Wasserrast auf dem Marsche

Heute haben die Herbstferien begonnen, und der Herr Lehrer ist verreist. Nun stehen die unternehmungslustigen Knaben am Ausgange des Dorfes, um zu beraten, durch welche große Thaten der erste schulfreie Vormittag auszuzeichnen sei. Da[780] ertönt hinter dem vorliegenden Berge erst das Geknatter einzelner Schüsse und dann das Krachen ganzer Schwarmsalven, und die alte Boten-Ursel, welche bereits aus der Stadt zurückkehrt, kommt trotz ihres schweren Tragkorbes im eiligsten Laufe herbeigerannt und schreit den Buben zu:

»Reißt aus, Jungens! Dort hinten gibt's Krieg, richtige und wirkliche Soldaten, die einander totschießen!«

Sie eilt weiter. Die Knaben schauen einigermaßen erschrocken drein; dann aber meint der Ortsdiener-Sepp, dessen Vater Soldat gewesen ist:

»Ach was, Krieg! Felddienstübung ist's. Das müssen wir sehen! Nahe hinzu dürfen wir freilich nicht; aber droben vom Berge aus können wir die ganze Gegend überblicken. Angetreten also, ganzes Bataillon marsch, marsch!«

Es fällt natürlich keinem ein, zu widerstreben; im Trabe geht's zur Höhe, und dort lassen sich die jugendlichen »Schlachtenbummler« im Grase nieder, um Zeugen des hochinteressanten kriegerischen Schauspiels zu sein. Der Sepp hat oft den Erzählungen seines Vaters gelauscht; er hält sich also für einen Wissenden und setzt nun seinen Stolz darein, den andern die Absichten der deutschen und französischen Armee zu erklären. Denn es ist ja ganz selbstverständlich, daß man diese Unterscheidung hofort getroffen sat.

Der kommandierende Offizier links da drüben am Buschrande ist Boulanger, und derjenige rechts, unten am Bache, kann natürlich kein andrer als Moltke sein. Wer wird siegen? Welche Frage! Moltke; wer das bezweifelte, würde kein deutscher Knabe sein! Aber der Kampf wogt lange hin und her. Freunde und Feinde wenden alle mögliche Tapferkeit und Umsicht an. Die Sonne steigt höher und höher; ihre Strahlen fallen ungewöhnlich heiß hernieder, und der Sieg will sich noch immer nicht entscheiden. Da sehen die Knaben von der Höhe aus, auf welcher sie sich befinden, daß Boulanger einen Zug abordert, welcher sich jedenfalls nach der Dorfstraße schleichen und diese gewinnen soll.

»Das geben wir nicht zu; das sage ich Moltke!« ruft der Sepp, welcher von der Kampfesscene ganz begeistert ist.

In demselben Augenblicke rennt er fort, den Berg hinab, über Stock und Stein, dann über die Wiese nach dem Bache hinüber. Die Knaben sehen, daß er Moltke erreicht und mit ihm spricht; dann schwenken zwei Lieutenants mit zwei Zügen ab, und Sepp muß sie führen. Im Laufschritt geht's nach der Straße, welche sie noch vor den Franzosen erreichen. Als diese sich nähern, werden sie zurückgeworfen. Der Sepp erhält von dem einen Lieutenant ein Geschenk. Die Knaben sehen das und eilen zu ihm hinab.

»Eine Mark!« ruft er ihnen triumphierend entgegen, indem er das Geldstück hoch emporhält. »Sieg, und auch noch eine ganze Mark dazu; hurra Moltke! hurra Deutschland! Jetzt soll eine Compagnie durch das Dorf und um den Berg, um Boulanger in den Rücken zu kommen. Da vorn läuft schon der Fourier. Es soll während des Durchmarsches kurze Wasserrast gemacht werden, weil es so heiß ist und die Soldaten Durst haben. Kommt rasch! Wir müssen eher dort sein als er!«

Wie im Sturme wird der Fourier überholt und es geht ins Dorf hinein. Dort hat die Boten-Ursel längst Lärm geschlagen, und die Bewohner stehen vor den Thüren oder sonst in Gruppen beisammen.

»Die Deutschen siegen!« schreit Sepp, und die Buben alle stimmen ein. »Moltke kommt und macht Wasserrast. Schafft Wasser her, Wasser, Bier, Wein, Schokolade – – Schokolade!«

Jeder der Jungens rennt heim, um Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Knecht und Magd anzutreiben. Der Fourier brauchte sich bei dem Ortsvorsteher und Bürgermeister kaum seines Auftrags zu entledigen, schon lassen sich die Folgen der jugendlichen Begeisterung wahrnehmen. Große Holzkübel werden auf die Straße gestellt und mit Wasser gefüllt. Man bringt Kessel, Eimer, Kannen, Töpfe, Gläser und alle möglichen Gefäße herbei. Die Boten-Ursel hat gerade ihren verspäteten Kaffee fertig gehabt; vor Freude darüber, daß es also doch keinen wirklichen Krieg gibt, beschließt sie, ihn auf dem Altare des Vaterlands zu opfern. Sie trägt eine Bank auf die Straße und stellt Kanne und Tassen darauf. Ihre Aelteste, die Leni, steht am Wasserfasse schon mit Schöpfeimer und Gießkanne bereit, und die kleinere, die Zenzi, ruft vom Giebelfenster herab, man solle doch Essig ins Wasser thun, weil das besser schmeckt und kühlt.

Und da kommen sie auch schon, die Tapfern, mit dem Hauptmann zu Pferde an der Spitze. Die Ursel faltet in Staunen die Hände, und ihrem Eheherrn, welcher neben ihr steht, geht aus demselben Grunde die Pfeife aus. Als der Hauptmann die getroffenen und mehr als ausreichenden Vorbereitungen überblickt, sieht er von der Ausführung der neueren Vorschriften, welche sich auf das Wasserfassen im Weitermarsch beziehen, ab. Die Compagnie löst sich auf, und jeder Soldat[781] greift da zu, wo er den erquickenden Trank am nächsten findet.


Wasserrast
Wasserrast

Das gibt für die kurze Dauer von einigen Minuten eine belebte und allerseits heitere Scene. Dieser legt Gewehr und Pickelhaube ab und kniet am Kübel nieder, um sich die Feldflasche zu füllen; ein andrer sucht einem dritten, welcher seinen Eimer leer trinken zu wollen scheint, diesen zu entreißen, die Leni schiebt einem vierten in ihrem gutherzigen Eifer den Schlauch ihrer Blechkanne so tief in den Mund, daß er kaum schnell genug schlucken kann und ihm die Backen schwellen. Kurz, jeder erhält das, was ihm not thut, in reichlicher Menge. Und am Ende wird der Boten-Ursel gar die Ehre zu teil, daß der Herr Feldwebel mit einigen Unteroffizieren sich zur Kaffeevisite bei ihr einladet. Doch will die reiche Speckbäuerin, welche, ohne sich zu rühren, mit untergestemmten Armen vor dem Nachbarhause steht, bemerkt haben, daß der »Herr Waibel« beim Weggeben der geleerten Tasse ein Gesicht gemacht habe, welches auf allzuviel Cichorie zu deuten sei.

Bald sind alle befriedigt; fröhliche Dankesworte hört man; warme Händedrücke werden ausgetauscht; dann sammelt sich die Compagnie und marschiert zum obern Ende des Dorfes hinaus. Die Gefäße verschwinden, und der Botenmann brennt sich die ausgegangene Pfeife wieder an. Aber als dann die Hausfrauen das Ingesinde zum Mittagsmahle rufen, stellt es sich heraus, daß sämtliche Dorfbuben verschwunden sind. Sie haben wissen wollen, ob der Sieg der Deutschen ein nachhaltiger sei, und sind hinter der Compagnie hergetrabt. Sie stellen sich erst später ein, freilich mit einem tüchtigen Hunger, aber auch mit der Nachricht, daß sich das Genie Moltkes auch dieses Mal bewährt habe, was auch gar nicht zu verwundern sei, da ihm der Ortsdiener-Sepp gehörig unter die Arme gegriffen habe. Dieser letztere aber sitzt in stillen Stunden hinter dem Hause, putzt sein Markstück immer und immer wieder mit Ziegelmehl blank und erklärt dabei:

»Dieses Geldstück gebe ich niemals aus. Es kommt mal als Hängsel an meine silberne Uhrkette – wenn ich nämlich eine habe – zum Andenken, daß ich Moltke rettete!«[782]

Quelle:
Wasserrast auf dem Marsche. In: Der Gute Kamerad. 3. Jg. Nr. 49. S. 776 u. 780–782. – Berlin, Stuttgart (1889), S. 780-783.
In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. [Jahrgangstitel: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustriertes Knaben-Jahrbuch]. 3. Jg. Nr. 49. S. 776 u. 780–782. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann (1889). Reprint in: Der Schwarze Mustang. Anhang: Die kleineren »Kamerad«-Erzählungen von Karl May. Einführung von Erich Heinemann. Hamburg: Karl-May-Gesellschaft 1991.
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