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[1230] »Ich sah also keinen andern Weg vor mir, wie sie's nennen, ›mein Glück in der Welt zu machen‹, als wenn ich in meines Vaters Fußstapfen träte. Ich lernte fleißig, und in meinem 12. Jahre machte ich lateinische Verse, wußte aber nicht Körbel von Petersilie zu unterscheiden. Wir hatten keinen Garten, und weil man alles wohlfeiler kaufen als bauen konnte, so kam, wie man sagte, nichts dabei heraus. Von aller Herrlichkeit der Welt hatte ich nichts gesehen bis in mein sechzehntes Jahr, außer wenn ich mit meinem Vater gegangen war, an Galatagen die Herrschaft speisen zu sehen. Die Konditorarbeit, die zum Nachtische aufgesetzt ward, und seit zwanzig Jahren in einem Tempel Salomonis bestand, gefiel mir indessen sehr wohl, wenn nur die Offiziers von der Garde nicht gewesen wären, die uns alle, Krethi und Plethi, wenn wir eine Weile gegafft hatten, zur einen Tür hinaustrieben, um eine frische Herde zur andern hereinzulassen.

Ich hatte Gefühl für die Natur, es schlief aber und ward nicht entwickelt. Ich erinnere mich noch, wie eines lieblichen Morgentraums, der Zeiten die ich auf dem Lande zubrachte. Mein Vater hatte eine Schwester, eine Pfarrwitwe, die ihr notdürftiges Auskommen hatte, um ihre drei Söhne aber zu erziehen, schon[1230] manche Lücken in ihre kleine Kapitälchen gemacht hatte. Diese Frau hatte mich besonders liebgewonnen, weil ich so viel lernte; und ich mußte die Feiertage, und die Oster- und Herbstmesse, wenn's möglich war, die Ferien bei ihr zubringen. Ich denke noch immer der schönen Sommerabende, wenn wir weit vors Dorf mit unserm großen Kruge gingen, Wasser zu holen, und an dem Brünnchen unter dem Schatten des herrlichsten Nußbaums sich die Mädchen und Jungen versammleten, und man aus dem Dunkel über die Hecken auf die noch herrlich erleuchtete Wiese sehen konnte; wenn wir in der Scheune die hohe Schaukel befestigten, und bis oben an die Torschwelle fuhren, uns im Garten mit Äpfeln warfen, oder auch abends draußen mit Pulver allerlei Feuerwerk anstellten das man in der Stadt nicht treiben durfte, die Kürbisse aushöhlten, Gesichter darein schnitten, und beinahe uns selber vor dem Licht fürchteten, das so schrecklich aussah. Besonders war mir der Herbst nicht allein angenehm, sondern höchst einträglich, weil es hier umsonst so viel zu schmausen gab, das man in der Stadt so teuer erkaufen mußte. Auch gefiel mir's sehr für einen gescheiten Menschen zu passieren, wenn mir hier mit so viel Achtung begegnet ward, und ich ihnen beim Nüßausmachen Gellerts Fabeln rezitierte. Die Küche war auch ein herrlicher Ort in meinen Augen, weil hier keine Köchin war, die uns wegtrieb, und wir Jungen unsre Kartoffeln und Kastanien selber braten, auch auf den Pfannkuchen warten, bis er fertig war, und ihn selber in die Stube tragen durften.

Indessen konnte die Liebe zum Landleben nie zur Leidenschaft werden. So wohl mir's tat, wenn ich in die freie Luft kam, so wenig spürte ich doch, daß mir was fehlte, wenn ich wieder in meinen Stadtkarch gesperrt war. Allein es ging natürlich zu: nie hatte ich auf dem Lande eigentlichen Wohlstand bemerkt, sondern alles seufzte unter der Last der Abgaben und dem Mangel des Geldes. Auch hatte von allen Leuten, die ich je gesehen, nie einer etwas Merkwürdiges weder an einem Baum, einer Feldblume, einem Gräschen, einem Insekt oder einer Erdschichte bemerkt. Das Land schien mir also nur hübsch grün, und in der Ferne hübsch blau. Von merkwürdigen Menschen konnte auf dem Lande gar nichts vorkommen; denn sie wsren augenscheinlich alle weniger als die Leute in der Stadt. Denn die größten Menschen unter allen waren diejenigen, die viel Bücher in der Stube hatten, d.i. von der Feder Profession machten. Außer dem Griechischen und Latein ward nichts auf dem Pädagogio[1231] getrieben als ein wenig Geographie und Historie; und zwar diese in ebendemselben Geschmack von den Kindern Israel an bis aufs Habsburgische Haus. Immer war's ein Regent und ein regierendes Haus oder Volk, für das uns Ehrfurcht eingeprägt ward, und so wie wir dieses liebten, haßten wir alle andre Völker, wie die Moabiter, Amalekiter und übrige heidnische Völker, die eine Vorhaut hatten. Von der ganzen praktischen Philosophie war nicht ein Fünkchen im ganzen Lande zu spüren, außer was hier und da bei den Gliedern der medizinischen Fakultät unter der Asche loderte. Außer dem Leibmediko hatte kein Mensch eine Luftpumpe oder Elektrisiermaschine gesehen. Wenn bei der Untersuchung eines Sauerbrunnens die Herrn Kommissarii sahen, daß die Dinge bald grün, bald rot, bald schwarz wurden, so wußten sie wohl, daß der Teufel nichts dabei zu tun hatte; allein wie es zuging, dafür ließ man den Stadt- oder Landphysikus sorgen. Ich las indessen den Virgil und Horaz und Cicero, d.i. ich explizierte die Leute, allein keiner machte die geringste Würkung auf meine Imagination. Es war mir wohl, wenn ich sie absolviert hatte. Im 15. Jahr hielt ich eine Oration über den Charakter des Tertullian, und untersuchte, inwiefern das afrikanische Klima Einfluß auf seinen Stylus gehabt hatte. Sechs Monate drauf stellte ich eine öffentliche Vergleichung zwischen Cäsar und Alexander an. So präpariert ging ich auf die Universität, hörte was zu hören war, schrieb nach was der Professor fallenließ, und kam nach drei Jahren, mit vielen tausend Ideen bereichert, wohlbehalten nach Hause. Ich ward durch den Kredit meines Vaters sogleich employiert. Ich applizierte mich, und ob ich gleich merkte, wie himmelweit der Gang der Geschäfte von dem akademischen Wörterkram ablag, so tat mir doch meine wohlerlernte Topik herrliche Dienste. Ich konnte jeden begreifen und auch mich wieder begreiflich machen; kurz ich erhielt bald den Ruf, daß ich ein brauchbar und fleißiges Subjektum sei. Als mein Vater starb, nahm mich einer der Geheimen Räte, der das Ohr des Fürsten hatte, unter dem Titel eines F. Geheimen Sekretarii zu sich ins Haus, um die Akten für ihn zu lesen, und auch meist die Extrakte zu machen. Ich ward oft zum Fürsten mit geheimen mündlichen Aufträgen geschickt. Der Fürst lernte mich hierdurch kennen, und da kurz nachher eine große Veränderung im Ministerio vorging, nahm er mich zu sich ins Schloß unter dem Charakter eines Geheimen Referendarii. Das Jahr darauf ging ich mit ihm auf Reisen. Ich ward ihm notwendig,[1232] ohne sein Liebling zu sein, und von dieser Zeit fängt eigentlich die Epoche an, die mich zu meiner jetzigen Lebensart bestimmte. Doch davon ein andermal.«

Quelle:
Sturm und Drang. Band 2, München 1971, S. 1230-1233.
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