Achtes Kapitel

[89] Und der Mohr log nicht.

Rudolf Wertmüller wandelte in dem Augenblicke, da sich sein Gast dem Schlummer entriß, schon unweit der Kirche von Mythikon unter den sonntäglichen Scharen, welche alle dahinführenden Wege und Fußsteige bevölkerten.

Der sonst so rasche Schritt des Generals war heute ein gemessener und seine Haltung durchaus würdig und untadelig. Er war in schwarzen Sammet gekleidet und trug in der behandschuhten[89] Rechten ein mit schweren vergoldeten Spangen geschlossenes Gesangbuch.

Seltsam! Wertmüller, der seit langem jede Kirche gemieden hatte, stand bei den Mythikonern in dem schlimmen Rufe und der schwefelgelben Beleuchtung eines verhärteten Freigeistes, es war ihnen eine ausgemachte, nicht anzufechtende Tatsache, daß ihn über kurz oder lang der Teufel holen werde – und dennoch waren sie herzlich erfreut, ja gerührt, ihn auf ihrem Kirchwege einherschreiten zu sehen. Sie erblickten in seinem Erscheinen durchaus nicht einen Akt der Buße, denn sie liebten es nicht und hielten es für schmählich – hierin den griechischen Dramatikern ähnlich – wenn eine erwachsene Person ihren Charakter wechselte; sie trauten es dem Generale zu, daß er konsequent bleibe und resolut ins Verderben fahre. Die Mythikoner faßten vielmehr den Kirchgang des alten Kriegsmannes als eine Höflichkeit auf, als eine Ehre, die er der Gemeinde erweise, als einen öffentlichen Abschiedsbesuch vor seinem Abgange ins Feldlager.

Das Grüßen nahm kein Ende und jeder Gruß ward von dem heute ausnahmsweise Leutseligen mit einem Nicken oder einem kurzen freundlichen Worte erwidert. Nur ein altes Weib, das böseste in der Gemeinde, stieß ihre blödsinnige Tochter zurück, die den General angaffte, und raunte ihr vernehmlich zu: »Verbirg dich hinter mir, sonst nimmt er dich und macht dich zur Türkin!«

Weniger erfreut über den Anblick des ungewohnten Kirchgängers war der Pfarrer Wilpert Wertmüller, als er, mit Mantel und Kragen angetan, aus dem Tore seines Hofraumes trat, in dessen Mitte hinter einem altergrauen Brunnen zwei mächtige Pappeln sich leis im Winde wiegten. Seine Überraschung war eine vollständige; denn Rahel hatte geschwiegen.

Der Pfarrer, ein Sechziger von noch rüstigem Aussehen und nicht gerade geistreichen, aber männlichen Gesichtszügen, mochte den General als einen versuchten Weidmann in Wald und Feld wohl leiden; daß er aber seine Erbauung gerade in der Kirche von Mythikon suchte – das hätte er ihm gerne erlassen.

Je unwillkommener, desto höflicher war der General. Er zog den Hut, dann nahm er den Pfarrer an der Hand und führte ihn in den Flur seines Hauses zurück. Gerade in diesem Augenblicke setzte die schöne, morgenfrische Rahel ihren Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, sonntäglich angetan und ebenfalls ein[90] kleines in schwarzen Sammet gebundenes Gesangbuch in der Hand.

»Kind, du bist reizend! eine Nymphe!« begrüßte sie Wertmüller. »Lasse dich väterlich auf die Stirn küssen!«

Sie weigerte sich nicht und der kleine, aber fest und wohlgebaute General richtete sich auf den Fußspitzen empor, um die feine weiße Stirn des hochgewachsenen Mädchens zu erreichen, eine eher komische als zärtliche Gruppe.

»Bittest du mich nach der Predigt zu Tische, Alter?« fragte Wertmüller.

»Selbstverständlich!« versetzte der gastfreundliche Pfarrer. »Rahel bleibt zu Hause und besorgt die Küche.«

Das willige Mädchen fügte mit einem leichten Knixe hinzu: »Wir bedanken uns, Pate!« und eilte in das obere Stockwerk zurück.

»Ich bringe dir etwas mit, Alter«, lächelte der General.

»Gewehr?« fuhr der Pfarrer heraus und seine Augen leuchteten.

Wertmüller nickte bejahend und zog unter dem breiten Schoße seines Sammetrockes ein Pistol hervor. Die vornehme Fasson und der damaszierte Lauf des kleinen Meisterstückes der damaligen Büchsenschmiedekunst stachen dem Pfarrer gewaltig in die Augen. Seine ganze Leidenschaft erwachte. Wertmüller trat mit ihm aus dem dämmerigen Flur durch die Hintertüre der Pfarre in den Garten, um ihn die kostbare kleine Waffe im vollen Tageslichte bewundern zu lassen.

Die ganze Langseite des Hauses war mit einer ziemlich niedrigen Weinlaube bekleidet; an dem einen Ende dieses grünen Bogenganges hatte der Pfarrer vor Jahren eine steinerne Mauer mit einer kleinen Scheibe aufführen lassen, um sich, an dem entgegengesetzten Eingange Posto fassend, während seiner freien Stunden im Schießen zu üben.

»Aus der Levante?« fragte er, sich des Pistols bemächtigend.

»Venezianische Nachahmung. Sieh hier die verschlungene Chiffre GG – bedeutet Gregorio Gozzoli«, rühmte Wertmüller.

»Ich erinnere mich, diesen Schatz von Pistölchen in deiner Waffenkammer auf der Au gesehen zu haben – aber war es nicht ein Pärchen?«

»Du träumst ...«

»Ich kann mich geirrt haben. Spielt das kleine Ding leicht?«

»Leider ist der Drücker etwas verhärtet, aber du darfst das[91] fremde Meisterstücklein keinem hiesigen Büchsenmacher anvertrauen, er würde dir es verderben.«

»Etwas hart? Tut nichts!« sagte der Pfarrer. Er nahm trotz Mantel und Kragen am einen Ende der Laube Stellung. Auf dem linken Fuße ruhend, den rechten vorgesetzt, zog er den Hahn und krümmte den Arm.

Eben verstummten die Glocken auf dem nahen Kirchturme und das Auszittern ihrer letzten Schläge verklang in dem Gesumme der Wespen, die sich geräuschvoll um die noch nicht geschnittenen Goldtrauben der Laube tummelten.

Der Pfarrer hörte nichts – er drückte und drückte mit dem Aufgebot aller Kraft.

»Pfui, Alter, was schneidest du für Grimassen?« spottete Wertmüller. »Gib her!« Er entriß ihm die Waffe und legte seinen eisernen Finger an den Drücker. Der Hahn schlug schmetternd nieder. »Du verlierst deine Muskelkraft, Vetter! Dich entnervt die gliederlösende Senectus! Ich will dir selbst den Mechanismus etwas geschmeidiger machen – du weißt, daß ich ein ruhmreicher Schlosser und ganz leidlicher Büchsenschmied bin!« Der General ließ die schmucke kleine Waffe in die Tiefe seiner Tasche zurückgleiten.

»Nein, nein, nein!« rief der Pfarrer leidenschaftlich. »Du hast es mir einmal geschenkt! Ich lasse es nicht mehr aus den Händen! . . .«

Zögernd hob der General das Pistol wieder hervor – nicht mehr dasselbe. Er hatte es, der alte Taschenspieler, mit dem auch für ein schärferes und ruhiges Auge nicht leicht davon zu unterscheidenden Zwillinge gewechselt.

Der Pfarrer hielt die Waffe kaum wieder in der Hand, als er sich von neuem in Positur stellte, denn er war ganz Feuer und Flamme geworden, und Miene machte, den Hahn noch einmal zu spannen.

Der General aber fiel ihm in den Arm. »Hernach!« redete er ihm zu. »Donnerwetter! Es hat längst ausgeläutet.«

Herr Wilpert Wertmüller erwachte wie aus einem Traume, besann sich, lauschte. Es herrschte eine tiefe Stille, nur die Wespen summten.

Er steckte das Pistol eilig in die geräumige Rocktasche und die Vettern beschritten den kurzen, jetzt völlig menschenleeren Weg nach der nahen Kirche.[92]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 89-93.
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