1. Vom Wesen der Liebe
Der Sinn der Legende vom Sündenfall – Liebeswille – Die Surrogate der erhabenen Liebe – Die soziale, die sexuelle und die kontrektative Liebe – Die große Sehnsucht des Mannes, seine tiefere Wahrhaftigkeit.

Die Liebe ist eine Schutz- und Trutz-Liga gegen das Leben. Zwei schmiegen sich aneinander und hauchen einander Kraft ein, es zu ertragen. Erlösung zu finden durch die Liebe, restlose Bejahung, Bestätigung des eigenen Ich, ist die Sehnsucht aller liebenden Kreatur. Die Menschen haben es da naturgemäß am schwersten. Ihre Wesensarten sind wirklichen Linien zu vergleichen und deren Berührung und Vereinung ergibt harmonische oder disharmonische geometrische Gebilde.

Nur ein Name ist da für die unzähligen Nuancen eines vielspältigen Gefühls. Immer aber sind es zwei Phänomene, welche Ereignis werden, wenn das »Ungemeine« geschieht. Das Sich-Anschmiegen und mähliche Verschmelzen bis zum Wunsch nach vollkommener Auflösung und des Vergehens ineinander ist das eine. Das der Entladung bedrückender Überschüsse des Körpers sowohl wie der Seele das andere. Messias, Erlöser wird der Liebende dem Geliebten, der das Wunder vollbringt. Das Furchtbare der unbeschreiblichen Ereignung, der erotische Einbruch in die andere Persönlichkeit, in das Geheimnis des Lebens, wird vergessen über dem metaphysischen Wunder der Vermählung. Dieser Einbruch in das Geheimnis der Schöpfung, das vermessene Eindringen in ein anderes Ich, das ist es, was der Mythos aller Völker als Sünde und Sündenfall, als Schuld und Verlust des Paradieses gekennzeichnet hat, und nur wenn das Ungeheure nicht nur mit dem Willen der Beteiligten sich vollzog, sondern sie scheinbar sich als Werkzeuge eines überirdischen Willens empfanden, der ihnen fast die Bewußtheit benahm, scheinen Adam und Eva entsühnt. Diesen überirdischen Willen, der den Vorgang der Erniedrigung und dem Staub entrückte, die ihm Dienenden von dumpfen[125] Willenstrieben erlöste und sie zu Werkzeugen des All-Einen erhob, nannte man Liebe. Das Unrein-Trübe der Erde wurde geläutert durch die erhabene Liebe. Nur sie konnte entsühnen, sie fügte die Beteiligten in die Kette der Gattung, wies ihnen den Dienst in Reih und Glied. Hier mußte dem religiösen Sinn des Menschen das erste Problem erwachsen. Ist der Vorgang, der furchtbar erhabene, der Vorgang des Geschlechtes, ist er da um der Gattung willen, oder gilt er auch den Individuen selbst? Hier setzen die Religionen ein, die Moralen. Nur um der Zeugung willen darf es geschehen, sagen die einen, und wo nicht der Wille zur Zeugung da ist, ist es Sünde und Schmutz. Nicht nur um der Gattung willen, sondern auch um der Individuen willen, zwecks gemeinsamer Bewältigung des Daseins, sagen die anderen. In der ungeheuren Eiseskälte der Welt schmiegen sich zwei aneinander, Kraft und Leben und Wärme übertragen sie einander, und nun erst können sie das Leben ertragen. »Kalt ist die Welt, kalt die brennende Sonne, kalt die Sphären und Milchstraßen. Allein des Menschen Herz hat Wärme.« Und die düsteren Propheten, die die Sinne und das Werk der Erlösung, das ihr freies Spiel zu vollbringen vermag, erniedrigten und nur den »Zweck« als Heiliger dieses Mittels gelten ließen, wurden als Zeloten überwunden. Die Vorgänge der Liebe, die zärtliche Bejahung des anderen Ichs, wurden als fruchtbar erkannt, fruchtbar nicht nur für die irdische Erhaltung der Gattung, sondern auch für die eigene Seele. Liebend erst erschließt sie sich, findet sie ihre ureigenste Melodie, ihre Stimme, »denn liebend gibt der Sterbliche vom Besten«.

Nichts macht so träge wie das Leid, nichts so tätig wie das Glück. Mit Ertötung der lebensbejahendsten Sehnsucht wird auch alle Lebenslust ertötet, und ohne die gibt es keine großen Taten. Das Entsagungs- und Büßermal auf der Stirne seiner Träger hat weit hineingeleuchtet in[126] die Geschichte der Menschheit, aber dieses Licht wärmte niemanden, und keine Tat, die zur Bereicherung des Daseins geführt hätte, hat sich daran entzündet. (Jesus von Nazareth war kein »Entsagender«, denn er war kein Begehrender). Mit den Schmerzen der Enthaltung im geknechteten Leib werden nur Märtyrer geschaffen, aber keine Helden.


Die Glorifizierung des Leides, der Entsagung, der Verneinung des Willens zum Leben – und damit vornehmlich der Liebe – diese Glorifizierung des Leides, welches die Seele läutern soll, hat lange Zeit die Auffassung der Moral beherrscht. Meist wird aber die Seele nicht nur nicht geläutert, sondern durch fortgesetzte Erlebnisse des Leides so niedergeschlagen, daß sie sich nicht mehr rühren und regen kann. Die Literaturen ganzer Epochen standen unter dem Zeichen der Verherrlichung des Leides, der Entsagung, der Verneinung; aber so wenig sich die Krankheit in den Formen abspielt, in denen sie in sentimentalen Romanen zumeist geschildert wird, zum Beispiel daß ein bleicher lockiger Jüngling auf dem Lager liegt und eine sanfte Frau ihm Kompressen auf die Stirn legt, so wenig ist auch das Leid eine ästhetische Attitüde. Meist ist das Leid, das der Mensch durch den Menschen erfährt, identisch mit Schmählichkeit, das er durch das Schicksal erfährt mit Hohn und Ironie. Das wirklich erhabene und erhebende Leid ist selten, seltener noch als die erhabene Liebe.

Aus der Freude aber, aus dem hohen Lebensgefühl der Bejahung des eigenen Seins kommt Tatkraft, Elastizität und Mut. Leid bedeutet Verneinung. Woher aber soll der, der sich vom Leben verneint fühlt, Energien nehmen? Es sei denn, daß sie ihm, aus Promethidentrotz, gerade dann am stärksten zuflössen, wenn er sich abgelehnt fühlt.[127] Aber auch dieser Trotz kann die Kräfte nicht aus dem Nichts erzwingen; wenn die guten Genien entfliehen und die Dämonen das Feld behaupten, wird auch dem Trotzigsten jede Macht entrafft. Die Bejahung des eigenen Ich von irgendeiner Stelle der Welt ist notwendig, damit das Individuum den Mut behalte, dieses Ich zu ertragen. Die sicherste Bestätigung des eigenen Ich kommt durch die Liebe. Wer sich geliebt fühlt, fühlt sich bejaht, und aus dieser Bejahung kommt das höchste Lebensgefühl. Da sprießt und drängt alles hervor, tausend Keime wollen Blüten tragen, »alle Stimmen springen auf«. Was Wunder, daß der natürlichste Instinkt der Kreatur sich immer wieder dagegen auflehnt, sich dieses Glück entraffen zu lassen, diese Bedingung seines eigenen Seins sich schmälern zu lassen, sei es von welchen Göttern oder Götzen immer.

Alle Völker der Welt haben irgendeine Sage, in der ein Elementargeist, eine Nixe, eine Undine, eine Elfe zur Seele gelangt durch die Liebe und nur durch die Liebe. Die Notwendigkeit des natürlichsten biologischen Schicksals aller Kreatur hat in diesen Sagen ihr Symbol gefunden. Der Liebeswille brandet durch die Natur vom niedrigsten Wurm bis zum Gott. »Auch der Olymp ist öde ohne Liebe«, gesteht Zeus. Und so wie sich der Göttervater um der Liebe willen zu Verkleidungen erniedrigt, zu Intrigen herbeiläßt, Verfolgungen sich aussetzt, so wird, im Gegenteil, die niedrigste Kreatur heroisch um der Liebe willen. Das Froschmännchen erträgt, so berichtet der Naturforscher, jedwede Verstümmlung während des Paarungsaktes, bei dem es vier bis zehn Tage auf dem Rücken des Weibchens sitzt. Vom Froschmännchen zum Gott ist in der Liebe kein weiter Sprung. Götter werden irdisch, Tiere heroisch und Menschen vereinigen Tier und Gott in der Liebe. Der Trotzige wird zahm und der Demütige zum Rebellen um der Liebe willen. Die Walküre selbst, so heilig aus Walhall sie schied, einmal erwacht,[128] einmal geküßt, ist sie nichts als ein Weib, das den Göttern selbst Trotz bietet, da sie sie des Ringes der Liebe berauben wollen.


»Geh hin zu der Götter heiligem Rat,

Von meinem Ringe raun' ihnen zu,

›Die Liebe ließe ich nie‹

Mir nehmen nie sie die Liebe.«


Des Menschen Liebessehnsucht ist durch das erotisch-sexuelle Erlebnis, durch die bloße biologische Erfüllung seiner Bestimmung, nicht zu stillen, nein, nur die erhabene Liebe vermag ihm die letzte Erlösung zu bringen. Nur das Gefühl der vollkommenen Harmonie mit dem geliebten Wesen kann diese große Sehnsucht stillen. Aber diese Harmonie, diese Erfüllung ist selten, sie ist erschwert und verhindert durch die unübersehbaren Verschiedenheiten der Menschen. Die Kreatur aber will erhalten bleiben. Und so tritt denn auch hier das Gesetz der Anpassung in Kraft. Alles das, was nicht ausgerottet, ausgejätet werden will mit Stumpf und Stengel, nicht fruchtlos dahinsinken will ins große Nichts, muß sich »anpassen« – auch hier; und wir sehen an diesem Beispiel, daß, wie wir es ja auch in der Natur und in der Geschichte sehen können, das Bestangepaßte nimmermehr identisch ist mit dem wirklich Edelsten. Das sich Erhaltende und Vermehrende und sich Durchsetzende ist wohl das »Tüchtigste«, aber selten ist es das Erhabene. Denn das Erhabene mit der hohen Forderung des eingeborenen Ideals, welches, da es ihm eingeboren, das Abbild einer unverkennbaren Gottheit ist, kompaktiert nicht, »paßt sich nicht an«, schließt keine Kompromisse und geht unter. »Brand« in Ibsens gleichnamigem Stück wird von der Lawine begraben. Von der Lawine seines unerbittlichen Schicksals. Alles oder nichts ist sein Wahlspruch. Die Goten mußten zugrunde gehen an ihrer[129] Edelart – jene Völker, die dem Erdenschmutz und der Erdenschwere besser »angepaßt« sind, bleiben. Wer in der Liebe trotz Hungers und Frostes, trotz seiner Vereinsamung von seiner Forderung des Höchsten nicht abgeht, den Sündenfall nicht begeht, bleibt zumeist unbegattet, wird ausgejätet und seine Edelart sinkt mit ihm dahin. Falsch, in Grund und Boden falsch ist daher der billige Optimismus der Naturwissenschaft und, aus ihr folgernd, der Gesellschaftslehre, daß der Kampf ums Dasein einen Ausleseprozeß darstelle, durch welchen das Beste in die Ewigkeit hinübergenommen würde, das Mindere aber im Nichts versänke. Vielmehr ist es im Gegenteil zumeist das Edle, das, einsam geboren, einsam dahinsinkt und nur die Hoffnung, daß nichts zu Nichts vergehen kann, daß aus dem Nirwana wiederkehrt, was irgendeinmal war, läßt an eine Verbesserung, eine Veredelung des Lebens glauben.

Wir Menschen haben es gelernt, lernen müssen, uns auch in der Liebe »anzupassen«. Die wesentlichsten Surrogate für das erhabene Liebesgefühl, von dem ein jeder träumt, sind: die soziale Liebe, die sexuelle und die kontrektative. Die soziale Liebe ist die, die bewirkt, daß zwei Individuen, Mann und Weib, sich aneinander schließen, um gesellschaftlich nicht atomisiert zu werden, um besseren Widerstand zu bieten gegen die sozialen Mächte. Die sexuelle Liebe ist ein Bündnis, das Menschen für kürzere oder längere Zeit knüpfen – sei es für einen einzigen Abend oder für eine Dauergemeinschaft – um nicht gegen die Gesetze ihres Stoffes zu sündigen. Schließlich die kontrektative Liebe – die, die sich anschmiegen will und weiter nichts; um nicht zu vereisen, zu erfrieren, schmiegen sich zwei für eine Weile oder sogar für immer in einem Winkel zusammen, reiben sich einander, wärmen sich aneinander. Nicht um einander soziale Genossen zu sein, nicht um einander zu psycho-physischen[130] Entladungen zu verhelfen, geschieht es, nein, nur um sich zu wärmen.

Der Mann als der gegen sich selbst weitaus Wahrhaftigere der beiden Geschlechter, als der weitaus Bedingungslosere, vermag sich dieser Surrogate schwerer zu bedienen. Im Gegensatz zum Weibe ist seine individuelle Forderung in der Liebe vorherrschend. Das Weib aber liebt mehr generell als individuell, weitaus mehr ist sie »Feld« – der Gattung hingegebenes Land – das, seiner Natur nach, harrt und aufnimmt. Der Mann aber ist ein Wollender, ein Ichlicher, ein trotzig seiner selbst sich Bewußter und trotzig Fordernder. Die Frauen lieben fast bedingungslos und genießen das Surrogat, wenn es sich ihnen bietet, fast wie das »Ding« selbst. Der Mann aber ist viel fähiger zu sagen: alles oder nichts. Nimmt er das Surrogat – und er nimmt es in der erbärmlichsten Form, in der Prostitution, und wo immer sonst er es findet – nimmermehr wird er, und das ist sein großer Unterschied vom Weibe, einen Augenblick vergessen, daß es Surrogat ist, nimmermehr wird es ihm genügen, nimmermehr wird es ihn befriedigen. Das Weib ist von Natur nicht so wahr, so unerbittlich wahr diesem Vorgang gegenüber wie der Mann. Und das ist gut so; denn wäre es, wie der Mann, fähig, dieses »Ding« anzusehen, und es zu erkennen auf seine Natur hin – die Menschheit könnte nur weiter bestehen, wenn Deukalion seine Schollen in sie hinein würfe.[131]

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 123-132.
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