Siebentes Kapitel

[86] Der Kandidat eilte in raschem Laufe dem Damme zu, durch welchen die Südseite der Insel mit dem festen Lande zusammenhing. Oft hatte er, da er sich im verflossenen Frühjahre in Mythikon aufhielt, den Sitz des damals in Deutschland bataillierenden Generals mit neugierigen Augen gemustert, ohne ihn je zu betreten. Er wußte, daß der Damm gegen seine Mitte hin durch ein altertümliches kleines Tor und eine Brücke unterbrochen war, aber er war gewiß, kein Hindernis zu finden, da dieses Tor, wie er sich erinnerte, niemals geschlossen wurde, sich auch nicht schließen ließ, da es keine Torflügel hatte.

Jetzt erreichte er das Ufer und erblickte zu seiner Linken die Linie des Dammes. Aber, o Mißgeschick! der von dem dämmernden Hintergrunde scharf abgehobene Balken der Brücke schwebte in der Luft und bildete statt eines rechten einen spitzen Winkel mit dem Profil der Pforte, an deren Steinbogen er durch zwei Ketten befestigt war. Das Tor, die aufgezogene Brücke, die kleine Verbindungslinie der Ketten – alles ließ sich mit überzeugender Deutlichkeit unterscheiden; denn der Mond gab genügendes Licht und in dem leeren, nicht zu überspringenden Zwischenraume flimmerte sein Widerschein in dem silbernen Gewässer. Pfannenstiel war ein Gefangener. Unmöglichkeit, durch das Moor zu waten! Er wäre, da er die Furten des tückischen Röhrichts nicht kannte, bei den ersten Schritten versunken und hätte ein klägliches Ende genommen. Ratlos stand er am Inselgestade, während aus dem Sumpfe dicht vor seinen Füßen ein volltöniges Brekekex Koax Koax erscholl.

Gerade an jenem Abende war unter den Fröschen der Au ein junger Lyriker von bedeutender Begabung aufgetaucht, der das feste und gegebene Motiv der Froschlyrik so keck in Angriff nahm und so gefühlvoll behandelte, daß der begeisterte Chor nicht müde wurde, die vorgesungene Strophe mit unersättlichem[86] Enthusiasmus zu wiederholen. Auf den Kandidaten freilich machte das leidenschaftliche Gequäke einen tief melancholischen Eindruck, als steige es aus den Sümpfen des Acheron empor.

In halber Verzweiflung wollte er nun über den Damm nach der Pforte eilen, ob sich die Zugbrücke mit Anstrengung aller Kräfte nicht senken ließe. Da gewahrte er, noch einmal vorwurfsvoll nach dem unheimlichen Landhaus sich umwendend, eine ihm entgegenwandernde Helle und nach wenig Augenblicken stand Hassan mit einem Windlicht in der Faust an seiner Seite. Mit untertäniger Zutunlichkeit redete ihm der gutmütige Mohr zu, in die von ihm geflohene Wohnung zurückzukehren.

»Langweilig Frosch, geistlicher Herr!« radbrechte Hassan, »Schloß an Zugbrücke – Zimmer bereit!«

Was war zu tun? Nichts anderes als Hassan zu folgen. In der großen, auf den gepflasterten Hausflur mündenden Küche entzündete der Mohr zwei Kerzen und leuchtete dem Kandidaten die Treppe hinauf. Auf der zweitobersten Stufe ergriff er ihn rasch am Arme: »Nicht erschrecken, geistlicher Herr!« flüsterte er. »Schildwache vor Zimmer von General.«

Und in der Tat, da stand eine Schildwache. Hassan beleuchtete sie mit der Kerze und Pfannenstiel erblickte ein Skelett, das die Knochenhände auf eine Muskete gestützt hielt und an dem über die Rippen gekreuzten und blank gehaltenen Lederzeuge Patrontasche und Seitengewehr der zürcherischen Landmiliz trug. Ein kleines dreieckiges Hütchen war auf den hohlen Schädel gestülpt.

Der Kandidat fürchtete das Bild des Todes nicht, er war mit demselben von Amts wegen vertraut, ja er hatte eine gewisse Vorliebe für die warnende und erbauliche Erscheinung des Knochenmannes. Aber wer war der Mensch, der da drinnen unter der Hut dieser gespenstischen Wache schlief? Und welche seltsame Lust fand er daran, mit den ernstesten Dingen sein frevles Gespötte zu treiben?

Jetzt öffnete der Mohr das zweitäußerste Zimmer der Seeseite und stellte die beiden Leuchter auf den Kamin. Pfannenstiel, dessen Wangen glühten und fieberten, trat ans Fenster um es aufzureißen; Hassan aber hielt ihn zurück. »Seeluft ungesund«, warnte er und machte die Flügeltüre eines Nebenzimmers auf, um dem Erhitzten in unschädlicher Art mehr Luft zu verschaffen. Dann entfernte er sich mit einem demütigen Gruße.

Der Kandidat schritt eine gute Weile in der Kammer auf und[87] nieder, um seine erregte Phantasie zur Ruhe zu bringen und den wunderlichsten Tag seines Lebens einzuschläfern. Aber das gefährlichste Abenteuer desselben war noch unbestanden.

Aus dem von Hassan geöffneten Nebenzimmer klang ein leiser Ton, wie ein tiefer Atemzug. Hatte die streichende Nachtluft die Falten eines Vorhanges bewegt oder war ein Käuzlein an den nur halb geschlossenen Jalousien vorbeigeflattert?

Der Kandidat hemmte seinen Schritt und horchte. Plötzlich fiel ihm ein, daß dieses nächste Zimmer, das letzte der Fassade, kein anderes sein könne, als die Räumlichkeit, welche der Schiffer Bläuling der Türkin des Generals angewiesen hatte.

Die Möglichkeit einer solchen Nähe brachte den unbescholtenen jungen Geistlichen begreiflicherweise in die größte Angst und Unruhe, doch nach kurzer Überlegung beschloß er, in die berüchtigte Kammer mutig hineinzuleuchten.

Er betrat einen reichen türkischen Teppich und stand, sich zur Rechten wendend, vor einem lebensgroßen Bilde, welches von vergoldetem, üppigem Blätterwerk eingerahmt war und die ganze, dem Fenster gegenüberstehende Wand des kleinen Kabinettes füllte. Das Bild war von einem Niederländer oder Spanier der damals kaum geschlossenen glänzenden Epoche in jener naturwarmen, bestrickenden Weise gemalt, die den Neuern verlorengegangen ist. Über eine Balustrade von maurischer Arbeit lehnte eine junge Orientalin mit den berauschenden dunkeln Augen und glühenden Lippen, bei deren Anblicke die Prinzen in Tausend und einer Nacht unfehlbar in Ohnmacht fallen.

Sie legte den Finger an den Mund, als bedeute sie den vor ihr Stehenden: Komm, aber schweige!

Pfannenstiel, der nie etwas auch nur annähernd Ähnliches erblickt hatte, wurde tief und unheimlich erschüttert von der Verlockung dieser Gebärde, der Sprache dieser Augen. Es tauchte etwas ihm bis heute völlig unbekannt Gebliebenes in seiner Seele auf, etwas, dem er keinen Namen geben durfte – eine brennende Sehnsucht, die glückselige Möglichkeit ihrer Erfüllung! Vor diesem Bilde begann er an so übergewaltige Empfindungen zu glauben und vor ihrer Macht zu erbeben ...

Plötzlich wandte sich der Kandidat, lief in sein Schlafgemach zurück und begnügte sich nicht, die Türe zu verschließen, er schob noch den Riegel und drehte zuletzt den Schlüssel um. Nun glaubte er sein Lager gesichert und begrub sich in die Kissen desselben.[88]

Doch kaum war er entschlummert, so trat das schöne Schemen durch die Türe, ohne sie zu öffnen, und nahm tückisch Gestalt und Antlitz der Rahel Wertmüller an, ihren maidlichen Wuchs, ihre feinen geistigen Züge. Aber ihre Augen schmachteten wie die der Orientalin und sie legte den Finger an den Mund.

Nun kam eine böse, schlimme Stunde für den armen Kandidaten. Er wollte fliehen und wurde von einer dämonischen Gewalt zu den Füßen des Mädchens hingeworfen. Er stammelte unsinnige Bitten und machte sich verzweifelte Vorwürfe. Er umfaßte ihre Kniee und verurteilte sich selbst als den ruchlosesten aller Sünder. Rahel, erst erstaunt, dann strengblickend und unwillig, stieß ihn zuletzt empört von sich weg. Jetzt stand der General neben ihm und reichte ihm das Pistol. »Die Figur«, dozierte er, »wird bezwungen von der männlichen Elementarkraft.« Dem Kandidaten wurde wie von eisernen, teuflischen Krallen der Arm gebogen, und er setzte sich die tödliche Waffe an die rechte Schläfe. »Fliehe mit mir!« stöhnte er. Sie wandte sich ab. Er drückte los, und erwachte, nicht in seinem Blute, aber in kaltem Schweiße gebadet. Dreimal trieb ihn der quälende Halbtraum in diesem Kreislaufe von Begierde, Frevel und Reue herum, bis er endlich das Fenster aufschloß und im reinen Hauche der heiligen Frühe in einen tiefen beruhigenden Schlaf versank.

Er erwachte nicht, bis Hassan mit warmem Wasser ins Zimmer trat und auf seinen Befehl die Jalousien öffnete. Ein himmlischer, innig blauer Tag und das nun halb verwehte, nun voll hallende Geläute aller Seeglocken drang in die Traumkammer.

»General Kirche gegangen«, sagte der Mohr. »Geistlicher Herr frühstücken?« –

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 86-89.
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