An einen unzufriednen Freund

[263] (1775.)


Was irrst du, Schwermut im Gesicht,

O Freund, durchs Leben hin;

Und siehst des Frühlings Blumen nicht

Zu deiner Freude blühn?


Siehst nicht des goldnen Sommers Zier,

Nicht seiner Ähren Pracht;

Des Herbstes Segen nicht, der dir

Von Baum und Rebe lacht.


Dankst nicht des Winters kaltem Hauch

Dein frisches, leichtes Blut;

Fühlst nicht, daß in der Erde Bauch

Schon wieder Segen ruht.


Umfängst in deinem Bruder nicht

Des Schöpfers Ebenbild;

Fühlst nichts, wenn seinem Angesicht

Der Freundschaft Thrän' entquillt.[263]


Beutst brüderlich ihm nicht die Hand;

Teilst seine Freuden nicht;

Fliehst ängstlich vor dem sanften Band,

Das Liebe dir umflicht.


Wiß! Lieb' ist Gottesgab' und scheucht

Die Sorgen vor sich hin;

Wer willig seine Hand ihr reicht,

Weiß nichts vom trüben Sinn.


Blick auf, o Freund, sie lächelt dir

Aus Daphnens holdem Blick;

Auf! Wandl' ins Paradies mit ihr,

Und laß den Gram zurück!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 263-264.
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