An die Nachtigall

[153] Im Junius 1772.


Ah Nachtigall! Es fernte kaum

Sich im beglückten Morgentraum

Mein jahrelanger Kummer,

Da scheuchtest du den Schmeicheltraum

Und meinen süßen Schlummer.


Schon war ich tot; empfand nicht mehr

Des Mädchens Stolz, das liebeleer

Auf meine Leiden blickte,

Und doch mit jedem Tage mehr

Den trunknen Blick entzückte!


Sie kam an meinen Hügel hin,

Sah, wie ein Strauch von Rosen ihn

Mit Blüten überdüftet,

Und lehnte sich ans Grabmal hin,

Das Freunde mir gestiftet.


Brach eine von den Rosen ab

Und streute sie bethränt aufs Grab.

Mit trauervollem Blicke

Sah sie noch einmal bang herab

Und eilte blaß zurücke.


Was rufst du mich, o Nachtigall,

Zurück ins Leben voller Qual

Durch schmeichelhafte Lieder?

Nun fühl' ich, harte Nachtigall!

Den Stolz des Mädchens wieder.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 153-154.
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