Viertes Kapitel

[436] Der Auftrag des Herzogs war der unruhigen Neugier des jungen Zürchers in hohem Grade willkommen.

In seiner Heimat hatte er vordem den bündnerischen Parteiführer aufs verschiedenste beurteilen hören. Auf den lärmenden Zunftstuben der Handwerker galt damals Jürg Jenatsch als ein volkstümlicher Held, in den landesväterlichen diplomatisch gefärbten Kreisen als ein gewissenloser, blutbefleckter Abenteurer.[436]

Aber Rudolf Wertmüller hatte seiner Heimat frühzeitig den Rücken gewandt, um einen militärischen Bildungsgang anzutreten, der den Begünstigten schon mit sechzehn Jahren in das Kriegsgefolge und die persönliche Nähe des edeln Herzogs Heinrich geführt hatte.

Noch war ihm gegenwärtig, wie einst die unglaubliche Verwegenheit und Zähigkeit, welche Jenatsch in den Volkskämpfen gegen die Spanier bewiesen, seine junge Phantasie beschäftigte. Doch aus noch früherer Zeit erinnerte er sich auch, daß der wilde Anteil des protestantischen Prädikanten an den ruchlosen demokratischen Strafgerichten mit ihren Erpressungen und politischen Morden in seiner Familie Abscheu erregt hatte, und daß es ihm besondern Spaß gemacht, als sein Präzeptor darüber wehklagend die Hände gen Himmel erhob.

Daneben schwebte ihm ein anderes Erlebnis seiner Kinderjahre mit frischester Deutlichkeit vor. Am städtischen Jahrmarkte stand er einst mitten in der gespannt lauschenden Volksmenge vor dem Schauergemälde eines Bänkelsängers und lauschte den endlosen Versen einer tragischen Mordgeschichte. Die ruckweis wandernde Gerte des Leiermanns wies auf die Szenen einer mit den grellsten Farben bemalten Tafel. Auf dem Mittelstück umstanden die sogenannten drei bündnerischen Telle ihr nur mit dem Hemde bekleidetes, aus einem Schlot heruntergerissenes Opfer, den unglücklichen Herrn Pompejus. Einer von ihnen schwang ein langgestieltes Fleischerbeil – das war der berühmte Pfarrer Jenatsch! – Als dann der aufgeregte Knabe beim Abendbrot vor seinem Stiefvater, dem Obersten Schmid, von den neuen Tellen erzählte, verbot ihm dieser zornrot, der blutdürstigen Kanaillen in seiner Gegenwart Erwähnung zu tun.

Jetzt schaute er dieser Persönlichkeit von bestrittenem Werte Aug in Auge und sie war anders, als sie in seiner Vorstellung gelebt hatte. Statt der rohen und zweideutigen Erscheinung eines geistlichen Demagogen saß ein weltgewandter Mann mit der Sicherheit und Freiheit des Kavaliers in Wort und Bewegung vor ihm. – Von der ungewöhnlichen militärischen Begabung des ehemaligen Pfarrers hatte ihn der im Namen des Herzogs mit diesem geführte Briefwechsel genügend überzeugt, aber was ihn überraschend berührte, war ein gewisser Zauber der Anmut, der die kühnen Züge und warmen Worte des Bündners verschönt hatte, als dieser mit dem Herzog sprach. – Der nichts weniger als arglose Zürcher fragte sich, ob diese Herzlichkeit echt sei.[437]

Ja, sie sprudelte voll und natürlich, aber es war ihm nicht entgangen, daß die unausbleibliche Wirkung dieses warmen Eindringens auf den Herzog eine gewollte, vielleicht im voraus berechnete war.

Nachdem die Gondel einige schmale Wassergassen durchglitten, folgte sie auf kurze Zeit der Hauptader des venezianischen Verkehrs, dem Canal grande, wo in der Ferne mitten im Gewimmel der Gondeln und Fischerbarken noch das langsam und stolz dahinziehende Fahrzeug des Herzogs sichtbar war; dann, aufs neue in die Schatten enger Lagunen sich vertiefend, eilte sie der die Stadt nördlich begrenzenden stillen Meerfläche zu.

»Ihr fochtet in Deutschland, Hauptmann, bevor Ihr der Republik von San Marco Eure Dienste angeboten habt?« begann der ungeduldige Wertmüller das Gespräch, da sein Gefährte eigenen Gedanken nachzuhängen schien.

»Unter Mansfeld. Dann folgte ich der schwedischen Fahne bis zu dem unseligen Tage von Lützen«, war die zerstreute Antwort.

»Unselig? Es war eine entschiedene Victorie!« meinte der junge Offizier.

»Wäre es doch lieber eine Niederlage gewesen und hätten zwei strahlende Augen sich nicht geschlossen!« sagte der Bündner. »Durch den Tod eines Mannes ward die Weltlage eine andere. Unter Gustav Adolf war der Krieg kein mutwilliges Blutvergießen: er führte ihn für seinen großen Gedanken, zum Schutze der evangelischen Freiheit ein starkes nordisches Reich zu gründen, und ein solches Reich wäre der Halt und Hort aller kleinen protestantischen Gemeinwesen, auch meines Bündens, geworden. Dies ersehnte Ziel ist uns mit dem großen Toten entrückt und der seiner Seele beraubte Krieg entartet zur reißenden Bestie. Was bleibt übrig? Zweckloses Morden und habgierige Teilung der Beute. Unter Gustav Adolfs Fahne konnte ein Bündner freudig fechten; Blut und Leben für die protestantische Sache verströmend, war er sicher, daß es in Segensbächen zurückrinne in sein kleines Vaterland. – Jetzt sehe jeder zu, daß er heimkehre und für das Seine sorge.«

»Glaubt Ihr denn, daß ein einzelner Mann, und wäre er Gustav Adolf, so schwer in der Schicksalswaage der Welt wiege?« fragte rasch der widerspruchslustige Wertmüller. »Die Eifersucht der deutschen Fürsten hätte wie ein Geschling von Sumpfpflanzen seinen Fuß gehemmt, sein neidischer Bundesgenosse[438] Richelieu hätte ihn, sobald er die Hand nach der deutschen Krone ausstreckte, arglistig zu Falle gebracht und erreicht hätte er nichts, als das Zusammenkrachen der alten verrosteten Maschine des Heiligen Römischen Reichs. – Im Grunde erscheint mir der Schwedenkönig als ein frommes Gegenstück zum Wallenstein. Dieser wird als gottloser Empörer schwarz wie der Teufel an die Wand gemalt und jener ist im Geruche der Heiligkeit gestorben; meines Erachtens aber haben beide unberechtigterweise der Welt ihre willkürlichen Pläne aufgedrängt und beide sind wie feurige Meteore nach kurzem Glanze erloschen. Heute geht nun das Räderwerk der Welt wieder seinen geregelten Gang, wir rechnen wieder mit den gebräuchlichen Zahlen und nach den bekannten Gesetzen. Frankreich und Schweden verschaffen den deutschen Protestanten die von ihnen so heftig begehrte evangelische Freiheit, aber die beiden Gönner werden sich diesen Liebesdienst mit fetten Stücken deutschen Landes nach Gebühr bezahlen lassen.«

»Wie, junger Freund«, sprach der Bündner aufmerksam werdend, »von schmählichem Länderraube muß ich Euch reden hören wie von alltäglichem Schacher? Euch, einen Schweizer! – Schämt Euch, Wertmüller ... müßt ich sagen, wenn ich es für Euern Ernst hielte! – Und das nennt Ihr den geregelten Lauf der Dinge? Ihr anerkennt das Recht des Stärkern in seiner rohesten seelenlosesten Gestalt und leugnet seine göttliche Erscheinung in der Macht der Persönlichkeit?«

Hier blickte Wertmüller mit einem unmerklichen Zuge des Hohns zu ihm auf und ließ einen leisen Pfiff hören. Die vor ihm sitzende nach seinen Begriffen immerhin schwankende und zweideutige Persönlichkeit schien ihm wenig berufen, in die Weltgeschicke einzugreifen.

Der andere aber maß ihn mit einem zornigen Blicke. »Ihr mißversteht mich kläglich«, sagte er, »wenn Ihr meint, ich denke an die vom Boden abgelöste Persönlichkeit des einzelnen Mannes, wie sie entwurzelt und eigensüchtig sich umhertreibt, sondern ich rede von der Menschwerdung eines ganzen Volkes, das sich mit seinem Geiste und seiner Leidenschaft, mit seinem Elende und seiner Schmach, mit seinen Seufzern, mit seinem Zorn und seiner Rache in mehrern, oder meinetwegen in einem seiner Söhne verkörpert und den welchen es besitzt und beseelt zu den notwendigen Taten bevollmächtigt, daß er Wunder tun muß, auch wenn er nicht wollte! . . .[439]

Blickt umher! Seht Euer und mein kleines Vaterland, wie es zusammengedrückt wird von der Wucht ringsum sich bildender großer Monarchien, und sprecht! Genügt da, wenn wir ein selbständiges Leben behaupten wollen, eine gewöhnliche Vaterlandsliebe und ein haushälterisches Maß von Opferlust?« ...

Diese mit der Heftigkeit eines verwundeten Gefühls hervorstürzenden Worte ließ der Locotenent anfangs ohne Entgegnung. In seinen gescheiten grauen Augen lag die Frage: Bist du ein Held oder ein Komödiant? Er spielte mit seinem jungen spitzen Kinnbarte und schaute nach der Stadt zurück, wo sich auf dem in diesem Augenblicke hervorragendsten Bauwerke, der neuen Jesuitenkirche, die effektvolle Statuengruppe des Daches von der Rückseite in den wunderlichsten Verkürzungen zeigte. Die von eisernen Stangen gestützten Engel und Apostel mit ihren Flügeln und flatternden Mänteln erinnerten auffallend an kolossale gespießte Schmetterlinge. –

»In Zürich«, warf er jetzt hin, »sind die Menschen so klein wie die Verhältnisse, und Bünden, haltet es mir zugut, Hauptmann, kenne ich bis jetzt nur durch mein Fachstudium, das heißt als eines der interessantesten Operationsfelder. Wollt Ihr dort den Leonidas spielen, und mit mehr Glück als der erste, so will ich's Euch nicht neiden. – Ich aber meine, das Auftauchen außerordentlicher Menschen und das Aufflackern großer Leidenschaften, das bei der mißlichen Beschaffenheit der menschlichen Natur doch einmal nicht von Dauer ist, reiche nirgends aus. Um aus den durcheinandergewürfelten Elementen der Welt etwas Planvolles zusammenzubauen, braucht es meines Bedünkens kältere Eigenschaften: Menschenkenntnis, will sagen Kenntnis der Drähte, an welchen sie tanzen, eiserne Disziplin und im Wechsel der Personen und Dinge festgehaltene Interessen. – Aus diesem Gesichtspunkte muß ich jene dort als Meister loben!« und er wies mit einer komischen, zwischen Ernst und Spott schillernden Miene hinüber nach dem Prachtgiebel der Jesuiten.

Und der Locotenent ließ sich von der Muße und Laune des Augenblickes verlocken, eine Lobrede auf den berühmten Orden zu halten, welche aus dem Munde des Zürchers und eines Adjutanten des calvinistischen Herzogs den gelassensten Zuhörer befremden mußte.

Erst begann er mit einzelnen Probewürfen. Als aber der Hauptmann, den zu reizen und bloßzulegen er sich heute zur besonderen Aufgabe gemacht hatte, den Ball nicht auffing und[440] zurückschickte, setzte er den frommen Vätern immer phantastischere Kronen auf. Sie waren es, behauptete er dreist, die zuerst Sinn und Verstand in die sich widersprechenden, menschen- und staatsfeindlichen Lehren des unvermittelten Christentums gebracht hatten. Erst durch die Umarbeitung der christlichen Moral, die der kluge Orden unternommen, sei diese annehmbar, ja verlockend geworden. So hätten die unvergleichlichen Väter etwas ursprünglich Dunkles, Unberechenbares, Weltfeindliches mit erstaunlicher Geschicklichkeit praktisch verwertet und allen Bedürfnissen und Bildungsstufen angepaßt.

»Kennt Ihr das Innere ihrer neuen Kirche?« fragte er plötzlich, »sie ist, meiner Treu, so lustvoll und heiter eingerichtet, wie ein Theater.«

Der Bündner ließ dieses kecke und sprunghafte Geplauder schweigend über sich ergehen – wie die große Dogge, die in ihrer Hütte liegt, ungern, aber nur mit leisem Knurren die Neckerei eines unterhaltungslustigen kleinen Kläffers erträgt, der als überlästiger Gast zu ihr hineingekrochen ist.

Die Gondel hatte inzwischen Murano erreicht, wo sie unfern der Kirche anlegte.

Jenatsch wandte sich nach der nächsten Locanda, forderte ein einfaches Mahl und entschuldigte sich bei seinem Gefährten, er sei abgespannt und hungrig von der gestrigen Seereise und einem scharfen nächtlichen Ritte nach Padua. Er schlage vor, hier im Anblicke des Meeres eine Stunde zu rasten und diesmal auf die Mahlzeit in den Spiegeln und die Venezianerinnen auf dem Markusplatze zu verzichten.

Wertmüller, der sowohl durch diesen Tausch der Mittagstafel als durch das beharrliche Schweigen des Bündners etwas verstimmt war, erging sich, die Kosten der Unterhaltung allein bestreitend, in immer willkürlicheren Gedankensprüngen. Er kam, wie gestachelt durch einen geheimen Groll, von neuem auf seine Vaterstadt zu sprechen, und da der Bündner sich der edlen Zürich und seines dortigen Jugendfreundes Waser nur zu rühmen hatte, so riß den Locotenenten der Widerspruch und der feurige illyrische Wein so weit fort, daß er von den angesehensten heimischen Persönlichkeiten frevelhafte Zerrbilder entwarf und bei der dritten Flasche Seine Gestrengen den Herrn Bürgermeister einen Gockel auf dem Mist und Seine Hochwürden den Herrn Antistes einen steif gehörnten Farren nannte.

Der Hauptmann, der diese tollen und geschmacklosen Ausfälle[441] der Eingebung des Weines zuschrieb, wie sie sich bei dieser ehrgeizigen und auf jedes fremde Verdienst eifersüchtigen Natur äußerte, ließ den jungen Offizier, der den Gegenstand nicht erschöpfen konnte und dem darüber die Zeit verging, seine Laune weidlich tummeln und blieb dabei, Zürich habe in den letzten gefahrvollen Zeiten ebensoviel Klugheit als Festigkeit gezeigt, und wenn es sich mit dem Schilde vorsichtiger Neutralität gedeckt, sei das, wie der Schweiz, so Graubünden zustatten gekommen.

Dann trat der in Venedig sich unsicher fühlende Bündner, welcher, ohne daß Wertmüller es ahnte, allem was im Bereiche seines geübten und weittragenden Auges sich begab, die schärfste Aufmerksamkeit zuwandte und auch in dieser abgelegenen Locanda keine Rast fand, hinaus an den schmalen Strand, ohne auf Wertmüllers spöttisches Gelächter zu achten.

»Neutralität!« rief dieser, dem Hauptmann in die Gondel nachspringend, aus. »Da hat mir der Witz des Zufalls ein Zettelchen in die Hand gespielt, das für unsere aufrichtige, streng abgewogene Neutralität und nebenbei für unsere schlichte Bürgertugend ein rührendes Zeugnis ablegt. – Die Gleisner und Pharisäer! . . . Wollt Ihr wissen, Hauptmann, was jeder unsrer Ratsherren und Zunftmeister wert ist? Ich hatte neulich im Namen meines Herzogs«, sagte er, seine Brieftasche hervorziehend, »dem französischen Gesandten in Solothurn ein Heft zu überschicken, worin ihm sein Verhalten in den verschiedenen Möglichkeiten des bevorstehenden Feldzuges im Veltlin von meinem Herrn vorgezeichnet wurde, und erhielt es mit Randbemerkungen und Einlagen der Gesandtschaft zurück. Seht hier, was ich in Form eines zufällig stecken gebliebenen Buchzeichens zwischen den Blättern fand!« – Er entfaltete einen schmalen Papierstreifen, auf dem eine Reihe von Namen zürcherischer Standespersonen verzeichnet stand mit beigesetzten höhern und niedrigern Zahlen, neben welchen das verräterische Livreszeichen unverkennbar zu lesen war. Das Ganze stellte freilich eine nur unbedeutende Summe dar.

Diesmal konnte sich Jenatsch eines herzlichen Lachens nicht enthalten. »Das gesteh ich! Eine großartige Bestechung!« spottete er. »Wer konnte das ahnen! Aber gerade daß sie dieses Taschengeld so verschämt und vorsichtig einstecken, das dürfen wir als einen ganz anständigen Rest von Tugend nicht unterschätzen. Unsre Salis und Planta nehmen ausländisches Gold mit edler[442] Unbefangenheit am hellen Tage, auch sind es ganz andere Summen.«

Während Wertmüller noch die Papiere seiner überfüllten Brieftasche musterte, durchlief Jenatsch mit einiger Spannung die unrühmliche Liste, auf welcher er zu seiner Befriedigung den Namen Waser nicht fand. Jetzt zerriß er sie plötzlich in kleine Stücke. Erst als die weißen Fetzen schon fern auf der von der Abendbrise bewegten Flut schwebten, ward Wertmüller seinen Verlust gewahr und hielt mit Mühe einen Ausbruch seines Ärgers zurück.

Jenatsch erklärte ihm ruhig, er habe als Freund sein Bestes wahrgenommen, dies Papier würde ihm und andern nichts als Verdruß gebracht haben. Zürich sei seine Wiege und Sohnespflicht sei's, die kleinen Schwächen einer treuen Mutter zu verheimlichen.

»Was mich abhielt, Euch auf die Finger zu sehen, Hauptmann, war dieser Brief«, sagte der Locotenent. »Er ist noch uneröffnet, wie ich gewahre, und steckt schon seit drei Tagen in meiner Brieftasche. Ich habe wahrhaftig vergessen, ihn zu lesen. Er kommt von meinem Vetter, der in Malland trotz seines Protestantismus als Handelsherr gute Geschäfte macht und beim Gubernatore Serbelloni in Gunsten steht. Gestattet mir, in Eurer Gegenwart von dem Inhalte des Schreibens Kenntnis zu nehmen.«

Jenatsch winkte bejahend und Wertmüller vertiefte sich eine geraume Weile in den Brief, erst um sich Haltung zu geben, denn das eigenmächtige Tun des Hauptmanns hatte ihn beleidigt, nach und nach mit immer größerem Interesse.

»Eine gloriose Geschichte! Beim Jupiter, eine alte Römerin!« rief er endlich aus. »Ich kann Euch das nicht vorenthalten, obgleich Ihr eben, Hauptmann, mein kameradschaftliches Vertrauen hinterlistig mißbraucht habt! Um so weniger da Euch das Ereignis sozusagen persönlich angeht, denn die Hauptrolle hat eine Bündnerin! Mit den Worten dieser Krämerseele – ich meine den Briefsteller, meinen langweiligen Vetter – mag ich es Euch freilich nicht mitteilen, es wäre schade darum! Erlaubt mir, Euch die seltene Historie frei vorzutragen. Also:

In Mailand lebt, wie Euch nicht unbekannt sein wird, Euer alter bissiger Herr Rudolf, der Planta von Zernetz mit seinem gleichnamigen, die brave Bärentatze mit Unehren im Wappen führenden Sohne in den ärmlichsten Umständen. Jener intrigiert[443] und speist bei dem Gubernatore und dieser treibt sich mit dessen Neffen in den eines weiten Rufs genießenden Spielhäusern und Spelunken der Stadt herum. Die zwei jungen Gesellen sind von der gleichen Gemütsart, und während der alte Planta vom Oheim mit politischen Hoffnungen kärglich genährt wird, erhält der junge vom Neffen, dem ein Gefährte seiner Tollheit erwünscht und ein waffenkundiger Gehilfe seiner nicht über jeden Zweifel erhabenen Tapferkeit unentbehrlich ist, reichliche Mittel zum ausgiebigen Genusse der Gegenwart. Dafür wollte sich der Knabe Rudolf dankbar erweisen, und da es ihm an Herz und Geist fehlt, um seinem freigebigen Freunde einen ehrenvollen und guten Dienst zu leisten, verfiel er auf einen schlechten und schimpflichen. Bei dem alten Planta, der einen verfallenen Palast im einsamsten Stadtquartiere bewohnt, hatte eine verwaiste Nichte, ich weiß nicht von welcher geächteten Seitenlinie des Hauses, Zuflucht gefunden. Dies Mädchen, eine seltene Schönheit, soll auf einen großen Besitz in Bünden gerechten, aber unter den gegenwärtigen politischen Umständen unsichern Anspruch haben, und wurde um dieser Aussicht willen von dem alten Rudolf seinem Sohne zur Frau bestimmt. Lucretia jedoch ist edlen Sinnes und verschmäht den nichtswürdigen und unnützen Gesellen. Nun mag Rudolf, um auf einen Wurf seinen Groll zu kühlen und seine Schuld abzutragen, mit dem jungen Serbelloni, dem die nur in der Kirche sichtbare bündnerische Schönheit als das höchste Gut erschien, einen niederträchtigen Handel abgeschlossen haben. Genug, in einer Nacht, da der alte Rudolf beim Gubernatore, der junge im Spielhaus sitzt und Lucretia mit einer bejahrten lombardischen Dienerin in dem öden Hause allein ist, hört sie verdächtiges Geräusch im Nebengemache. Diebe vermutend, ergreift sie das erste beste Messer und tritt in ihre vom Monde nur schwach erhellte Kammer. Da drückt sich eine dunkle Gestalt in den Schatten. Lucretia schreitet auf sie zu und ruft sie an. Der junge Serbelloni tritt ihr entgegen, stürzt ihr zu Füßen und umfängt ihre Kniee mit den glühendsten Liebesbeteurungen. Sie nennt ihn einen Nichtswürdigen und behandelt ihn mit so kalter Verachtung, daß sein Flehen sich jäh in Drohung verwandelt und er ihr sagt, sie sei in seiner Gewalt, die Türen seien bewacht. Doch Lucretia, von stattlicher Gestalt und hohem Gemüt, hält den Emporspringenden mit der Linken kraftvoll nieder und stößt ihm mit der Rechten von oben das Messer in die Brust. Er schwankt und[444] schreit nach seinen Knechten. Jetzt stürzt die bestochene Kammervettel, die an der Tür gehorcht hatte, mit Jammergeschrei ins Gemach und schreckt mit ihrem mörderlichen Hilferufen die Nachbarschaft aus dem Schlafe. Die gewaltsame Entführung ist vereitelt, man hebt den blutenden Serbelloni auf und trägt ihn weg. Die Wahrheit wird vertuscht, der Vorfall durch einen unzeitigen Besuch bei dem jungen Planta notdürftig erklärt und als ein Mißverständnis achselzuckend beklagt. Die schöne Lucretia aber begibt sich schon am nächsten Morgen in den Palast des Gubernatore, bittet um seinen Schutz, wird, da der Neffe nicht auf den Tod verwundet ist, vom Oheim mit höchster Auszeichnung, ja mit Bewunderung aufgenommen und tut ihm den Entschluß kund, welches Schicksal ihrer dort warte, in ihre bündnerischen Berge zurückzukehren, denn es sei besser daheim zu darben als das schmachvolle Brot der Verbannung zu essen.« –

Nach einer längern Pause fuhr Wertmüller fort: »Der Schluß des Briefes ist merkwürdig. Man meint, sie habe sich nach Venedig gewandt, um von meinem Herzog einen Freibrief zur Heimreise zu begehren. – Seid Ihr nicht stolz auf diese bündnerische Judith? Diesmal hätte ich für meine Erzählung sicher auf Euern Beifall gerechnet und Ihr schweigt wie eine Statua, Herr Hauptmann?«

Mit neugierigen Augen schaute der Locotenent dem gegenübersitzenden Jenatsch, der sich zum Schutze gegen den Abendwind fest in seinen Mantel gewickelt hatte, in das von dem spanischen Hute beschattete Gesicht; aber ein Scherzwort, das er ihm zuzuwerfen im Begriffe war, erstarb auf seiner Lippe und ihn fröstelte.

Das braune Antlitz des in der Gondel Zurückgelehnten, das er im Laufe dieses Tages immer belebt und bewegt gesehen hatte von den verschiedensten Äußerungen eines feurigen Temperamentes und geschmeidigen Geistes, es war wie erstorben und erkaltet zu metallener Härte. Unverwandt staunte es vor sich hin auf die dämmernd geröteten Wellen und erschien fremdartig verzogen und drohend in seiner Erstarrung.

Der Zürcher indessen ließ sich nicht gerne verblüffen, und da ihm nichts Schickliches und Kluges einfiel, kam er noch einmal mit bewundernden Ausführungen auf die bündnerische Judith zurück.

»Laßt doch die unwürdige, die überaus unpassende Vergleichung!« fuhr jetzt der andere heftig und scharf aus seinem[445] Traume auf. – »Jede Bündnerin hätte an Lucretias Stelle wie sie getan.«

Dann schien er plötzlich die nahenden Lichter der Stadt zu bemerken und sprang, auf sie hinweisend, ohne jede Vermittlung in einen liebenswürdigen Ton über. »Da langen wir ja schon an«, sagte er leichthin. »Könnten wir nicht, bevor wir an der Treppe des Herzogs anlegen, hinaus an die Zattere fahren, wohin ich meine Dienerschaft mit den aus Dalmatien zurückgebrachten Habseligkeiten beordert habe? Ich möchte diese gleich im Palaste des Herzogs in Sicherheit bringen.«

»Das geht kaum an, Hauptmann. Der Umweg wäre bedeutend und die Nacht bricht ein. Ich hafte für Euch und der Herzog ist pünktlich bis zur Peinlichkeit!« erwiderte der Zürcher, und er wunderte sich insgeheim und fragte sich, warum Jenatsch für sich und das Seinige wohl Schutz bedürfe.

Noch einmal suchte er auf dem tiefbeschatteten Gesichte vor ihm zu lesen, aber die Gondel bog eben in eine schmale, finstere Lagune ein und nur zwei glühende Augensterne blickten ihm, wie die eines Löwen, aus der Nacht entgegen.

Als die Gondel im Canal grande vor den Marmorstufen des herzoglichen Palastes neben einer andern, zur Abfahrt bereiten, anlegte, zeigten sich auf der Schwelle des schön gewölbten Tores zwei Männergestalten in Staatstracht, die sich in ausdrucksvoller Silhouette vom hellen Hintergrunde der glänzend erleuchteten Halle abhoben. Die eine zeigte den feinen Bau und die ruhige, geschmeidige Bewegung des vornehmen Venezianers, die andere, von behaglicher Fülle und deutschehrbarem Ansehen, weigerte sich mit etwas kleinstädtischer Höflichkeit den Vortritt zu nehmen.

»Voran, Herr Waser! Ihr seid mein verehrter Gast«, sagte der Schlanke, den jetzt Jenatsch und Wertmüller als den Provveditore der Republik mit höchster Ehrerbietung begrüßten. Grimani wandte sich dem Bündner mit gewinnender Freundlichkeit zu.

»Für diesmal keine Auseinandersetzung«, sagte er. »Ich darf Euch, da Ihr von dem edlen Herzog erwartet seid, hier nicht aufhalten. Von minder Wichtigem später. Wir sehen uns wieder.«

Herr Waser konnte es nicht unterlassen auch seinerseits, bevor er den Fuß in die Gondel setzte, dem Jugendfreunde die Hand zu reichen und ihm zuzuflüstern: »Der Herzog ist dir überaus[446] günstig und auch Grimani, mein gütiger Wirt in Venedig, äußerte sich wohlwollend über deine Person und rühmte deine Leistungen.«

Die Gondel fuhr ab. Während sie die Halle durchschritten, sagte Jenatsch lächelnd zu Wertmüller: »Ich bin in den dalmatischen Bergen verwildert und soll jetzt ohne Vorbereitung die Sphäre der zarten Herzogin betreten. – Sie ist ohne Frage an Rang und Geist die vornehmste Dame, der mich meine Sterne zu Füßen legten. Erlaubt, Locotenent, daß ich in Eurer Kammer mein Wams bürste, und leiht mir Euern schönsten Spitzenkragen!«

Damit eilten die beiden Offiziere in raschen Sätzen die breitgestuften Treppen hinauf.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 436-447.
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