Elftes Kapitel

[115] Wie Lazaro nach seiner Heimat reiste und was ihm unterwegs zustieß.


Ich wollte mich auf den Weg machen, aber meine Kräfte entsprachen dem Willen nicht, und so hielt ich mich noch einige Tage in Madrid auf. Ich brachte sie nicht unangenehm hin; denn ich nahm ein Paar Krücken und bettelte[115] Almosen, von Tür zu Tür, von Kloster zu Kloster. Sobald ich mich wieder bei Kräften fühlte, trat ich meine Reise an und eilte um so mehr, da ich von einem andern Bettler die Geschichte mit dem Koffer erzählen hörte, so wie ich sie erzählt habe; nur fügte er noch hinzu, daß der Mensch, den man in den Kerker geworfen, in der Meinung, er wäre der, welcher in dem Koffer gesteckt hatte, das Gegenteil bewiesen habe. Die Eltern des Mädchens suchten aber einen Lastträger auf, der alles angestiftet habe, und sie hätten geschworen, daß ihn der erste, der ihn fände, niederstoßen solle.

Ich riß beide Augen auf und legte mir ein Pflaster auf das eine, schor mir den Bart wie ein Mönch und war nun sicher, daß mich in diesem Aufzuge meine eigene Mutter nicht erkennen würde. So wanderte ich aus Madrid, in der Absicht, nach Tejares zu gehen, um zu sehen, wenn ich in meinen Geburtsort zurück kehrte, ob das ungünstige Schicksal meiner vergessen würde.

Ich kam am Eskurial vorbei, einem Gebäude, das die Größe des Monarchen zeigt, der es errichtete, und das unter die Wunderwerke der Welt gezählt zu werden verdient. Eine halbe Meile davon stieß ich auf eine Schar Zigeuner, die in einem Dörfchen ihre Wohnungen aufgeschlagen hatten. Sie sagten mir, daß dies nicht der Weg nach Salamanca sei, wohl aber der nach Valladolid. Da mich meine Geschäfte nicht eben nach diesem oder jenem Orte zu gehen nötigten, so sagte ich ihnen, da es so wäre, so wollte ich, ehe ich in meine Heimat ginge, erst diese Stadt sehen. Einer der Ältesten fragte mich, woher ich wäre, und als er erfuhr, daß ich von Tejares sei, lud er mich zum Essen ein, wegen der Nachbarschaft, da er aus Salamanca war.

Ich nahm die Einladung an, und sie baten mich hierauf,[116] ihnen mein Leben und meine Abenteuer zu erzählen. Ich tat es, ohne mich lange bitten zu lassen, so kurz, als es so große Zufälle erlaubten. Als ich auf die Kufe kam und auf den Streich, der mir im Wirtshause zu Madrid widerfahren war, erhoben sie ein lautes Gelächter, besonders ein Zigeuner und eine Zigeunerin, die über die Gebühr lachten. Ich schämte mich und wurde rot; der Zigeuner, mein Landsmann aber, der meine Scham bemerkte, sagte: Schäme dich nicht, Bruder, denn diese Herren lachen nicht über dein Leben, das mehr Bewunderung als Lachen verdient; und weil du es uns so ausführlich erzählt hast, so ist es billig, daß wir dich mit gleicher Münze bezahlen. Du mußt wissen, daß die beiden hier, welche so sehr lachen, das Mädchen und der Geistliche sind, die aus dem Fenster sprangen, als die Sündflut aus deiner Kufe sie zu ersäufen drohte.

Die junge Zigeunerin bat um die Erlaubnis, ihre Geschichte selbst erzählen zu dürfen, und begann darauf: Den Tag, als ich aus dem Hause meines Vaters lief, oder vielmehr sprang, brachten sie uns ins Gefängnis, mich in eine schlechte Stube und Herrn Vruez, der hier gegenwärtig ist, in ein dunkles Loch. Letztern führten sie, als er sagte, daß er ein Geistlicher sei, zum Herrn Bischof, der ihm einen derben Verweis gab und ihm zur Strafe auferlegte, einen Monat lang keine Messe lesen zu dürfen. Ich blieb unter der Aufsicht des Kerkerhauptmanns. Da dieser jung und verliebt und ich ein Mädchen von nicht schlechtem Ansehn war, so tat er mir alles zu Gefallen; und auf diese Weise war mir mein Gefängnis ein Garten und Aranjuez von Vergnügen.

Der Herr Lizentiat Vruez schlich unablässig um das Gefängnis herum wie ein Spürhund, um zu sehen, ob er[117] mich sprechen könne. Dies gelang ihm endlich mit Hilfe einer guten Kupplerin, die Meisterin in ihrem Gewerbe war, indem sie ihn wie ein Dienstmädchen kleidete und ein Tuch um seinen Bart band, als ob er Zahnweh hätte. Aus unsrer Zusammenkunft entsprang der Anschlag zu meiner Flucht. In der folgenden Nacht wurde nämlich im Hause des Grafen Miranda ein Ball gegeben, auf welchem die Zigeuner einen Tanz aufführen sollten. Mit diesen verstand sich Canil (so hieß jetzt der Herr Lizentiat), damit sie ihn bei seinem Vorhaben unterstützten, und sie taten dies so gut, daß wir mit ihrer Hilfe der ersehnten Freiheit und ihrer angenehmen Gesellschaft genießen. Leicht überredete ich den Herrn Hauptmann, den der kleine blinde Bube mit einem Pfeile verwundet hatte, mich den Ball sehen zu lassen. Damit ich desto weniger erkannt würde, kleidete er mich als einen Pagen, mit einer Jacke von grünem Damast, mit Gold verbrämt, einem Mäntelchen von grünem Sammet, einem Hute mit einer Reiherfeder und einem Bande von Diamanten; um den Hals hatte ich eine schöne Spitzenkrause; die Schuhe waren weiß und die seidnen Strümpfe gelb mit bunten Strumpfbändern aufgebunden. Außerdem gab er mir noch einen vergoldeten Degen und Dolch.

Wir kamen in den Saal, in welchem sich viele schöne Damen und reichgekleidete Kavaliere befanden. Canil war wie ein Bauer angezogen und stellte sich, als er mich erblickte, an meine Seite, so daß ich zwischen ihm und dem Hauptmann stand. Die Zigeuner begannen zu tanzen, und während desselben gerieten sie in Wortwechsel, der so heftig wurde, daß einer dem andern einen Degenhieb über den Kopf gab, so daß das Blut dicht herabströmte. Alles kam in Bewegung, und man rief nach der Wache. Der Alguazil, der ebenfalls zugegen war, übergab dem Herrn Hauptmann[118] den Verbrecher, ihn ins Gefängnis zu führen. Gern hätte der mich mit sich genommen, aber aus Furcht, man dürfte mich erkennen, flüsterte er mir zu, ich möchte mich in jenen Winkel, den er mir zeigte, zurückziehen, bis er wiederkäme. Kaum war er fort, als mich Canil, der immer an meiner Seite stand, bei der Hand nahm, und mit zwei Sprüngen waren wir auf der Straße.

Als der Verwundete, den alle schon für tot hielten, vermutete, daß wir in Sicherheit wären, sprang er auf und sagte: Meine Herren, bis jetzt ist der Spaß gut gegangen. Ich bin frisch und gesund, und alles geschah nur zur Aufheiterung des Festes. – Er nahm eine Kappe ab, in der eine mit Blut gefüllte Ochsenblase versteckt war, die der Hieb durchschnitten hatte. Alle fingen an zu lachen, ausgenommen der Hauptmann, der mich nirgends finden konnte. Ehe wir Madrid verließen, hatten wir meine Kleider für zweihundert Realen umgesetzt und das Hutband für vierhundert Taler verkauft. Zweihundert davon zahlte ich, als wir hier ankamen, an diese Herren: denn so hatte es ihnen Canil versprochen. Dies ist die Geschichte meiner Befreiung; verlangt nun Herr Lazaro irgendeinen Dienst von uns, so darf er nur befehlen, wir werden ihm in allem zu dienen suchen.

Ich dankte ihr für ihre Höflichkeit und nahm von allen Abschied. Der gute Alte begleitete mich eine Meile weit. Unterwegs fragte ich ihn, ob sie alle Zigeuner und in Ägypten geboren wären, worauf er mir antwortete, in ganz Spanien gäbe es nicht einen einzigen, sondern alle wären Geistliche, Klosterbrüder, Nonnen und Diebe, die sich aus den Klöstern und Kerkern geflüchtet hätten. Die ärgsten Betrüger wären aber die Flüchtlinge aus den Klöstern, die das spekulative Leben mit dem aktiven vertauscht hätten.[119] – Er kehrte hierauf zurück, und ich setzte auf den Pferden des heiligen Franziskus meinen Weg fort.

Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 115-120.
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