, eine Tarabukka12, eine Nakara13, ein Nefir14 und eine Suffara15. Die waren verpflichtet, den größtmöglichen Lärm zu machen, so oft unser Bub zu Boden gerungen wäre. Denn daß der Sieg sich auf seine Seite neigen könnte, das hielten die Hebroniten für unmöglich. Sie hatten ihre stärksten Burschen ausgesucht. Die Bedingungen waren sehr einfach: Welcher von den drei ersten Bestienarten auf die Erde zu liegen kam, der hatte verloren. Der Kampf der Walfische aber hatte in der Zisterne stattzufinden. Der Sieger mußte seinen Gegner untergetaucht haben und durfte ihm dann noch öffentlich einen ganzen Mund voll Wasser in das Gesicht blasen. Vor Beginn des Kampfes wurden die vier Heroen aus Chalil gefragt, ob sie vielleicht gesonnen seien, von der Wahl zurückzutreten. »Um keinen Preis!« antworteten sie. Da gab Abdullah, der Schreiber, das Zeichen, daß die Zeit des Löwenkampfes gekommen sei. Der Leu aus Hebron trat vor. Es war derselbe große, robuste Junge, der die Rede gehalten hatte. Er machte, als er sämtliche Augen auf sich gerichtet sah, eine sehr zuversichtliche Miene. Thar stand bei uns.

»Paßt auf, wie schnell es geht!« sagte er. »Die Hauptsache ist, daß man dem Feind keine Zeit läßt, sich zu besinnen.«

Dann betrat er den Platz, ging zu Schamah, verbeugte sich vor ihr und stellte sich hierauf dem Feinde gegenüber. Dieses ritterliche Benehmen kannte er jedenfalls aus irgend einem Sagen- oder Märchenbuch. Nun schlug Abdullah die Hände dreimal zusammen. Der Augenblick war da.

Der Gegner zögerte nicht. Er nahm einen Anlauf. Thar ließ ihn fast ganz heran, sprang dann zur Seite, packte ihn von hinten und knickte ihn genau so, wie den alten Eppstein,[57] auf die Erde nieder, hielt ihn dort fest und rief den Musikanten zu:

»Nun macht ihm den Triumph!«

Sie blieben natürlich still. Der Besiegte stand langsam auf und schlich sich gesenkten Hauptes von dannen.

Hierauf folgte der Kampf der Elefanten. Der feindliche war ein ungefüger Bursche, der zweimal mehr Kraft als unser Bub zu besitzen schien. Dieser letztere aber nickte lächelnd zu uns herüber. Das war ein gutes Zeichen. Er hatte gesagt, daß die Elefanten im Klub einander niedertreten müssen. Er ging noch hierüber hinaus und nahm sich vor, diesen hier nicht nur niederzutreten, sondern niederzuspringen. Er nahm, als das Zeichen gegeben wurde, einen kräftigen Anlauf, schwang sich empor und sprang den Gegner einfach über den Haufen. Im nächsten Augenblicke kniete er auf ihm und rief den Musikanten zu:

»Den Triumph für ihn, laut, laut!«

Allgemeine Stille ringsum. Nur Abdullah, der Schreiber, rief zornig aus:

»O weh! Schon zwei! Das darf nicht geduldet werden! Heraus mit dem Nilpferd! Das muß ihn niederstampfen!«

Das Nilpferd erschien. Es war ein kurzer, dicker Kerl, mit sehr viel Fett, aber wenig Muskel ausgestattet. Der verdrehte kühn die Augen und hatte guten Mut. Er senkte den Kopf wie ein Renner, noch ehe das Zeichen gegeben wurde. Dann rannten sie aufeinander los. Es gab einen gewaltigen Krach; dann lag das Hebroner Ungeheuer am Boden, streckte die Beine in die Luft, hielt sich mit beiden Händen den Kopf und brüllte, als ob man im Begriffe stehe, ihn auf dem Rost zu braten. Der Bub aber stand aufrecht da und lachte den Musikanten zu:

»Da braucht ihr nicht zu trommeln und zu blasen: der tut es selbst!«

Nun sollten die Riesen des Ozeans zeigen, was sie konnten. Das Viereck löste sich auf. Man ging zur Zisterne, in deren Tiefe die letzte Entscheidung stattfinden sollte. Thar war der erste, der dort eintraf; er stand bereit, hinabzusteigen. Die Hebroniten waren weniger schnell. Am langsamsten bewegten sich die Walfische. Der Allerletzte von ihnen, der ankam, war der, welcher mit Thar kämpfen sollte. Er machte ein sehr verlegenes Gesicht, stellte sich an den Rand, schaute hinab und sagte:[58]

»Ich nehme die Wahl nicht mehr an!«

»Du hast sie angenommen und mußt hinab!« erklärte Abdullah, der Schreiber.

»Um keinen Preis! Ich gehe!«

Er drehte sich um und eilte davon.

»So müssen wir neu wählen!« sagte Abdullah.

Da erscholl es aus soviel Kehlen, als noch Walfische vorhanden waren:

»Um keinen Preis! Um keinen Preis! Ich gehe – – ich gehe – – – ich gehe!«

Sie verschwanden – – einer nach dem andern – – – bis kein Walfisch mehr in der Nähe, sondern nur noch in der Ferne zu sehen war. Die Löwen folgten, ohne Adieu zu sagen. Die Nilpferde verkrümelten sich mit samt den Musikanten in ganz derselben Weise. Die Elefanten zottelten meist einzeln, aber auch zu zweien und dreien hintendrein. Zu allerletzt ritten auch die Erwachsenen fort, ohne uns ein Wort oder einen Wink des Abschiedes zu gönnen. Da wendete sich der Bub an Schamah:

»Glaubst du nun, daß ich ein Held bin?«

»Ich glaubte es ja gleich!« antwortete sie. »Du hast gesiegt. Hier sind die Blumen.«

Sie reichte sie ihm. Er nahm sie gab sie meiner Frau und bat, sie für ihn aufzubewahren; sie könne das besser als er. Und nun sahen wir in der Ferne einen andern, bedeutend größeren Festzug kommen, der augenscheinlich auch hierher wollte. Den hatten unsere Gegner mit ihren scharfen, geübten Augen schon längst gesehen. Darum ihre Eile von hier fortzukommen. Sie wollten sich von den Ankömmlingen nicht als Blamierte überraschen lassen. Doch auch wir hatten keinen Grund, hier länger zu verweilen, zumal die Zeit nicht mehr fern war, die wir mit Mustafa Bustani verabredet hatten uns zu treffen. Auf unser Befragen erfuhren wir von der arabischen Witwe, daß sie heute nur noch bis zur Eiche Abrahams gehen und dort die Nacht über im russischen Hospitz bleiben wolle. Sie habe gehört, daß man dort auch Mittellose beherberge. Da erklärte unser freundlicher Hammahr, daß sie mit ihrem Töchterchen nicht zu laufen brauche, sondern reiten könne, denn er kehre auf demselben Wege zur Stadt zurück. Sie nahm es dankbar an. Als der Bub das hörte, fragte er mich leise:

»Hast du ein Zwanzigfrankstück bei dir, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich.[59]

»Bitte, schenke es mir, aber laß es niemand sehen!«

Ich ahnte, was er wollte, und gab ihm heimlich das Verlangte. Da stieg die Mutter mit dem Kinde auf einen der Maulesel und der Hammahr nahm den zweiten. Thar schwang sich auf die Güwerdschina und sagte: »Ich reite mit bis zur Eiche, dann kehre ich zu Fuß nach der Straße zurück. Ehe Vater kommt, bin ich dort.«

Er zog der Taube den Schwanz in die Höhe, worauf sie mit lautem Wiehern davonschoß. Meine Frau nannte der Witwe unsern Namen und unsere Wohnung in Jerusalem und bat sie, uns dort auf alle Fälle aufzusuchen; wir würden uns aufrichtig und herzlich freuen, sie und ihr Töchterchen wiederzusehen. Sie versprach es zu tun und die Art und Weise, in der sie dies versicherte und sich von uns verabschiedete, gab uns gute Gewähr, daß sie Wort halten werde. Dann ritten sie davon, Thar einzuholen. Wir beide aber machten eine kurze Fußpartie durch die Umgegend, doch so, daß wir jede Begegnung vermieden. Als wir dann das Rendezvous erreichten, wartete Thar schon auf uns.

»Sie sind arm, sehr arm,« sagte er. »Darum bin ich zum Hospitz gerritten, um für sie zu sorgen, doch ohne daß sie es erfahren.«

»Wissen sie deinen Namen?« fragte ich.

»Ja.«

»Und wie dein Vater heißt?«

»Nein. Du weißt doch, daß der Prophet sagt: Wer der Armut gibt, der gebe alles, nur nicht seines Vaters Namen. Ich finde sie auch ohnedies in Jerusalem wieder; darauf kannst du dich verlassen.«

Bald darauf stellte Mustafa Bustani sich mit dem Wagen ein. Er freute sich sehr, als er hörte, daß uns und seinem Sohne von seiten der Bevölkerung nichts geschehen sei, und teilte uns mit, daß es verschiedene Zusammenstöße zwischen Muselmännern und Juden gegeben habe. Er selbst war so ärgerlich über die Ungastlichkeit seines Geschäftsfreundes gewesen, daß er ausgeschlagen hatte, mit ihm zu essen. Nun hatte er Hunger. Darum suchten wir, sobald wir eingestiegen waren und der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, alles Eßbare zusammen, was wir früh mitgenommen hatten, und hielten ein sogenanntes Abendessen »auf vier rollenden Rädern.«

Während der Heimfahrt ereignete sich nichts, was wichtig genug wäre, erzählt zu werden. Höchstens könnte ich[60] sagen, daß wir, als wir das Wadi el' Arrub erreichten, wieder halten ließen, um in dem dort liegenden Café einzukehren. Der Wirt kam heraus und fragte nach unsern Wünschen, aber in sehr gemessener Weise.

»Fünf Tassen!« befahl Mustafa Bustani. Sie wurden gebracht und getrunken. Dann zog ich den Beutel.

»Wieviel kosten die fünf?« fragte ich.

»Grad einen halben Franken,« antwortete er.

»Und die fünfzehn am Vormittage?«

»Anderthalb Franken.«

»Die zwanzig also zusammen?«

»Zwei Franken.«

Ich gab ihm nur die zwei Franken, keinen einzigen Para mehr.

»Hier! Fertig!«

Da griff er rasch zu, steckte das Geld eben so schnell in die Tasse und machte eine tiefe und, wie ich glaube, diesmal wirklich aufrichtige Verbeugung und sagte. »Ich danke dir, Effendi! Du bist gerecht und klug. Eure Heimfahrt sei gesegnet!«

Und sie war auch gesegnet. Mustafa zürnte dem Fanatismus seiner Glaubensgenossen und hatte nichts dagegen, daß sein Sohn fast während der ganzen Fahrt von der kleinen Christin schwärmte. Als Bethlehem vor uns auftauchte, holte er tief Atem und sagte:

»Es ist viel Liebe und viel Güte von diesem kleinen Städtchen ausgegangen, mehr als von all unsern großen, hochberühmten Wallfahrtsorten. Heute wurde ich einmal recht schonungslos und aufrichtig an meinen eigenen Zelotismus erinnert. Was hast du den Hebroniten getan? Nichts. Und doch verstoßen sie dich! Welch eine Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit! Und was hatte mein Bruder mir getan? Nichts. Und doch verstieß ich ihn, ihn, meinen leiblichen Bruder! Ich war also noch viel liebloser und noch viel ungerechter als die Kananiter von El Chalil! Er ist mir nicht aus dem Sinn gekommen – während des ganzen Nachmittags – bis jetzt, da es Abend wird.«

»Wie hieß er?« fragte meine Frau.

»Achmed Bustani. Ihr hört, daß wir es fast auch schon zu Familiennamen gebracht haben. Ich habe keinen größeren Wunsch, als daß er noch lebt und sich von mir finden läßt!«

»Würdest du dein Vermögen wirklich mit ihm teilen?«[61]

»Natürlich, sofort! Nicht allein deshalb, weil ich es der Sterbenden versprochen habe, sondern weil es auch mir selber Bedürfnis ist. Es liegt seit jenem Traum etwas ganz Eigentümliches in mir, was mich jetzt während der Rückkehr mehr als sonst beschäftigt. Es ist, als ob da draußen am ›Brunnen Abrahams‹ etwas Unsichtbares mit euch zu mir in den Wagen gestiegen sei, was mich ergriffen hat und mich nicht wieder loslassen will. Vielleicht ist es weiter nichts, als nur die Erinnerung an gut zu machendes Unrecht. Aber sonderbar, es quält mich nicht, es tut mir vielmehr wohl; es befriedigt mich; es gräbt sich in mich ein, nicht um mich zu peinigen, sondern um mich zu beruhigen. Werdet ihr über mich lachen, wenn ich euch etwas sage, was ihr nicht begreift?«

»Fällt uns nicht ein!« antwortete ich. »Sprich getrost!«

»Ich habe das Gefühl, daß ich heute wieder von meinem Bruder träumen werde. Ist das nicht lächerlich?«

»Keineswegs.«

»So glaubst du, daß es möglich sei?«

»Gewiß.«

»Aber geheimnisvoll!«

»O nein! Wir Menschen machen nur allzuoft den Fehler, ganz natürliche Dinge mystisch zu behandeln. Das Bild deines Bruders ist dir durch die Ereignisse des heutigen Tages in deine Gedankenatmosphäre geschoben worden. Du gibst es nicht wieder her. Du hast es bis jetzt festgehalten und hältst es auch noch weiter fest. Da ist es doch wohl kein Wunder, sondern im Gegenteil höchst selbstverständlich, daß du dich, zu Hause angekommen, dann auch im Traum mit ihm beschäftigst. Wenn hieran etwas wunderbar ist, so doch gewiß nur das, daß wir trotz aller Erfahrungen noch immer so töricht sind, das in der Natur Gegebene für unbegreiflich wunderbar, das von uns aus ihr Erkünstelte aber für natürlich zu halten!«

Nun rollten wir an Rahels Grab und an Mar Eljas vorüber und kamen in Jerusalem an, grad als die Nacht mit weichem Schritt die heilige Stadt betrat. Was ich mir in El Chalil hatte holen wollen, das hatte ich nicht bekommen; es wurde uns dafür ganz anderes und unendlich Besseres geboten; das sollten wir erst am andern Tag deutlich sehen. So pflegt es im Leben stets zu sein. Wird uns irgend ein äußerlicher, materieller Wunsch versagt oder stellt sich gar ein unerwarteter Schmerz an Stelle einer erhofften[62] Freude bei uns ein, so hadert unser Unverstand mit dem Geschick ohne abzuwarten, was sich aus diesem äußerlichen Verlust für ein innerlicher Gewinn ergeben werde. Dieser letztere wird zwar nicht von uns erzielt, klopft aber, falls wir nicht feindlich widerstreben, ganz sicher an unsere Tür, und ist er da, so kommt dann gewöhnlich hinterher auch die arme, ganz nebensächliche Gabe, nach der uns so sehr verlangte. So auch mit dem Sattel. Er war mir sicher; aber der Wunsch ihn zu besitzen, mußte vorher den Absichten einer allweisen Führung dienen, welche zu begreifen wir meist zu kurzsichtig und zu ungeduldig sind.

Wir waren am nächsten Morgen kaum erst aufgestanden und saßen noch beim Kaffee, so klopfte es an unsere Tür und – wer trat ein? Der Bub.

»Guten Morgen!« grüßte er europäisch, indem er uns die Hand gab.

Wir dankten und sahen ihn beifällig an, denn er war ganz frisch in Weiß gekleidet, vollständig rein und fleckenlos.

»Ja, da wundert ihr euch wohl?« sagte er. »Mit den Farben ist es aus! Denn erstens hat unsere Gattin hier von einem Heldentume gesprochen, welches nicht angemalt, sondern wirklich ist, und seitdem will ich ein wirklicher Held sein, kein angemalter, falscher. Und zweitens habt auch ihr gehört, daß Schamah, meine neue Freundin, gleich sechsmal ›Pfui!‹ ausrief, als ich mich durch blaue, grüne, rote und gelbe Farbe tapfer machen wollte. Was die sagt, das gilt bei mir mehr, als was ihr alle miteinander sagt und so bin ich fest entschlossen, die Kunst in Zukunft ganz beiseite zu legen und nur Dinge zu treiben, zu denen man sich nicht falsch anzustreichen braucht. Übrigens bin ich nur wegen Schamah zu euch gekommen. Wenn ich mit Kaffee trinken darf, so sage ich euch, warum. Bei euch sind die Tassen größer als bei uns.«

Er bekam, was er wünschte, setzte sich zu uns und fuhr fort:

»Zunächst habe ich euch zu sagen, daß ich aus sämtlichen Klubs der Löwen, der Elefanten, der Nilpferde und der Walfische austrete, solange sich Schamah in Jerusalem befindet. Drum bin ich jetzt weiß angezogen, um von Klub zu Klub zu gehen und zu melden, daß ich mit Bestien nicht mehr verkehren darf, wenigstens für einstweilen. Schamah ist fein, und wenn ich nicht auch fein bin, muß ich mich schämen.[63] Sie sagt gar zu leicht ›Pfui!‹ Und sodann müßt ihr erfahren, daß sie schon heute nach Jerusalem kommt.«

»Woher weißt du das?« fragte ich.

»Das weiß ich von der Verschwörung.«

»So gibt es eine Verschwörung?«

»Ja,« nickte er wichtig.

»Wer hat sich verschworen?«

»Ich.«

»Mit wem?«

»Mit dem Hammahr.«

»Ah, gestern?«

»Ja. Und darum borgte ich mir von dir die zwanzig Franken. Hier sind sie wieder. Ich danke dir!«

Er zog zwei goldene Zehnfrankstücke aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ich aber nahm sie nicht weg, sondern sagte:

»Ehe ich sie zurücknehme, muß ich wissen, um was es sich handelt. Ich habe sie dir nicht geborgt, sondern geschenkt.«

»Du irrst!« sagte er ernst. »Ich bettle nicht, sondern ich borge. Schamah und ihre Mutter sind arm, sehr arm. Sie haben zuweilen nicht genug zu essen; das habe ich herausgehört ohne zu fragen. Ich aber bin reich und ich bin ihr Freund. Darum habe ich im Hospiz für sie bezahlt, ohne daß sie es wissen, und darum bringt der Hammahr sie heute nach Jerusalem, natürlich auf besseren Eseln, als die gestrigen waren; sie aber erfahren nicht, daß ich es bin, der es bezahlt. Sie glauben, das werde ihnen vom Hospiz aus geschenkt. Sie reiten, wenn sie hier ankommen, gar nicht in die Stadt herein, sondern sie biegen nach rechts in das Tal Hinnom ein und an dem Ölberg hinauf nach Bethanien, zu meinem Freunde Abd en Nom.«

»Wer ist Abd en Nom?«

»Der Vater des größten Walfisches, den wir haben, und des schwersten Nilpferdes, das es gibt. Er beherbergt Pilger. Jetzt steht sein Haus ganz leer und Schamah hat mit ihrer Mutter mehr Platz, als sie braucht. Sie wird auch dort essen. Sie glaubt natürlich, sie sei vom Hospiz dorthin empfohlen. Abd en Nom hat mich gern. Ich gehe auch mit zu ihm, um alles vorzubereiten.«

»Und zu bezahlen?«

»Ja. Aber ich bitte euch das ja nicht zu verraten. Schamah und ihre Mutter dürfen es niemals erfahren!«

»Weiß es dein Vater?«[64]

»Nein.«

»Aber, mein Junge, das kostet ja Geld!«

»Das habe ich!« lachte er fröhlich auf.

»Von wem?«

Da wurde er schnell wieder ernst und antwortete:

»Von Mutter, ehe sie starb. Die hat das Geld verborgt und ich bekomme monatlich die Zinsen. Vater zahlt sie mir aus, denn er ist der Verwalter. Ich darf das Geld nicht behalten; ich bin gezwungen, es auszugeben, aber nicht für mich, sondern für arme, alte, kranke Leute, die sich in Not befinden. So hat es Mutter gewollt und Vater muß mich machen lassen, was ich will. Er darf nur dann dreinreden, wenn er erfährt, daß ich das Geld anders verwende, als sie es mir befohlen hat. Aber das ist noch nie geschehen, denn ich habe Mutter lieb und denke bei jedem Piaster, den ich ausgebe, ob sie es wohl auch wie ich oder anders machen würde. Zwar habe ich mir gestern die zwanzig Franken von dir geborgt, ohne die Mutter vorher in meinem Innern zu fragen; aber das habe ich gestern abend, ehe ich einschlief, und heute früh, als ich erwachte, nachgeholt und nun weiß ich ganz genau, daß sie mit mir einverstanden ist und sich über Schamah und ihre Mutter freut. Wirst du nun das Geld zurücknehmen, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich und steckte es ein.

Meine Frau füllte ihm zum Lohne für seine Seelengüte die Tasse zum zweitenmal. Er nahm einen Schluck und sprach weiter:

»Ich werde mich ihrer sehr ernstlich annehmen. Ich führe sie an alle heiligen Orte, auch nach Bethlehem hinüber und wohin sie überhaupt wollen. Und wißt ihr, warum ich das tue?«

»Aus Mitleid,« sagte meine Frau.

»Ja, das dachte ich erst auch; aber als ich heute früh in mich hineinschaute, wie ich es immer mache, wenn ich an Mutter denke, da war es kein Mitleid, sondern etwas ganz anderes. Nur weiß ich nicht, wie ich es nennen soll, denn es ist in mir noch niemals dagewesen. Es ist fast wie eine Pflicht und doch auch wieder wie keine, aber jedenfalls etwas, was man sehr gern tut. Daß ich für Schamah und ihre Mutter mit aller Welt kämpfen würde, das habt ihr gestern gesehen; aber das ist noch viel, viel zu wenig; das ist noch lange, lange nicht das Richtige. Ich werde noch mehr darüber nachdenken, und wenn ich es gefunden habe, so sage[65] ich es euch. Darf ich nun wieder gehen? Ich habe es nämlich sehr, sehr notwendig. Denkt doch nur: zu den Löwen, zu den Elefanten, zu den Nilpferden, zu den Walfischen und zu Abd en Nom! Und von diesem allem darf Vater nichts wissen!«

»Weiß er, daß du zu uns gegangen bist?«

»Fällt mir nicht ein! Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf, wie es einem beliebt, so würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn er hat euch gern, außerordentlich gern! Also Allah schütze euch; ich gehe!«

Er trank seine Tasse aus, reichte uns die Hand, öffnete die Tür, ging hinaus, blieb stehen, sann einen Augenblick nach, kam wieder herein, zog die Tür fest hinter sich zu, als ob er uns etwas sehr Heimliches anzuvertrauen habe, und sagte:

»Etwas muß ich euch noch fragen: Ist es nicht ein Unsinn, daß man mich daheim den ›Auserwählten‹ nennt?«

»Wie kommst du zu dieser Frage?« versuchte ich die Antwort zu umgehen.

»Weil ich mich nur in meinen eitlen Stunden über diese Bezeichnung freue; bin ich aber ernst, so ärgere ich mich darüber.«

»So ärgere dich!« riet meine Frau. »Der Ärger ist hier richtiger, als die Freude.«

»Meinst du?« Er sah sie nachdenklich an. Dann richtete er das Auge auf mich und nickte mir bedeutsam zu: »Ich gebe sehr viel auf das, was unsere Gattin sagt. Du vielleicht nicht? Aber bisher hat sie stet das Richtige getroffen. Nun gehe ich wirklich! Allah behüte euch!«

Als er fort war, dauerte es kaum zehn Minuten, so klopfte es wieder und wer kam? Sein Vater. Er bat um Verzeihung, daß er uns zu so ungelegener Zeit störe; aber es sei etwas geschehen, was er uns unbedingt melden müsse.

»Du hast geträumt?« fragte ich.

»Ja. Woher weißt du das?«

»Ich weiß es nicht, sondern ich denke es mir.«

»So hast du es erraten. Denkt euch! Mir träumte, ich stand des Morgens auf und kam in die Stube, wo ich wohne. Da saß mein Bruder genau so, wie gewöhnlich ich, lächelte mich an und sagte:

›Ich bin gekommen und will sehen, ob ich bleibe.‹ Da wachte ich vor Freude auf. Nun sag', ist das ein Wunder oder nicht?«[66]

»Ein Wunder? Nein! Für mich ist es sogar etwas ganz Selbstverständliches.«

»Nach unsrem gestrigen, letzten Gespräch für mich wohl auch; aber heute kam mir im Erwachen ein Gedanke, gleich unmittelbar nach dem Traum, fast so, als ob dieser Gedanke die Fortsetzung des Traumes sei. Weißt du noch, was mein Bruder im vorigen Traum zu mir sagte?«

»Daß er dir seine Verzeihung senden werde.«

»Nun, und wie hieß das Kind, welches ihr gestern getroffen habt und von dem mein Sohn so unaufhörlich sprach?«

»Schamah, die Verzeihung!«

»Das ist ja wahr! Das ist ja richtig!« fiel da meine Frau rasch ein. »Sollte es wohl –«

»Pst – –! Still – –! Pst – –!« unterbrach ich sie schnell, indem ich den alten Eppstein nachahmte. »Laß dich von keiner Geheimnisselei überwinden! Schamah bedeutet allerdings Verzeihung, ist aber doch auch zugleich ein Mädchenname.«

»Aber die Mutter des Mädchens kommt, wie Thar mir sagte, aus der Gegend von El Kerak und das liegt im Ostjordanlande, wohin mein Bruder sich gewendet hatte!« warf Mustafa Bustani ein.

»So hast du mit Thar heute über sie gesprochen?« fragte ich, um ihn von diesem Thema abzubringen.

»Noch gestern abend,« antwortete er. »Heute war er zwar schon zeitig wach, ließ aber gar nicht mit sich reden. Das hat er an sich, wenn er seine Gedanken an die Mutter richtet. Es beschäftigt ihn dann immer irgend eine Gabe oder irgend eine Tat, mit der er jemand zu erfreuen hofft. Dann ging er fort, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.«

»Weiß er, daß du hier bei uns bist?«

»Fällt mir nicht ein! Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf so oft es einem beliebt, dann würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn ich will euch nicht verschweigen, daß er euch beide in sein Herz geschlossen hat. Er ist seit gestern wie verändert. Und das kleine Mädchen scheint einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, der mir ein Rätsel ist.«

»Aber doch kein schlimmes Rätsel?«

»O nein, sondern ein sehr erfreuliches! Auch ich bin anders gestimmt als zu gewöhnlicher Zeit. Gestern war Feiertag; aber mir ist, als ob er erst heute sei. Ich komme[67] mir vor wie in der glücklichen Knabenzeit, wenn etwas Langersehntes endlich einzutreffen verspricht. Ist das nicht sonderbar? Ist das nicht lächerlich?«

»Sonderbar wohl kaum, lächerlich aber keinesfalls. Unsere Seele steht mit ganz andern Welten in Verbindung als unser Körper. Und diese Verbindung ist eine so innige, daß ein vernünftiger Mensch über das, was wir ›innere Stimmen‹ nennen, wohl niemals lächeln wird. Hat dir der Traum den Bruder deutlich gezeigt? Oder war es nur so eine Gestalt, die du für ihn genommen hast?«

»Er war es und zwar so bestimmt und deutlich, daß ich mich sogar im Traum darüber wunderte und freute, daß er mir noch genau so ähnlich sieht wie früher. Wir waren einander nämlich so außerordentlich ähnlich, daß wir oft mit einander verwechselt wurden. Das machte uns Spaß und darum trug er sich auch in Bezeihung auf Bart und Kleidung ganz genau wie ich. Um so verschiedener waren wir innerlich. Er immer weich, nachgiebig und zum Frieden geneigt, ich aber unzart, rauh und stets bereit als Gebieter aufzutreten. Das trennte uns dann schließlich. Heute aber – – –«

Er hielt inne, trat an das Fenster, schaute hinaus und fügte dann hinzu:

»Da geht der Weg zum Bab en Nebi Daud und da zum Bab el Amud. Für mich ist es gleich, welchen von diesen Wegen ich gehe. Sie führen mich beide doch nur um die Stadt herum und nach dem Ölberg, wo ich warte, wann und wie mir die Verzeihung kom men werde. Heute liegt eine Spannung in mir, die mich nicht ruhen läßt. Ich gehe!«

Er entfernte sich und ich gestehe offen, daß er einen Teil der Spannung, in der er sich befand, bei uns zurückließ. Wenn ich mit der vorliegenden Erzählung künstlerische Zwecke verfolgte, so hätte ich sie ganz anders aufgebaut und würde dem Schluß, der sich uns naht, ein eigenes Kapitel zu geben haben. Da mir aber der natürliche Verlauf der Dinge wenigstens ebenso interessant wie seine eventuelle, literarische Bearbeitung erscheint, so folge ich dem guten Beispiele unseres braven Bub, indem ich die Tatsachen schlicht und ungeschminkt berichte und, solange Schamah sich bei uns befindet, darauf verzichte, sie grün oder blau, gelb oder rot anzumalen.[68]

Wir verwendeten den Vormittag dazu, die »Gräber der Könige« und einige andere naheliegende Orte zu besuchen. Am Nachmittag wollten wir nach Ain Karim, einem meiner Lieblingsplätze, den man für den Geburtsort Johannis des Täufers hält. Wir kamen aber nicht dazu, diesen Ausflug zu unternehmen, denn eben als wir zu Mittag speisen wollten, klopfte es zum drittenmal bei uns an und wer erschien? Schamah mit ihrer Mutter! Wir freuten uns herzlich über diesen uns menschlich so willkommenen Besuch und es verstand sich ganz von selbst, daß sie beide mit uns aßen. Die Mutter war eine liebe, sanfte, edle und nur innerlich stolze Frau von ernster Herzensbildung. Sie sprach trotz ihrer Bescheidenheit mit großer Genugtuung davon, daß sie nicht aus Syrien, sondern aus dem Kaukasus stamme und, soweit die Tradition zurückreiche, immer christlich gewesen sei. Ihr Vater war, wegen seines Glaubens unterdrückt, als armer Offizier in El Kerak gestorben. Auch ihr Mann sei arm gewesen, sogar sehr arm, aber mit allen Tugenden geschmückt, die nötig sind, sich die Achtung und die Liebe der Menschen zu erwerben. Er habe Achmed Bustani geheißen und sei an einer Krankheit des Herzens gestorben, an einer Sehnsucht, die ohne Unterlaß an ihm genagt habe, bis ihn der Tod von ihr erlöste.

Achmed Bustani! Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck dieser Name auf uns machte. Der Bruder unseres Freundes, also doch! Mir hätte die Witwe diese Mitteilungen wohl nicht so bald gemacht, aber die beiden Frauen waren einander schon gestern nicht nur äußerlich, sondern noch mehr auch innerlich begegnet und fühlten sich nun heute in der Weise zueinander hingezogen, daß sich die Vertraulichkeit ganz von selbst einfand. Natürlich nicht sofort, sondern es währte Stunden, bis wir so nach und nach erfuhren, was ich in wenigen, kurzen Worten berichte. Während sie sprach, schaute uns die zurückgehaltene Herzensqual aus ihren feuchten, tiefen Augen an, und so wäre es von uns im höchsten Grade hart, ja grausam gewesen, wenn wir diese Qual durch Fragen vergrößert hätten, nur um eine gewöhnliche Neugierde zu stillen. Achmed Bustani war, um es mit einem bekannten Worte auszudrücken, ganz einfach am Heimweh gestorben. Die Liebe zu Weib und Kind hatte den Tod höchstens verzögern, nicht aber verhindern können. Der Gedanke, vom Vater und von der ganzen Familie verstoßen zu sein und niemals wieder Aufnahme finden zu dürfen, hatte ihm, dem aus der Verwandtschaft[69] unlösbaren Semiten, das Leben gekostet. Und bereits im Sterben liegend, hatte er seiner Gattin das Versprechen abgenommen, sie werde nach Jerusalem pilgern und mit dem Kinde seinen Bruder aufsuchen, um ihn, wenn möglich, doch noch zu versöhnen.

Sie hatten eigentlich von der Eiche Abrahams nur bis nach Bethlehem wandern wollen, aber vom Hospiz aus einen Zettel an einen gewissen Abd en Nom in Bethanien erhalten, der ihnen freie Aufnahme und Verpflegung in dessen Hause sicherte. Und zugleich hatte es sich gefügt, daß der uns bekannte Hammahr mit seinen Eseln nach Jerusalem mußte, um jemand von dort abzuholen, und sie also mitnehmen konnte, ohne daß sie zu bezahlen brauchten. Sie freuten sich über die Gefälligkeit dieses Mannes und über die im russischen Hospiz an der Abrahams-Eiche herrschende Humanität, ohne zu ahnen, daß es in Wahrheit unser »Held der Blutrache« war, dem sie das alles verdankten. Sie waren aber nicht in das Tal Hinnom hinab und direkt zu Abd en Nom, sondern hierher zu uns geritten, um sich bei uns zu erkundigen, ob es für eine einsame, christliche Pilgerin möglich sei, bei diesem Manne zu wohnen. Wir gaben die möglichst beste Auskunft und boten ihnen an, sie zu ihm zu begleiten, um zu sehen, was für ein Mann er sei. Sie nahmen dies dankbar an und eben wollten wir aufbrechen, da klopfte es zum viertenmal an unsere Tür und der Bub trat herein.

Er war ganz außer Atem und rief, als er Schamah und ihre Mutter sah:

»Es ist richtig, was der Hammahr sagte! Ihr seid erst hier eingekehrt, anstatt direkt zu Abd en Nom zu reiten! Aber warum bleibt ihr so lange hier! Warum geht ihr nicht nach Bethanien, das Hinnomtal entlang und genau so, wie ich es dem Hammahr gesagt habe?«

Er stand im Begriff, sich zu verraten. Da nahm ich ihn beim Kragen und brachte ihn in das Nebenzimmer. Dort sagte ich:

»Ich denke, Schamah und ihre Mutter sollen nicht wissen, daß du mit dem Hammahr eine Verschwörung angezettelt hast! Und da kommst du und sprichst selbst davon?«

»Allah, Allah!« erschrak er. »Du hast recht! Das ist dumm von mir! Aber denke dich doch in meine Lage, Effendi! Ich stehe mit allen meinen Löwen und Elefanten und Nilpferden und Walfischen unten am Siloahteiche, um[70] Schamah vorüberkommen zu sehen und sie in einem großen, festlichen Wandelzug nach Bethanien zu begleiten – – –«

»Mit den Nilpferden und Elefanten?« fiel ich ihm in die Rede.

»Ja, natürlich!« nickte er. »Ich habe sie zusammengeholt, um meine neue Freundin mit ihrer Hilfe festlich zu empfangen. Sie haben ihre besten Kleider angezogen. Wir haben die ganze Umgegend nach Blumen und Sträuchern abgesucht, um sie ihr voran- und hinterherzutragen. Wenn sie kommt, halten wir sie an und machen unsere Verbeugungen. Dann wird ein Gedicht von Firdusi deklamiert. Hierauf halte ich die Festrede. Wenn die vorüber ist, folgen neue Verbeugungen mit einem Liede, welches wir teils singen und teils blasen. Sodann folgt ein zweites Gedicht; das ist von Busiri. Und endlich ein Triumphgeschrei, so laut wir brüllen können. Nun teilen wir uns, und der Wandelzug setzt sich in Bewegung – – die Hälfte von uns vorn, die Hälfte hinten, ich aber in der Mitte zwischen Mutter und Tochter als Führer der beiden Esel.«

»Das ist ja reizend ausgedacht!« lachte ich.

»Nicht wahr? Und nun denke dir, daß wir stunden lang gewartet haben, aber niemand kam! Als die Mutter von Schamah sich hier an deiner Tür von dem Hammahr trennte, ist dieser mit seinen Eseln in der Stadt spazieren gelaufen, anstatt den Weg, den ich mit ihm verabredet hatte, fortzusetzen. Erst später hat er daran gedacht, dies zu tun, und so habe ich erst vor einigen Minuten erfahren, daß die so sehnlich Erwarteten sich hier bei euch befinden. Ich bin sofort herbeigeeilt, um euch zu sagen, daß ihr schleunigst kommen müßt, wenn meine Löwen und Walfische nicht die Geduld verlieren sollen!«

Es tat mir leid, ihm seine Begeisterung nehmen zu müssen, aber ich konnte nicht anders, ich mußte es tun. Ich erklärte ihm, daß und warum ein solcher Empfang ganz unmöglich sei. Einer christlichen Pilgerin gezieme Bescheidenheit und innere Sammlung, nicht aber so etwas, am allerwenigsten aber mohammedanische Gedichte und brüllendes Triumphgeheul. Er war verständig genug, dies einzusehen und sagte:

»Gut, Effendi, so unterlassen wir es; aber etwas tue ich doch. Kennst du das Lied von Bethanien, wo Jesus kommt, die Geschwister zu besuchen?«

»Nein.«[71]

»So wirst du es hören. Ihr geht jetzt nach dem Hinnomtal und am Siloahteich vorüber?«

»Ja. Meine Frau wird dort wahrscheinlich photographieren.«

»Gut, das paßt! Bitte, geht langsam! Ich aber eile voraus.«

Ich wollte ihn ermahnen, ja nicht etwas vielleicht noch Unpassenderes zu tun, aber er wehrte ab und machte sich schleunigst aus dem Staube. Wir folgten ihm und wie ich gedacht hatte, so geschah es: Meine Frau veranlaßte mich, den Apparat mitzunehmen. Sie wollte am Siloahteiche und in Bethanien einige Aufnahmen machen.

Es ist nicht der Zweck dieser Erzählung, Jerusalem und seine Umgebung zu beschreiben. Darum unterlasse ich es, den Weg, den wir gingen, zu schildern.

Als wir hinkamen, war kein Mensch außer uns zu sehen. Ich freute mich darüber. Diese Einsamkeit und Ruhe paßte zu der Stimmung, in der wir uns befanden. Wir hatten uns den Weg nur mit ernstem Gespräch gekürzt. Die kleine Schamah aber wirkte wie ein lieber, inniger Sonnenstrahl, der diesen Ernst milderte. Die Witwe sah sich am Ziele ihrer Reise. In ihr bebte die unendlich wichtige Frage, ob ihre Pilgerschaft Erhörung finden werde oder nicht. Wir aber, die wir hiervon mehr mußten als sie, wir sahen die Entscheidung kommen und fühlten uns in hohem Grade innerlich gespannt.

Meine Frau wollte Schamah gern mit auf das Bild bekommen; aber das Kind hatte noch kein Vertrauen zu dem schwarz überhangenen Dreigestell und so mußte sie für heute verzichten. Ich war es also allein, der aufgenommen wurde. Als das vorüber war und wir, bevor wir die Stelle verließen, sie noch einmal besonders in Augenschein nahmen, um sie uns einzuprägen, erklang plötzlich von rechts und von links, von oben und von unten, kurz von allen Seiten und von allen Höhen, wo die Knaben sich hinter den Steinen versteckt hatten, ein eigentümlich getragenes, zweistimmiges Lied in arabischer Sprache. Das war das Lied von Bethanien, wo Christus die Geschwister besucht und unterwegs am Siloahteich Kranke heilt. Unsere innere Stimmung und die äußere Szenerie, das was hinter uns lag und das, was wir vor uns zu erwarten hatten, und hierzu dieses uns vollständig überraschende, ganz eigenartige, tief ergreifende Christuslied: das alles wirkte derart auf uns ein, daß es[72] uns fast niedergezogen hätte, um knieend zuzuhören. Und als es vorüber war, regte sich kein Hauch und kein Fuß. Die Sänger blieben in ihren Verstecken liegen; sie waren gut instruiert. Von diesem Augenblicke an begann ich zu zweifeln, daß unser Bub so ganz ohne allen Kunstverstand geboren sei.

Von hier aus gingen wir nach dem Kidrontal und bis zur sogenannten oberen Brücke, um Gethsemane zu sehen. Dann über den jüdischen Begräbnisplatz nach Bethanien hinauf. Da stand vor dem Dorf der Bub, ganz allein. Er wartete auf uns und grüßte. Dann fragte er mich leise:

»Hast du sie gesehen?«

»Wen?« fragte ich wieder.

»Die Sänger. Sie sind euch, während ihr nach Gethsemane ginget, zuvorgekommen, denn sie haben hier noch einmal zu singen. Kommt! Ich führe euch zu Abd en Nom, damit ihr die Wohnung seht, die wir für Schamah bereitet haben. Dann gehen wir zum Grab des Lazarus, um zu photographieren.«

Er nahm Schamah bei der Hand und ging mit ihr voran. Das Haus Abd en Noms lag in der Nähe des Grabes. Der Besitzer kam heraus, sich tief und respektvoll zu verbeugen, mit ihm seine beiden Söhne, nach Thars Beschreibung bekanntlich »der größte Walfisch, den wir haben, und das schwerste Nilpferd, das es gibt.« Sie machten aber beide einen ganz freundlichen, Zutrauen erweckenden Eindruck. Auch das Häuschen sah recht sauber und wohnlich aus. Es schien, als ob die Gäste hier eine recht zufriedenstellende Unterkunft finden würden. Und als wir das Innere betraten, sahen wir, daß diese Vermutung zur Wahrheit wurde. Denn die Einrichtung der beiden Räume, die es da für Schamah und ihre Mutter gab, ließ nach dortigen Verhältnissen nicht das geringste zu wünschen übrig. Sie waren außerdem mit all den Ästen, Zweigen und Blumen geschmückt, die für den »festlichen Wandelzug« bestimmt gewesen waren.

»Drum hatte ich solche Eile,« erklärte mir der Bub verstohlen. »Das mußte ja alles nun sehr schnell hierher geschafft werden.«

»Und wo befinden sich jetzt die Helden alle?« fragte ich.

»Das sollst du gleich hören!«

Er ging bei diesen Worten nach der Tür und gab einen Wink hinaus. Sofort erhob sich ein wenigstens fünfzig-[73] bis sechzigstimmiges »Triumphgeheul«, welches von wirklichen Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen gewiß auch nicht natürlicher und schrecklicher hätte zu Gehör gebracht werden können.

»Allah erbarme sich!« rief ich ihm zu. »Laß es genug sein! Halt auf! Halt auf!«

Er winkte wieder; da war es still. Aber sehen konnte man nicht, wo die Bestien steckten.

»Das war ausgemacht«, sagte er. »Einmal mußte ich sie brüllen lassen, nur ein allereinziges Mal! Jetzt haben sie ihren Willen gehabt und werden es nicht wieder tun. Wollen wir nun zum Grab gehen, um zu photographieren?«

Wir waren einverstanden, denn die Sonne stand schon tief und für später ließ sich kein gutes Bild mehr erwarten. Er ging mit Schamah voran; deren Mutter aber bat, für diesmal bleiben zu dürfen; sie müsse sich, bevor es dunkel werde, die Zimmer wohnlich machen. Dieser Wunsch war ein so natürlicher, daß er sich ganz von selbst verstand. Wir folgten also, ohne sie mitzunehmen, den beiden Kindern nach und stellten den Apparat so auf, daß er grad auf den Eingang zum Grabe gerichtet war. Wir glaubten, es sei niemand drin. Da sahen wir den Wärter des Grabes, der von innen unter die Tür trat, den Arm abwehrend emporhub und uns zurief:

»Jetzt nicht, jetzt nicht! Jetzt ist es verboten, denn es ist ein Moslem drin, ein Anhänger des Propheten!«

Aber schnapp! ließ meine Frau nun grad erst recht die Leitung wirken. Eben wollten wir nun wieder einstellen, da ließ sich der »Anhänger des Propheten« sehen, der sich im Grab befunden hatte. Er kam heraus und eilte, als er uns erkannte, freudig auf uns zu. Es war Mustafa Bustani, unser Freund.

»Wie recht, wie recht, daß auch ihr euch hier befindet!« sagte er. »So gehen wir zusammen wieder über Kafr et Tur nach Hause, genau so wie gestern! Und auch du?« fragte er seinen Sohn. »Und wer ist dieses kleine, liebe Kind?«

Er bog sich zu Schamah nieder. Sie stand mit weit geöffneten, großen, glänzenden Augen da. Ihr Gesichtchen strahlte vor Wonne. Sie hob die kleinen Arme, um von ihm emporgenommen zu werden, und jubelte laut:[74]

»Mein Vater! Mein Vater!« Hierauf schlug sie die Händchen entzückt zusammen und fuhr fort: »Die Mutter hat es gesagt! Die Mutter hat es gesagt!«

»Welche Mutter? Was hat sie gesagt?« fragte Mustafa Bustani, der nicht ahnte, daß dieses Kind die gestern gefundene »neue Freundin« seines Sohnes war.

»Daß wir zum Grabe des Lazarus gehen, hat Mutter gesagt,« antwortete Schamah, »und daß der Heiland dich dort vom Tode auferwecken werde, grad so wie einst den Lazarus.«

»Mich – –?«

»Ja, dich, meinen Vater!«

Da wendete er sich an uns.

»Sie hält mich für ihren Vater! Sonderbar! Wer ist das Kind?«

»Ich bin Schamah, die Verzeihung, und dort im Hause befindet sich die Mutter. Nimm mich doch auf den Arm wie immer und trage mich zu ihr!« bat das Mädchen, die Arme wieder zu ihm hebend.

Da entfärbte er sich. Er wurde leichenblaß, wich einige Schritte zurück und fragte, indem seine Stimme stockte:

»Schamah – – die Verzeihung – –! Wohl das kleine Mädchen von gestern?«

Diese Frage war an seinen Sohn gerichtet.

»Ja, sie ist es,« nickte dieser.

»Meine Ahnung – meine Ahnung – –! Weißt du, wie ihr Vater heißt?«

Da antwortete das Mädchen an des Knaben Stelle:

»Mein Vater bist doch du! Du heißest Achmed Bustani. Kennst du mich vielleicht nicht mehr? Da muß ich weinen! Nimm mich und trag mich zur Mutter!«

Was nun folgte, kann unmöglich beschrieben werden. Mustafa Bustani schrie laut auf und brach in die Knie zusammen. Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, zog es an sich, küßte es unaufhörlich und rief dabei:

»Schamah – – Schamah – – die Verzeihung! Wie hat er gesagt – als er mir im Traum erschien – –? Ich werde dir meine Verzeihung senden – – sie naht von Osten her – – schau' täglich nach ihr aus! Das habe ich getan und sie ist gekommen – sie ist nun da!«

Da plötzlich sträubte sich Schamah gegen seine Liebkosungen. Sie hielt sich mit beiden Armen von ihm ab, schaute ihm prüfend in das Gesicht und sagte dann:[75]

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! Ich habe dich auch lieb; aber mein Vater bist du noch nicht ganz. Du mußt erst noch einmal hinein in das Grab, um es vollends und ganz zu werden!«

»Noch einmal hinein?« wiederholte er. »Das verstehe ich wohl. Es hat noch einiges in mir zu sterben. Bis dahin aber bin ich einstweilen der Bruder deines Vaters, mein liebes, liebes Herzenskind, und du kannst mich immerhin schon ganz so lieb haben, als ob ich schon dein Vater wäre!«

»Wenn du das willst, so tue ich es!« lächelte sie. »Nun aber trag' mich zur Mutter!«

»Sag' mir erst noch etwas?«

»Was?«

»Weißt du den Tag, an dem dein Vater gestorben ist?«

»O, den wissen wir alle, die Mutter auch. Sie wiederholt ihn so oft, daß man ihn gar nie vergessen kann. Es war der fünfzehnte Tag des Monates Adar, an dem er starb.«

Da sprang er auf. Sein Gesicht nahm einen gar nicht zu definierenden Ausdruck an. »Hört ihr es – – hört ihr es?« fragte er uns. »Der fünfzehnte Adar! Derselbe Tag, an dem mir träumte, daß er gestorben sei und mir Schamah, seine Verzeihung senden werde! Allah, Allah! Wie wunderbar ist alles, was geschieht! Ich ehre dich! Ich preise dich! Ich bete an!«

»Zur Mutter, zur Mutter!« bat das Kind, über dessen Verständnis das, was es jetzt sah und hörte, zu weit hinausging.

»Ja, ich trage dich zur Mutter,« sagte er, indem er Schamah vom Boden aufhob und in seine Arme nahm. »Wo finde ich sie?«

»Bei Abd en Nom,« antwortete Thar, indem er sich anschickte mitzugehen, von mir aber festgehalten wurde.

Sein Vater ging mit vor Erregung fast schwankenden Schritten nach dem angegebenen Hause, in dessen Innern er verschwand. Der Bub aber sagte:

»Wenn ich nicht mitgehen darf, um zu hören, was gesprochen wird, so muß ich allein sein, um über das, was sich ereignet, nachzudenken. Vater hat recht: Es geschehen noch Wunder. Das allergrößte Wunder des heutigen Tages aber bin ich! Denn ich habe hinter seinem Rücken die Verschwörung mit dem Hammahr angezettelt und die Verzeihung grad hierher an das Grab des Lazarus geleitet, ohne daß ich dabei gescheiter gewesen bin als alle andern, dich, Effendi, und unsere Gattin mit ausgeschlossen. Wartet[76] hier auf mich! Sobald ich den Verstand beisammen habe, werde ich mich hören lassen.«

Er entfernte sich. Wir nahmen auf dem Gemäuer Platz und teilten uns unsere Gedanken mit – leise wie in einer Kirche. Wir waren ganz allein. Der Hüter hatte sich entfernt. Das Grab stand offen. Welche Gedanken schauten aus dieser geöffneten Tür zu uns herüber! – Der Tag begann sich zu neigen. Ein reiner, heiliger Odem wehte von der Höhe des Ölberges zu uns her. Ich hörte etwas in mir. Oder war es außen? Stand jemand hinter uns? Ein Gewaltiger, von keinem Menschen jemals zu Erreichender, der über uns hinweg zum Grabe hinüber rief, aber doch auch mich mit meinte: »Lazarus, komm' heraus!« Es gibt ja nicht bloß in körperlicher Beziehung Wundertaten, durch welche Tote wieder lebend werden.

Da klang leise und wie aus hoch über uns erhabenen Lüften das zweistimmige Lied von Bethanien, wo der Heiland zu den Geschwistern kommt, zum Grab hernieder. Die Knaben hatten auf Thars Anweisung das Gemäuer, welches auf meinem ersten Bilde zu sehen ist, erstiegen und wiederholten, was sie am Teiche Siloah gesungen hatten, das Lied von Christus, der Blinde sehend macht und Tote wieder lebend. Es kommt mir wie eine Profanation vor, die Arten dieser Blindheit und dieses Todes durch Worte anzudeuten. Solche Dinge muß man fühlen; ich aber habe nicht zu belehren, sondern nur zu erzählen.

Als das Lied wie ein aus Christi Zeit herübergetragenes Gebet verklungen war, kehrte Thar zurück. Er hatte seine Gespielen nun verabschiedet und nach Hause geschickt. Und gleich darauf trat sein Vater wieder aus dem Hause. Seine Schwägerin und Schamah begleiteten ihn. Das Bibelwort: »Und ihre Angesichter glänzten,« war auf sie anzuwenden.

»Welch eine Stunde, welch eine heilige Stunde,« sagte er. »Und dazu dieses Lied! Wer hat das angeordnet?«

»Ich,« antwortete der Bub, indem er mit beiden Händen auf sich zeigte.

»Bist du es wirklich gewesen? Mir war es, als ob es ein Gruß von deiner Mutter sei –«

»Und auch meines Verstorbenen,« fiel da die Witwe ein, »der aber nicht tot, sondern lebend ist und dessen letzter Wunsch nun in Erfüllung geht.«[77]

»Und wenn es wirklich von diesen beiden käme, nicht aber von dir, mein Sohn,« fuhr Mustafa Bustani fort, »so hast du doch schon außerdem mehr als genug getan und dir unsern Dank verdient. Abd en Nom hat uns gesagt, wer der eigentliche Urheber des heutigen Zusammentreffens ist. Das Mitleid, welches die Mutter dir in die junge Seele legte, hat Frucht und Segen gebracht. Schamah, die Verzeihung, wird bei uns wohnen und – – –«

»In unserm Hause?« fiel da der Bub schnell ein.

»Ja.«

»Mit ihrer Mutter?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Für alle Zeit, so hoffe ich.«

Da tat der Knabe den größten Luftsprung, der ihm möglich war, und rief aus:

»So muß ich schleunigst fort, um ihnen zu sagen, daß sie kommen!«

»Wem?«

»Unserm Habakek, dem Gehilfen, unserm Bem, dem Kaffeeneger, und unserer Köchin, seiner Frau!«

»Das hat noch Zeit, denn die Schwägerin bleibt heute noch hier bei Abd en Nom. Wir holen sie erst morgen ab, wenn alles vorbereitet ist, sie festlich zu empfangen.«

»Festlich empfangen!« jubelte Thar, indem er einen zweiten Luftsprung machte. »Dazu gehören meine Löwen und meine Elefanten! Erlaubst du mir, sie einzuladen?«

Der Vater zog ein ganz und gar nicht zustimmendes Gesicht, aber meine Frau winkte ihm bittend zu und so antwortete er:

»So lade sie!«

»Auch die Nilpferde?«

»Ja.«

»Und die Walfische?«

»Auch sie. Sie sollen im Garten sitzen und bewirtet werden, aber ruhig sein. Dafür haben sie, bevor sie abends scheiden, das Lied von Bethanien zu singen.«

»Hamdulillah! Ich danke dir, mein lieber, mein guter Vater! Ich eile, es ihnen gleich zu sagen!«

»Warum doch gleich?« widersprach Mustafa Bustani, indem er ihn festhalten wollte.

»Weil ich sie jetzt noch einholen kann. Sie sind ja soeben erst fort!«[78]

Er riß sich los, schüttelte der kleinen Schamah noch schnell die Hand und sprang zu gleichen Beinen davon.

»Ich werde bei ihm wohnen?« fragte das Kind, indem es ihm bewundernd nachschaute.

»Ja, das wirst du,« antwortete die Mutter. »Ihr werdet immer beisammen sein.«

»Das will ich auch und darüber freue ich mich, denn ich habe ihn lieb und über solche Helden muß man wachen. Nun aber bin ich müde vom weiten Weg. Darf ich schlafen?«

Dieser Wunsch gab Veranlassung, uns zu verabschieden, und zwar mit einem sehr frohen »Auf Wiedersehen!« für morgen. Dann sahen wir, daß die Mutter mit dem Kinde zunächst noch in das Grab ging, um jene innere Pflicht zu erfüllen, die weit noch über das Grab hinüberreicht. Wir drei andern aber stiegen den schon bekannten Weg über Betphage nach Kafr et Tur hinauf und blieben, als wir den Johannisbrotstrauch erreichten, stehen. Die Sonne stand soeben im Begriffe hinter dem Horizont zu verschwinden. Mit ihren letzten Strahlen umarmte sie die heiligste der Städte, die es auf Erden gibt. Welchen Anblick Jerusalem während eines solchen Sonnenunterganges vom Ölberg aus bietet, muß man gesehen und empfunden haben; es zu beschreiben, ist nicht möglich. Wir standen lange Zeit in diesen Blick versunken. Dann sagte Mustafa Bustani, indem er tief Atem holte:

»Noch schöner, noch tausendmal schöner als gestern zur selben Zeit! Aber diese Steigerung liegt in uns selbst. Ich bin ein ganz anderer, als ich gestern war, darum sehe und fühle ich auch ganz anders. Es liegt eine Welt zwischen gestern und heute. Ich weiß, ihr verlangt nicht, daß ich jetzt, nach so einer Stunde, reden und berichten soll. Ihr erlaubt mir zu schweigen. Ich bitte euch, geht heim! Laßt mich hier, allein mit mir und allein mit dem, der mir heute verzieh, obgleich ich ihn einst verstieß!«

Wir gingen. Noch ehe wir die nächste Biegung des Weges erreichten, begannen die Abendglocken der Gottesstadt zu läuten. Ein Meer von heilig wallenden Tönen stieg zu uns auf und faßte uns, als ob es uns gen Himmel tragen wolle. Uns umschauend sahen wir, daß Mustafa Bustani betete – – ein Mohammedaner, beim Klang der Kirchenglocken! Kann ich mehr erzählen? Nein! – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[79]

Für diejenigen Leser, welche keine Lücke dulden, habe ich noch hinzuzufügen, daß ich den Paschasattel doch noch bekam. Mustafa Bustani ermöglichte es und zwar, wie ich glaube, nicht ohne persönliche Opfer. Zwar ist ein solches Prunkstück in der Heimat unbrauchbar, aber ich halte ihn dennoch lieb und wert, weil er mich an jene zwei Tage im Heiligen Lande erinnert, die mir in Thar und Schamah, also in der »Rache« und in der »Verzeihung«, einen Wink gegeben haben, den ich nicht vergessen darf.


Ende.

[Fußnoten]

1 Frauenwohnung; hier tropisch statt Frau.


2 Der Name hat seine Vorbedeutung.


3 März.


4 Gebetsrichtung nach Mekka.


5 Hebron.


6 Sultansteich.


7 Grabmal der Rahel.


8 Heiligtum Abrahams.


9 Duldsamen (gegen Andersgläubige).


10 Eselstreiber.


11 Des Bürgermeisters.


12 Topftrommel.


13 Tamburin.


14 Trompete.


15 Querpfeife.

Quelle:
Schamah. Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. Stuttgart 1911. Band 7.
Lizenz:

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