V

[168] In der Pfarre des hinter der schwedischen Schlachtlinie liegenden Dorfes Meuchen saß gegen Mitternacht der verwitwete Magister Todänus hinter seiner Foliobibel und las seiner Haushälterin, Frau Ida, einer zarten und ebenfalls verwitweten Person,[168] die Bußpsalmen Davids vor. Der Magister – übrigens ein wehrhafter Mann mit einem derben, grauen Knebelbarte, der ein paar Jugendjahre unter den Waffen verlebt – betete dann Inbrünstig mit Frau Ida für die Erhaltung des protestantischen Helden, der eben jetzt in kleiner Entfernung das Schlachtfeld, er wußte nicht, ob behauptet oder verloren hatte. Da pochte es heftig an das Hoftor und die geistergläubige Frau Ida erriet, daß sich ein Sterbender melde.

Es war so. Dem öffnenden Pfarrer wankte ein junger Mensch entgegen, bleich wie der Tod, mit weit geöffneten Fieberaugen, barhaupt, an der Stirn eine klaffende Wunde. Hinter ihm hob ein anderer einen Toten vom Pferde, einen schweren Mann. In diesem erkannte der Pfarrer trotz der entstellenden Wunden den König von Schweden, welchen er in Leipzig einziehen gesehen und dessen wohlgetroffener Holzschnitt hier in seinem Zimmer hing. Tief ergriffen bedeckte er das Gesicht mit den Händen und schluchzte.

In fieberischer Geschäftigkeit und mit hastiger Zunge begehrte der verwundete Jüngling, daß sein König im Chor der anstoßenden Kirche aufgebahrt werde. Zuerst aber forderte er laues Wasser und einen Schwamm, um das Haupt voll Blut und Wunden zu reinigen. Dann legte er mit der Hilfe des Gefährten den Toten, welcher seinen Armen zu schwer war, auf ein ärmliches Ruhebett, sank daran nieder und betrachtete das wachsfarbene Antlitz liebevoll. Als er es aber mit dem Schwamm berühren wollte, wurde er ohnmächtig und glitt vorwärts auf den Leichnam. Sein Gefährte hob ihn auf, sah näher zu und bemerkte außer der Stirnwunde eine zweite, eine Brustwunde Durch einen frischen Riß im Rocke neben einem über dem Herzen liegenden geflickten Risse sickerte Blut. Das Gewand seines Kameraden vorsichtig öffnend, traute der schwedische Kornett seinen Augen nicht. »Hol mich! straf mich!« stotterte er, und Frau Ida, welche die Schüssel mit dem Wasser hielt, errötete über und über.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und der Oberst Ake Tott trat herein. In Proviantsachen rückwärts gesendet, war er nach verrichtetem Geschäfte dem Schlachtfelde wieder zugeeilt und hatte in der Dorfgasse, vor dem Kruge ein Glas Branntwein stürzend, die Mär vernommen von einem im Sattel wankenden Reiter, der einen Toten vor sich auf dem Pferde gehalten.[169]

»Ist es wahr, ist es möglich?« schrie er und stürzte auf seinen König zu, dessen Hand er ergriff und mit Tränen benetzte. Nach einer Weile sich umwendend, erblickte er den Jüngling, welcher in einem Lehnsessel ausgestreckt lag, seiner Sinne unmächtig. »Alle Teufel«, rief er zornig, »so hat sich die Gustel doch wieder an den König gehängt!«

»Ich fand den jungen Herrn, meinen Kameraden«, bemerkte der Kornett vorsichtig, »wie er, den toten König vor sich auf dem Pferde haltend, über das Schlachtfeld sprengte. Er hat sich für die Majestät geopfert!«

»Nein, für mich!« unterbrach ihn ein langer Mensch mit einem Altweibergesicht. Es war der Kaufherr Laubfinger. Um eine beträchtliche durch den Krieg gefährdete Schuld einzutreiben, hatte er sich aus dem sichern Leipzig herausgewagt und unwissend dem Schlachtfelde genähert. In die von Gepäckwagen gestaute Dorfgasse geraten, war er dann dem Obersten nachgegangen, ihn um eine salva guardia zu ersuchen. In einem überströmenden Gefühle von Dankbarkeit und von Erleichterung erzählte er jetzt den Anwesenden umständlich die Geschichte seiner Familie. »Gustel, Gustel«, weinte er, »kennst du noch dein leibliches Vetterchen? Wie kann ich dir's bezahlen, was du für mich getan hast?«

»Damit, Herr, daß Ihr das Maul haltet!« fuhr ihn der Oberst an.

Der Pfarrer aber trat in das Mittel und sprach mit ruhigem Ernst: »Herrschaften, ihr kennt diese Welt. Sie ist voller Lästerung.« Frau Ida seufzte. »Und da am meisten, wo ein großer und reiner Mensch eine große und reine Sache vertritt. Würde der leiseste Argwohn dieses Andenken trüben« – er zeigte den stillen König – »welches Fabelgeschöpf würde nicht die papistische Verleumdung aus dieser armen Mücke machen«, und er deutete auf den ohnmächtigen Pagen, »die sich die Flügel an der Sonne des Ruhmes verbrannt hat! Ich bin wie von meinem Dasein überzeugt, daß der selige König von diesem Mädchen nichts wußte.«

»Einverstanden, geistlicher Herr«, schwur der Oberst, »auch ich bin davon, wie von meiner Seligkeit nicht durch die Werke, sondern durch den Glauben überzeugt.«

»Sicherlich«, bestätigte Laubfinger. »Sonst hätte der König sie heimgeschickt und auf mich gefahndet.«

»Hol mich, straf mich!« beteuerte der Kornett und Frau Ida seufzte.[170]

»Ich bin ein Diener am Wort, Ihr traget graues Haar, Herr Oberst, Ihr, Kornett, seid ein Edelmann, es liegt in Eurem Nutzen und Vorteil, Herr Laubfinger, für Frau Ida bürge ich wir schweigen.«

Jetzt öffnete der Page die sterbenden Augen. Sie irrten angstvoll umher und blieben auf Ake Tott haften: »Pate, ich habe dir nicht gehorsamt, ich konnte nicht – ich bin eine große Sünderin.«

»Ein großer Sünder«, unterbrach sie der Pfarrer streng; »Ihr redet irre! Ihr seid der Page August Leubelfing, ehelicher Sohn des nürembergischen Patriziers und Handelsherrn Arbogast Leubelfing, geboren den und den, Todes verblichen den siebenten November eintausendsechshundertzweiunddreißig an seinen Tages vorher in der Schlacht bei Lützen empfangenen Wunden, pugnans cum rege Gustavo Adolpho.«

»Fortiter pugnans!« ergänzte der Kornett begeistert.

»So will ich auf Euren Grabstein setzen! Jetzt aber machet Euern Frieden mit Gott! Euer Stündlein ist gekommen.« Der Magister sagte das nicht ohne Härte, denn er konnte seinen Unmut gegen das abenteuerliche Kind, das den Ruf seines Helden gefährdet hatte, nicht verwinden, ob es schon in den letzten Zugen lag.

»Ich kann jetzt noch nicht sterben, ich habe noch viel zu reden!« röchelte der Page. »Der König ... im Nebel ... die Kugel des Lauenburgers –« der Tod schloß ihr den Mund, aber er konnte sie nicht hindern, mit einer letzten Anstrengung der brechenden Augen das Antlitz des Königs zu suchen.

Jeder der Anwesenden zog seinen Schluß und ergänzte den Satz nach seiner Weise. Der geistesgegenwärtige Pfarrer aber, dessen Patriotismus es beleidigte, den Retter Deutschlands und der protestantischen Sache – für ihn ein und dasselbe – von einem deutschen Fürsten sich gemeuchelt zu denken, ermahnte sie alle eindringlich, dieses Bruchstück einer durch den Tod zertrümmerten Rede mit dem Pagen zu begraben.

Jetzt, da August Leubelfing sein Schicksal vollendet hatte und leblos neben seinem Könige lag, schluchzte der Vetter: »Nun die Base verewigt und der Erbgang eröffnet ist, nehme ich doch meinen Namen wieder an mich?« und er warf einen fragenden Blick auf die Umstehenden. Der Magister Todänus betrachtete eben das unschuldige Gesicht der tapfern Nürembergerin, das einen glücklichen Ausdruck hatte. Der strenge Mann konnte sich einer Rührung nicht erwehren. Jetzt entschied er: »Nein, Herr![171]

Ihr bleibt ein Laubfinger. Euer Name wird die Ehre haben, auf dem Grabhügel eines hochgesinnten Mädchens zu stehen, das einen herrlichen Helden bis in den Tod geliebt hat. Ihr aber habt Euer höchstes Gut gerettet, das liebe Leben. Damit begnüget Euch.«

Die Kirche wurde gegen den Andrang der zuströmenden Menge gesperrt und verriegelt; denn das Gerücht hatte sich rasch verbreitet, hier liege der König. Die Toten wurden dann gewaschen und im Chore aufgebahrt. Über alledem war es helle geworden. Als die Kirchtore den mit ungeduldigen Gebärden, aber ehrfürchtigen Mienen Eindringenden sich öffneten, lagen die beiden vor dem Altare gebettet auf zwei Schragen, der König höher, der Page niedriger, und in umgekehrter Richtung, so daß sein Haupt zu den Füßen des Königs ruhte. Ein Strahl der Morgensonne – dem gestrigen Nebeltage war ein blauer wolkenloser gefolgt – glitt durch das niedrige Kirchenfenster, verklärte das Heldenantlitz und sparte noch ein Schimmerchen für den Lockenkopf des Pagen Leubelfing.[172]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 168-173.
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