Zwölftes Kapitel

[120] Was Lazaro eine Meile von Valladolid in einem Wirtshause begegnete.


Auf dem Wege stellte ich über das Leben, die Gewohnheit und das Gewerbe der Zigeuner meine Betrachtungen an. Es befremdete mich sehr, wie die Justiz so offenbare Diebe öffentlich dulde, da doch alle Welt weiß, daß ihr Handel und Wandel nichts andres als Dieberei ist. Sie sind ein Asyl und Anlockung der Schurken, eine Kirche für Abtrünnige und eine Schule aller Übeltaten. Am meisten verwunderte ich mich darüber, daß die Klosterbrüder ihr ruhiges Leben verlassen, um dem elenden und beschwerlichen der Zigeunerei zu folgen.

Eine Meile von Valladolid kam ich zu einem Wirtshause, vor dessen Tür die Alte aus Madrid und das Mädchen, für welches der Koffer bestimmt war, saßen. Es kam ein artiger Herr heraus, der sie zum Essen abrief. Sie kannten mich nicht, da ich durch die Bettlerkleider, die ich trug, und das Pflaster auf dem Auge sehr verstellt war; aber ich erkannte in dem Galan sogleich den Lazarus, der aus dem Sarge, der mir so teuer zu stehen kam, gestiegen war. Ich stellte mich vor sie hin, um zu sehen, ob sie mir etwas geben würden; sie konnten mir aber nichts geben, da sie selbst nichts hatten.

Der Galan hatte für sich, für seine Geliebte und die alte Kupplerin ein wenig Schweinsleber in einer Brühe bereiten lassen. Alles, was in der Schüssel war, hätte ich mit weniger als zwei Bissen verschlungen. Das Brot war so[120] schwarz wie das Tischtuch, welches der Kutte eines Büßenden oder einem Ofenwisch glich. – Iß, mein Leben, sagte der Galan, es ist ein Fürstenessen. – Die Kupplerin aß und schwieg, um keine Zeit zu verlieren, weil sie sah, daß nicht viel für solche Einladungen da war. Sie rieben die irdene Schüssel so aus, daß sie die Glasur abscheuerten.

Da ich sah, daß es hier für mich nichts gab, fragte ich den Wirt, ob er etwas zu essen hätte. Er sagte, er würde mich nach der Bezahlung bedienen, und bot mir einen Lammbraten an, der dem Liebhaber nicht angestanden hatte, weil er zu teuer war. Ich wollte gegen sie aufschneiden, ließ mir ihn bringen und setzte mich damit unten an ihre Tafel. Jetzt war es sehenswert, was für Blicke sie warfen; mit jedem Blicke verschluckte ich sechs Augen, denn die des Galans, des Mädchens und der Kupplerin waren an das, was ich aß, wie angenagelt. Es war, als ob mein Lammbraten ein Magnet wäre; denn ehe ich es mir versah, zog er sie alle dreie zu meiner Schüssel. Die kleine Unverschämte nahm ein Stück und sagte: Mit Eurer Erlaubnis, Bruder! – und ehe sie diese erhalten hatte, war auch der Bissen schon in ihrem Mund. Auch die Alte nahm einen Bissen, um den Geschmack zu versuchen, und der Liebhaber sagte: Es scheint ihnen zu schmecken! – und steckte ein Stück Fleisch in den Mund, so groß als eine Faust. Da ich sah, daß sie sich zu viel Freiheit herausnahmen, nahm ich alles, was in der Schüssel war, auf einen Bissen, der aber so groß war, daß er weder vor- noch rückwärts konnte.

Jetzt kam die Alte, welche bei einem Geräusche an die Tür getreten war, hereingelaufen, hielt die Hände vor das Gesicht und sagte leise und voll Angst: Wir sind verloren! Die Brüder Klärchens (so hieß das Mädchen) sind vor der[121] Tür. – Das Mädchen fing an, sich die Haare auszuraufen und sich ins Gesicht zu schlagen, als ob sie besessen wäre; aber der Galan, dem es nicht an Mut fehlte, tröstete sie, indem er sagte, sie möchten ruhig sein, denn wo er wäre, hätten sie nichts zu fürchten. Ich horchte auf, den Mund noch voll von Lammbraten, und als ich hörte, daß diese Eisenfresser da wären, glaubte ich vor Furcht zu sterben. Da aber meine Kehle voll war, so kehrte meine Seele wieder zurück, weil sie keinen Ausweg fand.

Die beiden Cids traten herein, und sobald sie ihre Schwester und die Kupplerin erblickten, schrien sie: Hier sind sie! hier haben wir sie! hier sollen sie sterben! – Ich stürzte vor Angst zu Boden, und die beiden Weiber versteckten sich hinter ihren Ritter wie Küchlein unter die Flügel der Henne, wenn sie den Geier fliehen. Er legte unerschrocken Hand an den Degen und trat ihnen so unerschrocken entgegen, daß sie vor Schreck zu zwei Bildsäulen wurden. Die Worte waren ihnen im Munde und die Degen in den Scheiden eingefroren. Er fragte sie, was sie wollten und was sie suchten, und indes er dies tat, fiel er über den einen her, riß ihm den Degen weg, hielt ihm denselben vor die Augen und dem andern seinen eignen. Bei jeder kleinen Bewegung, die er machte, zitterten sie wie Espenlaub. Die Alte und die Schwester, als sie diese beiden Rolande so zaghaft sahen, näherten sich ihnen und entwaffneten sie.

Der Wirt kam bei dem Lärm, den alle machten, herein (denn auch ich war schon aufgestanden und hielt den einen am Barte) und schrie: Was ist das? Was untersteht ihr euch in meinem Hause? – Die Weiber, der Ritter und ich schrien zugleich, es wären Räuber, die uns gefolgt wären, um uns auszuplündern. Der Wirt, als er sah, daß sie entwaffnet und wir die Sieger waren, sagte: Was? Räuber in[122] meinem Hause? – packte sie an und schleppte sie mit unsrer Hilfe in einen Keller, ohne daß ihnen ihre Rechtfertigungen zu etwas halfen. Ihr Bedienter, der indessen die Maultiere versorgt hatte, kam und fragte nach seinen Herren, und auch diesen steckte er zu ihnen. Er nahm hierauf ihre Mantelsäcke und schloß sie ein, gleich als ob sie ihm gehörten. Von uns forderte er gar keine Zeche, damit wir nur sein Verfahren gutheißen und ihm als Zeugen dienen möchten. Als Richter des Ortes, für welchen er sich ausgab, verurteilte er alle drei für ewig auf die Galeeren und jeden noch zu zweihundert Rutenhieben um das Wirtshaus herum. Er brachte sie hierauf mit dreien seiner Knechte nach Valladolid und stellte sie vor das Inquisitionsgericht, indem er in dem Prozesse einige Worte angeführt hatte, die sie wider die Richter der heiligen Inquisition ausgestoßen hätten: ein unverzeihliches Verbrechen. Man warf sie in einen tiefen Kerker, aus dem sie weder, wie sie hofften, ihrem Vater schreiben noch sonst jemanden um Hilfe anrufen konnten.

Der verschmitzte Wirt sagte uns, daß die Herren Inquisitoren ihm aufgetragen hätten, die im Prozeß angeführten Zeugen vor ihnen erscheinen zu lassen, er riet uns aber als seinen Freunden, uns davonzumachen. Dies taten wir gern. Nach vierzehn Tagen wurde zu Valladolid ein öffentlicher Akt der Inquisition gehalten, wobei ich unter den übrigen Büßenden auch die drei armen Teufel erblickte, jeden mit einem Knebel im Munde, als Gotteslästerer, die es gewagt, ihre Zungen gegen die Diener der Inquisition, solche heilige und vollkommene Leute, zu erheben. Ein jeder trug eine Mitra und ein Sanbenito1,[123] auf welchem sein Ver brechen und seine Strafe geschrieben stand. Es tat mir leid, den armen Bedienten dabei zu sehen, der das mit bezahlen mußte, was er nicht verschuldet hatte. Mit den andern hatte ich kein Mitleid, weil sie gegen mich keins gehabt hatten. Das Urteil des Wirts war übrigens bestätigt und noch dreihundert Rutenstreiche hinzugefügt worden, nach deren Empfang sie auf die Galeeren geschickt werden sollten.

Fußnoten

1 Mitra oder Coroza ist eine drei Fuß hohe spitze Mütze von gemalter Pappe, die den Verbrechern aufgesetzt wird, welche die Inquisition bestraft. – Sanbenito, ein breites Stück Tuch mit einem Andreaskreuze, das vorn und hinten über die Schultern herabhängt und mit dem diese Verbrecher ebenfalls geschmückt waren.


Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 120-124.
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