Die Geliebte

[168] 1772.


Voll edler Einfalt lächle, Natur! wie du,

Mir einst das Mädchen, das sich mein Herz erkiest:

Sanft sei ihr himmelblaues Auge,

Sittsamkeit wohne darin, und Unschuld.


Nicht Flittergold und Puppentand liebe sie,

Den, mit dem Keim des Lasters, Lutetien

Zuerst dem deutschen Mädchen sandte,

Eh es der Unschuld Gewand verschmähte!


Zu groß, dem schnöden Schmeichler ihr Ohr zu leihn,

Gefall' ihr mehr des Jünglings beredter Blick,

Der ihr in herzensvoller Sprache

Liebe gesteht, und um Liebe schmachtet.


Um schalen Scherz, und glühenden Wechseltanz

Verlasse niemals sie den belebten Hain,

Wo Nachtigallen im Gebüsche

Gott und den düftenden Frühling preisen.


Im stillen übe, wenigen nur bekannt,

Sie sich in jeder weiblichen Tugend, dann

Erschall' ein keusches Lied am Abend

Lieblich ins Silbergetön der Laute!


Ist dies, o Daphne, nicht dein geliebtes Bild?

Ja, dieses sagt mein klopfender Busen mir.

Du aber siehst mich an, und sinkest

Hin an die Brust des geliebtern Jünglings!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 168-169.
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