Von der Erfahrung.

[297] Keine Begierde ist natürlicher als die Begierde nach Wissen. Wir bedienen uns aller Mittel, die uns dahin führen können. Wenn uns dabei die Vernunft fehlschlägt, so wenden wir uns an die Erfahrung,


Per varios usus artem experientia fecit,

Exemplo monstrante viam,1


welches ein weit schwächeres und schlechteres Mittel ist. Aber die Wahrheit ist eine so wichtige Sache, daß wir keine Vermittlerin derselben geringachten dürfen. Die Vernunft hat so viele Formen, daß wir nicht wissen, an welche wir uns halten sollen. Die Erfahrung hat deren nicht weniger. Die Folgerung, welche wir aus dem Zusammentreffen der Erscheinungen ziehen, ist unsicher, weil die Erscheinungen allemal verschieden sind. Nichts ist in den Verhältnissen der Dinge so durchgängig allgemein als Verschiedenheit und Veränderung. Die Griechen und Lateiner und auch wir kennen kein größeres Beispiel der Ähnlichkeit als das Ei. Gleichwohl haben sich Menschen gefunden, namentlich einer zu Delphi, welche unter den Eiern so verschiedene Abzeichen bemerkten, daß sie niemals eins mit dem andern verwechselten. Und waren die Eier von verschiedenen Hühnern, so wußten sie zu bestimmen, welches Huhn dieses oder jenes Ei gelegt hatte. Die Ungleichheit mischt sich von selbst in unsere Werke. Noch hat keine Kunst bis zur völligen Gleichheit reichen können. Keine Fabrik, auch nicht Parrozets, kann ihre Karten von außen so sorgfältig glätten und weißen, daß nicht einige Spieler sie kennen[298] sollten, indem sie solche in den Händen ihrer Mitspieler erblicken. Die Ähnlichkeit der Dinge ist bei weitem nicht so groß an einer Seite als die Unähnlichkeit an der andern. Die Natur scheint sich anheischig gemacht zu haben, nichts Zweites hervorzubringen, das nicht von dem Ersten verschieden wäre.

Daher bin ich mit der Meinung desjenigen nicht zufrieden, welcher durch die Menge der Gesetze die Willkür der Richter zu binden trachtete, indem er ihnen jeden Bissen vorschnitt. Er bedachte nicht, daß das Feld der Auslegung ebenso frei und weitläufig ist als das Feld der Gesetzgebung. Und diejenigen können es wohl nicht ernsthaft meinen, welche glauben, dadurch unsern Gezänken und Auslegungen Ziel und Grenzen zu setzen, wenn sie uns an die Buchstaben der Bibel binden, weil unser Geist das Feld nicht weniger geräumig findet, wenn er die Meinung anderer bekämpft, als wenn er die seinige geltend macht. Die Auslegung gewährt ebensoviel Bitterkeit und Feindseligkeit als die Erfindung. Wir sehen deutlich, wie sehr ein solcher Gesetzhaufen sich betrügt. Denn wir haben in Frankreich mehr Gesetze als die ganze übrige Welt zusammengenommen, und mehr als für alle übrigen Welten des Epikur hinreichend wäre: ut olim flagitiis, sic nunc legibus laboramus.2 Dennoch bleibt unsern Richtern so vieles zu überlegen und zu entscheiden, daß kein anderer so viele Freiheit und Willkür genießt. Was haben denn unsere Gesetzgeber dadurch gewonnen, daß sie hunderttausend Arten von besondern Tatsachen ausgewählt und darauf hunderttausend Gesetze angewendet haben? Diese Zahl hat nicht das geringste Verhältnis mit der unendlichen Verschiedenheit menschlicher Handlungen. Die Vervielfältigung unserer Erfindungen wird niemals an die Verschiedenheit der Beispiele reichen. Wenn man noch hundertmal soviel hinzutäte, so wird sich doch unter den zukünftigen Verkommenheiten schwerlich eine finden,[299] die so genau auf einen einzigen unter den vielen tausend ausgewählten und eingetragenen Fällen paßt und ihm gleicht, daß nicht ein Umstand, nicht eine Verschiedenheit dabei stattfinden sollte, derentwegen auch der Urteilsspruch verschieden ausfallen muß. Unter unsern Handlungen gibt es wenige, welche einander ähnlich wären, weil sie in unaufhörlichen Abweichungen von den beständigen und unabänderlichen Gesetzen bestehen. Die beste Gesetzgebung ist die kürzeste, einfachste und allgemein umfassendste. Und noch glaube ich, wären wir besser dran, lieber keine Gesetze zu haben, als deren so viele zu besitzen wie wir.

Die Natur gibt uns immer bessere Gesetze, als wir erfinden. Das beweist die Schilderung, welche uns die Dichter vom Goldnen Zeitalter machen, und der Zustand der Völker, die keine andere gesetzliche Verfassung kennen. Es gibt deren, welche keinen Richter zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten haben als den ersten besten Fremden, der ihr Gebirge entlangreist; und andere erwählen an ihren Markttagen jemanden unter sich, der auf der Stelle über ihre Rechtshändel entscheidet. Was für Gefahr wäre dabei, wenn die Weisesten unter uns ebenso die unsrigen, nach dem Augenmaß, ohne an Vorgänge und Folgerungen gebunden zu sein, abmachten? Jedem Fuße seinen eigensten Leisten. Als der spanische König Ferdinand Anpflanzer nach Indien schickte, traf er die weisliche Vorkehrung, daß kein Rechtsgelehrter mit hingehen durfte, weil er besorgte, daß sie auch die Prozesse in dieser neuen Welt vermehren möchten, indem diese Wissenschaft ihrer Natur nach eine Mutter des Zanks und der Uneinigkeit ist. Er hielt mit dem Plato dafür: Einem Lande sei mit Rechtsgelehrten und Ärzten übel gedient.

Woher kommt es, daß unsere Muttersprache, die zu allem übrigen Gebrauch so leicht und klar ist, bei Kontrakten und Testamenten dunkel und unverständlich wird und daß derjenige, der sich am klarsten ausdrückt, er mag sagen und schreiben was er will, sich niemals hierin so verständlich machen kann, daß nicht Zweifel und Widersprüche[300] darüber entstehen sollten, wenn es nicht daran liegt, daß die Fürsten dieser Kunst sich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit darauf legen, feierliche Ausdrücke zu gebrauchen und künstliche Klauseln zu schmieden, zu diesem Behufe aber jede Silbe auf der Goldwaage wägen, jede Naht und Zusammenfügung so genau besichtigen, daß sie sich unter einer solchen Unendlichkeit von bildlichen Ausdrücken und herrschenden Distinktionen dergestalt verwirren und verwickeln, daß man eines Leitfadens, einer Vorschrift und einer gewissen Kunde bedarf, um sich herauszufinden: Confusum est, quidquid usque in pulverem sectum est.3 Wer Kindern zugesehen hat, welche eine Masse Quecksilber in eine gewisse Anzahl Körner oder Tropfen bringen wollten, der wird gesehen haben, daß, je mehr sie dieses unbesiegliche Metall drücken, quetschen und dessen Freiheit einschränken wollten, desto unfügsamer es unter ihren Händen ward. Es weicht ihrer Kunst aus, verdünnt und vertröpfelt sich in unzählbare Verteilung. So mit den Gesetzen. Je mehr man ihre Spitzfindigkeit verfeinert, desto mehr lehrt man die Menschen ihre Zweifel zu häufen. Man bringt uns in den Gang, die Schwierigkeiten zu vermehren und zu vervielfältigen. Man verlängert sie. Man dehnt sie aus. Indem man Fragen ausstreut und zerstückelt, läßt man Ungewißheit und Zank in der Welt Frucht tragen und in Samen schießen. So wird der Erdboden immer fruchtbarer, je tiefer man ihn umgräbt und je mehr man die Schollen zerreibt und verfeinert: Difficultatem facit doctrina.4 Wir zweifelten über den Ulpian und zweifeln abermals über den Bartholus und Baldus. Man hätte die Spur aller dieser unzähligen Meinungen und Auslegungen vertilgen sollen, anstatt sich damit zu brüsten oder der Nachwelt den Kopf damit anzufüllen. Ich weiß nicht, was ich davon sagen soll; so viel ergibt die Erfahrung, daß so viele Auslegungen die Wahrheit zerstreuen und auflösen. Aristoteles[301] schrieb, um verstanden zu werden. Konnte er es nicht dahin bringen, so wird es ein anderer, der minder geschickt ist und ein dritter noch weniger dahin bringen können als der, welcher seine eigene Meinung vortrug. Wir lösen die Materie auf und verspillen sie, indem wir zu viel Wasser aufgießen. Aus einem Gegenstand machen wir tausend und verfallen durch das Vermehren und Unterabteilen in die Unendlichkeit der epikureischen Atome. Noch niemals haben zwei Menschen über eine Sache völlig gleich geurteilt, und es ist unmöglich, zwei völlig ähnliche Meinungen zu finden, nicht nur bei zwei verschiedenen Menschen, sondern bei einem und demselben Menschen, nur zu verschiedenen Stunden. Gewöhnlicherweise finde ich Zweifel, welche der Kommentar nicht beliebt hat zu berühren. Ich stolpere am leichtesten auf ebener Erde, wie gewisse Pferde, die ich kenne, welche auf geschlagenem Wege am öftesten anstoßen.

Wer sollte nicht sagen, daß durch die Glossen Zweifel und Unwissenheit vermehrt werden, da es kein göttliches oder menschliches Buch gibt, welches die Welt liest und gern verstehen möchte, das durch Auslegungen und Erklärungen leichter und faßlicher geworden wäre! Der hundertste Kommentator verweist auf seinen Nachfolger, der den Knoten verwickelter und schwieriger macht, als man ihn bei dem ersten gefunden hatte. Wann werden wir einmal eingestehen: dieses Buch hat der Ausleger genug, es ist nichts mehr darüber zu sagen? Noch auffallender findet sich dieses bei Rechtsstreitigkeiten. Einer unendlichen Menge Rechtslehrer räumt man das Ansehen der Gesetze ein, desgleichen einer unendlichen Menge Rechtssprüche und Auslegungen. Finden wir deswegen des Bedürfnisses des Auslegens wohl ein Ende? Kommen wir dadurch dem ruhigen Einverständnisse etwas näher? Ist die Anzahl unserer Advokaten und Richter geringer, und kann sie es sein, als damals, da die Masse des Rechts noch in ihrer Kindheit war? Es hat sich wohl. Wir verfinstern und begraben vielmehr das Verständnis. Wir können solches nicht finden als hinter einer Menge von[302] Pfählungen und Schlagbäumen. Die Menschen verkennen die natürliche Krankheit unseres Geistes. Er tut nichts als spüren und suchen, kommt ohne Unterlaß von der Fährte, baut und verwickelt sich in seinem eigenen Werke, wie unsere Seidenwürmer, und erstickt sich darin: Mus in pice.5 Er meint in der Ferne Wunder was für eine eingebildete Klarheit und Wahrheit zu entdecken, und während er danach rennt, stoßen ihm solche Schwierigkeiten, Dunkelheiten und neue Fragen auf, daß er sich dadurch verwirrt und berauscht. Nicht weit anders geht es ihm, als des Aesop Hunden, welche einen toten Körper im Meer entdeckten und weil sie nicht daran kommen konnten, es unternahmen, das Wasser auszusaufen und sich einen Weg auszutrocknen, worüber sie zerplatzten. Darauf geht auch das, was Sokrates von den Schriften des Heraklit sagt: »Es gehört ein guter Schwimmer dazu, sie zu lesen, damit ihre Tiefe und Schwere ihn nicht verschlinge und ersäufe.« Es ist nichts als Schwäche, die uns mit demjenigen, was andere oder wir selbst in dieser Jagd nach Wissen entdeckt haben, zufriedenstellt. Einer, der heller sieht, wird sich damit nicht zufriedenstellen. Der Nachfolger, ja wir selbst, entdecken immer neue Wege. Unser Forschen hat niemals ein Ende. Unser Ende liegt in der andern Welt. Es ist ein Zeichen der Eingeschränktheit unseres Geistes oder der Ermüdung, wenn er sich zufriedengibt. Kein wackerer Geist steht von selbst still. Er begehrt immer mehr und geht über seine Kräfte hinaus. Er strebt nach unerreichbaren Höhen. Wenn er sich nicht weiterhebt, nachdringt und durchwindet, anstößt und schnell umlenkt, so ist er nur zur Hälfte lebendig. Sein Forschen und Streben ist ohne Ziel und Maß, seine Nahrung ist Bewunderung und Jagd ins Weite. Das gab Apollo hinlänglich zu verstehen, indem er mit uns Menschen immer doppelsinnig, dunkel und verschroben sprach, und nicht sättigte, sondern unterhielt und beschäftigte. Es ist ein unordentliches, unaufhörliches Streben[303] ohne Muster und ohne Zweck. Die Gedanken des Menschen erhitzen sich, jagen hintereinander her und erzeugen sich einer den andern:


So sieht man einen Bach dahin sich gießen,

und eine Welle nach der andern fließen.

Und all in ihrer Reih und all in ew'gem Zug

schlägt eine nach, wie eine vor ihr schlug:

Von der wird jene angeregt,

die eine andre fortbewegt.

So gehet Wog' in Wog', und immer bleibt der Bach,

nur andre Wogen fließen und andre kommen nach.6


Es kostet mehr, die Auslegung auszulegen als die Sache selbst, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen andern Gegenstand. Wir machen nichts als Anmerkungen übereinander. Alles wimmelt von Kommentaren. An Originalautoren ist großer Mangel. Die vornehmste und berühmteste Wissenschaft unserer Zeit besteht darin, die Wissenschaft zu verstehen? Das ist der größte und letzte Zweck alles unseres Studierens? Unsere Meinungen werden eine auf die andere gepfropft. Die erste dient der zweiten zum Wildlinge, die zweite der dritten. Auf diese Weise klettern wir die Leiter hinauf von Sprosse zu Sprosse. Daher kommt es, daß der am höchsten Gestiegene oft mehr Ehre hat als Verdienst, denn er ist nur um ein Getreidekorn höher, auf den Schultern des Vorletztgestiegenen. Wie oft und vielleicht wie einfältig habe ich mein Buch von sich selbst sprechen gehört! Einfältig, wenn auch bloß deswegen, daß ich mich hätte erinnern sollen, was ich von andern sage, welche desgleichen tun! Daß die häufigen Zurückblicke auf ihre Werke davon zeugen, wie ihnen das Herz von Autorliebe klopft, und daß selbst die hochfahrende verächtliche Strenge, womit sie solches züchtigen, weiter nichts ist als Ziererei und angenommene Miene, wohinter sie die mütterliche[304] Zärtlichkeit verstecken wollen, wie schon Aristoteles bemerkt, daß Eigenlob und Eigentadel oft Kinder gleichen Hochmutes sind. Denn meine Entschuldigung, daß ich hierin mehr Freiheit haben müsse als andre, weil ich ja ausdrücklich über mich selbst schreibe und meiner Schriften wie meiner andern Handlungen erwähnen muß, und daß mein Thema sich mit sich selbst beschäftigt, wird mir wohl nicht jedermann zustatten kommen lassen.

Ich habe in Deutschland gesehen, daß Luther ebensoviel und mehr Streit und Zank über den richtigen Verstand seiner Meinungen hinterlassen hat, als er selbst über die Heilige Schrift erregte. Unser Mißverständnis beruht auf Worten. Ich frage: Was ist Natur, Wollust, Zirkel und Substitution? Die Frage ist von Worten und wird mit Worten berichtigt. Ein Stein ist ein Körper. Fragt man weiter: Was ist ein Körper? Eine Substanz. Und was ist Substanz? So läßt sich immer weiter fragen, bis endlich der Erklärer sein ganzes Wörterbuch ausgekramt hätte. Man vertauscht ein Wort gegen das andere und oft ein unbekanntes gegen ein bekanntes. Ich weiß besser, was ein Mensch, als was ein sterbliches, aber vernünftiges Tier ist. Um einen meiner Zweifel aufzulösen, werfen sie mir drei andre vor. Das ist das Haupt der Hyder. Sokrates fragte den Menon7: »Was ist die Tugend?« »Es gibt«, antwortete Menon, »eine Tugend des Mannes und des Weibes, des Magistrats und des einzelnen Bürgers, des Kindes und des Greises.« »Bravo!« rief Sokrates. »Wir wollten eine Tugend suchen, und du gibst uns einen ganzen Schwarm.« Wir werfen eine Frage auf, und man gibt uns einen ganzen Bienenkorb voll zurück. So wie keine Begebenheit und keine Form völlig der andern gleich ist, so ist auch keine der andern völlig ungleich. Ein sehr weises Gemisch der Natur. Wenn unsere Gesichter einander nicht ähnelten, so könnte man den Menschen nicht vom Tiere unterscheiden; wenn sie nicht voneinander unterschieden wären, könnte man einen Menschen[305] von dem andern nicht auskennen. Alle Dinge halten durch irgendeine Ähnlichkeit aneinander. Jedes Gleichnis hinkt. Und die Beziehung, welche man aus der Erfahrung herleitet, ist immer schwach und unvollkommen. Indessen knüpft immer die Vergleichung dieses oder jenes Ende zusammen. So macht man es mit den Gesetzen. Man wendet sie auf jede Sache an, durch irgendeine weithergesuchte, gezwungene und gedrehte Erklärung.

Weil die moralischen Gesetze, welche Bezug auf die besonderen Pflichten eines jeden Menschen für sich selbst haben, so schwer festzusetzen sind, wie wir erfahren, so ist es kein Wunder, wenn es diejenigen, nach welchen sich so viele gegeneinander richten sollen, noch mehr sind. Man betrachte nur die Form der Gerechtigkeit, welche über uns waltet. Ist sie nicht ein klarer Beweis von der menschlichen Verstandesschwäche? So viel Widerspruch und Irrtümer findet man darin! Alles, was wir Günstiges und Strenges in unserer Rechtspflege finden (und dessen findet sich darin so viel, daß ich nicht weiß, ob sich ebensooft ein Mittelweg zwischen beiden findet), das sind kranke Teile und ungerechte Gliedmaßen des wirklichen Körpers und Wesens der Gerechtigkeit. Da kommen Bauern, mir in aller Eile zu berichten, daß sie in einem Wald, der mir gehört, einen Menschen liegen gefunden, dem man hundert Stiche gegeben, der noch lebt und der sie um aller Barmherzigkeit willen gebeten hat, ihm etwas Wasser zu reichen und ihm zu helfen sich aufzurichten. Sie sagen dabei, sie hätten gefürchtet, sich ihm zu nähern, und seien davongelaufen, damit sie nicht von Gerichtsdienern überrascht werden möchten und, wenn sie bei einem erschlagenen Menschen angetroffen würden, wie zu geschehen pflegt, in Verhaft und zur Antwort gezogen würden, welches ihr größtes Unglück gewesen wäre, weil sie weder Geschicklichkeit noch Geld hätten, ihre Unschuld zu verteidigen. Was sollte ich ihnen sagen? So viel ist gewiß, diese Pflicht der Menschlichkeit hätte sie in große Verlegenheit gesetzt.

Von wieviel Unschuldigen hat sich's nicht nachher ergeben,[306] daß sie Strafe erlitten, und zwar ohne alle Schuld der Richter? Und mit wie vielen mag das nicht der Fall sein, von denen wir solches nicht erfahren haben? Folgendes geschah zu meiner Zeit. Gewisse Menschen wurden wegen eines Mordes zum Tode verdammt. Das Urteil ward, wo nicht gesprochen, doch wenigstens beschlossen und angegeben. Gerade um diese Zeit erfuhren die Richter von einer andern benachbarten niedern Gerichtsbarkeit, daß solche einige Verbrecher eingezogen habe, welche sich zu jenem Mord frei bekannten und über die ganze Sache ein unbezweifelbares Licht verbreiteten. Man ging darauf zu Rate, ob man gleichwohl die Vollziehung des Urteils über die ersten aufschieben dürfte? Man erwog die Neuheit des Beispiels und was es für Folgen haben könne, künftige Urteilssprüche zu verzögern; die Verurteilung sei doch nach aller Form Rechtens geschehen und die Richter hätten sich nichts vorzuwerfen. Kurz, jene armen Schlucker wurden den Formeln der Rechtspflege aufgeopfert. Philipp oder ein anderer beugte dergleichen Unfällen folgendermaßen vor. Er hatte durch einen gefällten Spruch einen Menschen verurteilt, einem andern eine große Geldbuße zu bezahlen. Einige Zeit nachher entdeckte sich die Wahrheit, daß er ungerecht gerichtet hatte. Auf einer Seite stand die gute Sache, auf der andern die gerichtliche Form. Er befriedigte allerdings beide, indem er den Spruch gültig bleiben ließ und aus seinem Beutel den Verurteilten schadlos hielt. Aber in diesem Falle war Ersatz möglich. Meine armen Teufel hingegen wurden unwiderruflich gehängt. Wie viele Urteile habe ich erlebt, die weit sträflicher waren als das Verbrechen! Alles dieses erinnert mich an jene Meinung der Alten: man sei gezwungen, alles einzeln abzutun, wenn man im Ganzen recht verfahren, und im Kleinen Unrecht zu begehen, wenn man das Recht im Großen handhaben wolle. Die menschliche Justizpflege sei nach dem Muster der Arzneikunde gebildet, vermöge dessen alles, was nützlich ist, auch gerecht und billig wird. So lehren die Stoiker: Die Natur verstoße sich in den meisten ihrer Werke[307] gegen die Gerechtigkeit. So lehren die Cyrenaiker: Nichts sei an und für sich gerecht, nur Gewohnheit und Gesetze erschüfen das Recht. Die Theodorier meinen: Diebstahl, Kirchenraub und alle Arten von Sünden des Fleisches seien für den Weisen kein Unrecht, wenn er überzeugt wäre, daß sie ihm zum Nutzen gereichten. Ich kann mir nicht helfen. Ich denke hierin wie Alcibiades, daß ich mich niemals, solange ich es vermeiden kann, dem Mann in die Hände liefern werde, welcher über mein Leben absprechen kann, vor welchem meine Ehre und meine Güter mehr von der Kunst und Tätigkeit meines Sachwalters als von meiner Unschuld abhängen. Ich würde einem Gerichtshof mehr trauen, welcher ebensowohl über Guttun als über Mißtun erkennt; wo ich ebensoviel zu hoffen als zu fürchten hätte. Straflosigkeit ist keine hinlängliche Zahlung für einen Menschen, der besser tut als nicht sündigen. Unsere Gerechtigkeitspflege reicht uns nur eine von ihren Händen dar, und obendrein die linke. Man sei, wer man wolle, ohne Verlust kommt man von ihr nicht ab.

In China, einem Reich, dessen Einrichtungen und Künste, ohne daß es Umgang mit uns hätte und ohne daß es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen und dessen Geschichte mich belehrt, wieviel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben, schickt der Kaiser Reichsbediente in die Provinzen, um den Zustand derselben zu untersuchen. Diese Beamten, wie sie diejenigen strafen, welche sich in ihren Stellen schlecht betragen, belohnen sie auch freigebig diejenigen, welche sich gut betragen und mehr geleistet haben, als sie nach ihren Zwangspflichten schuldig sind. Vor diese Deputierten stellt man sich, nicht bloß um sich zu verteidigen, sondern um zu gewinnen, nicht bloß um bezahlt, sondern auch von ihnen beschenkt zu werden.

Noch hat, Gott sei Dank, kein Richter mit mir als Richter gesprochen, in keiner gerichtlichen Angelegenheit, weder meiner eigenen noch eines Fremden, weder in einer Kriminal- noch Zivilsache. Noch bin ich in keinem Gefängnis[308] gewesen, nicht einmal um es zu besehen. Meine Einbildung macht mir den bloßen Anblick desselben schon von außen unangenehm. Mir ist meine Freiheit so notwendig, daß, wenn mir jemand verböte, ich sollte mich irgendeinem kleinen Winkel in Ostindien nicht nahen, ich dadurch gewissermaßen ein trauriges Leben führen würde; und solange ich noch ein Plätzchen Erde oder freie Luft anderwärts finde, werde ich an keinem Ort schmachten, wo ich mich verbergen müßte. Mein Gott, wie unerträglich würde mir der Zustand sein, worin ich so viele Leute sehe, welche in einen Teil dieses Königreichs gebannt sind, denen der Eingang in die Hauptstädte und Hofstellen und das Befahren öffentlicher Heerstraßen verboten worden, weil sie unsern Gesetzen nicht gehorsam waren. Wenn diejenigen Gesetze, unter denen ich lebe, mir nur mit der Spitze des kleinen Fingers drohten, den Augenblick ginge ich hin, um unter andern zu stehen, es möchte auch sein, wo es wollte. Alle meine wenige Klugheit bei diesen bürgerlichen Kriegen, worin wir uns befinden, wende ich dahin an, daß sie mir die Freiheit, zu gehen und zu kommen, wie ich will, nicht unterbrechen mögen.

Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind. Das ist der mystische Grund ihres Ansehens. Einen andern haben sie nicht, worauf sie ruhten. Sehr oft rühren sie her von Dummköpfen; öfters von Leuten, die, weil sie die Gleichheit hassen, auch keine Billigkeit kennen; aber immer von Menschen, welche eitel und unzuverlässig sind. Schwerlich wird man etwas so Gröbliches und schwer Fehlerhaftes sehen, als die Gesetze gewöhnlich sind. Wer ihnen nur darum gehorchen wollte, weil sie gerecht wären, würde ihnen nicht wegen seiner Pflicht gehorchen. Unsere französischen Gesetze bieten gewissermaßen der Unordnung und der Bestechung, welche bei der Anwendung und Ausübung stattfinden, die Hand. Ihre Gebote sind so dunkel und unsicher, daß sie einigermaßen den Ungehorsam und die fehlerhafte Auslegung, Anwendung und Ausübung entschuldigen. Worin also der Nutzen bestehen[309] mag, den wir aus der Erfahrung ziehen können, so wird uns derjenige, den wir aus fremden Beispielen herleiten, wenig zustatten kommen, da wir uns durch uns selbst sogar nicht frommen, wie es uns doch geläufig sein und hinreichen sollte, uns von allem zu unterrichten, dessen wir bedürfen. Ich studiere mich selbst mehr als jeden andern Gegenstand. Ich bin meine Metaphysik und Physik:


Qua Deus hanc mundi temperet arte domum;

Qua venit exoriens, qua deficit, unde coactis

Cornibus in plenum menstrua luna redit;

Unde salo superant venti, quid flamine captet

Eurus, et in nubes unde perennis aqua;

Sit ventura dies, mundi quae subruat arces.8


Quaerite, quos agitat mundi labor.9


Auf dieser Universität lasse ich mich als ein unwissender und unwiderstrebender Mensch für das allgemeine Gesetz der Welt zuziehen. Ich erkenne solches hinlänglich, wenn ich es fühle. Mein Wissen kann seinen Weg nicht verändern. Es wird sich aus Liebe zu mir nicht vervielfachen. Torheit wäre es, das zu hoffen, und noch größere Torheit, sich darüber zu kümmern. Denn es muß notwendigerweise gleich, öffentlich und allgemein sein. Die Güte und Kraft des Regenten muß uns rein und völlig der Sorge für die Regierung entschlagen. Das Dichten und Trachten der Philosophie kann zu weiter nichts dienen als zur Nahrung für unsere Wißbegierde. Die Philosophen haben groß recht, uns auf die Vorschriften der Natur zurückzuführen. Aber sie selbst verstehen sich schlecht auf diese erhabene Kunde. Sie verfälschen solche und[310] zeigen uns ihr bemaltes Gesicht geschmückt und verstellt, woraus denn so viele verschiedene Schildereien des nämlichen Gegenstandes entstehen. So wie uns die Natur Füße zum Gehen gegeben hat, muß sie auch Klugheit besitzen, um uns durch das Leben zu leiten. Aber freilich keine so feine, vierschrötige, aufgeblasene Klugheit, als die Philosophen erfinden, sondern verhältnismäßig, leicht, ruhig und heilsam. So entspricht sie demjenigen, was man von ihr rühmt, wenn jemand das Glück hat, solche ohne Spitzfindigkeit und ordentlich anzuwenden, das heißt natürlich, sich der Natur auf die einfältigste Weise überlassen, heißt, sich ihr auf die weiseste Art überlassen. O welch ein weiches, sanftes, gesundes Kissen ist die Unwissenheit und Unneugierigkeit, um einen wohlgeordneten Kopf darauf zu ruhen! Lieber möchte ich mich selbst recht verstehen als den Cicero. Die Erfahrung, welche ich an mir selbst habe, genügt mir, um weise zu werden, wenn ich nur ein guter Schüler wäre. Wer die Ausschweifung seines vergangenen Zorns seinem Gedächtnis anvertraut, und das Übermaß, wozu ihn dieses Fieber trieb, sieht hierin die Häßlichkeit dieser Leidenschaft besser als im Aristoteles und faßt einen viel gerechtern Widerwillen dagegen. Wer sich der Übel erinnert, die er sich zugezogen hat, die ihn bedrohten, der leichten Anlässe, welche ihn aus einer Lage in die andere versetzten, bereitet sich dadurch auf künftige Glückswechsel und auf die richtige Beurteilung seiner Lage. Das Leben Cäsars gewährt uns nicht mehr Beispiel als unser eigenes. Das Leben eines Herrschers ist wie das Leben eines Untertans, ein Leben, welches allem menschlichen Glückswechsel ausgesetzt ist. Laßt uns nur darauf merken. Wir sagen uns alles, wessen wir hauptsächlich bedürfen. Wer sich erinnert, wie oft er sich in seinem eigenen Urteil verrechnet hat, ist der nicht ein Tor, wenn er nicht beständig gegen dasselbe mißtrauisch bleibt? Wenn mich das Urteil anderer überzeugt, daß ich in einer falschen Meinung schwebte, so lerne ich nicht sowohl das Neue, was man mir sagt und die Erkenntnis einer besondern Unwissenheit[311] (denn selbst die Erkenntnis einer besondern Unwissenheit wäre noch kein großer Erwerb) als vielmehr überhaupt meine Schwachheit und die Trüglichkeit meines Verstandes, und daraus folgere ich die Verbesserung des Ganzen. Bei allen meinen übrigen Irrtümern tue ich dasselbe und ziehe aus dieser Regel einen großen Vorteil für mein Leben. Den einzelnen Fall und Menschen betrachte ich nicht als einen Stein, über den ich gestolpert bin, sondern lerne daraus, meinen Gang überhaupt vorsichtiger einrichten und aufmerksamer gehen. Einsehen, daß man eine Narrheit getan oder gesagt habe, will wenig sagen. Man muß lernen, daß man ein Dummkopf ist; eine weit triftigere und wichtigere Lehre. Die falschen Schritte, welche mich mein Gedächtnis oft hat tun lassen, selbst dann, wenn es sich am meisten traute, sind nicht unnützerweise verloren. Es mag mir jetzt seine Zuversichtlichkeit noch so sehr beteuern, so schüttle ich dennoch die Ohren. Das erste, das beste, was man seinem Zeugnis entgegensetzt, macht mich zweifelhaft, und ich wage nicht mehr, über irgendeine wichtige Sache oder über irgendeine fremde Handlung, ihm Glauben beizumessen. Und täten, was ich aus Mangel des Gedächtnisses tue, andere nicht noch öfter aus Mangel an Treue und Glauben, so würde ich über eine Tatsache jedem fremden Munde mehr Wahrheit zutrauen als meinem eigenen. Wenn jedermann auf die Wirkungen und Verhältnisse der Leidenschaften, welche ihn beherrschen, so genau achtgäbe, wie ich auf diejenigen, in welche ich verfiel, so würde er sie von ferne kommen sehen und ihre Heftigkeit und ihren Anlauf ein wenig mäßigen. Sie fallen uns nicht immer unversehens über den Hals. Sie haben ihre Anmeldungen und ihre Stufen:


Fluctus uti primo coepit cum albescere vento,

Paulatim sese tollit mare, et altius undas

Erigit, inde imo consurgit ad aethera fundo.10
[312]

Die Urteilskraft hat bei mir ihren obrigkeitlichen Stuhl, wenigstens strebt sie sorgfältig danach. Sie läßt meine Begierden ihren Gang gehen, meinen Haß und meine Freundschaft, sogar diejenigen, welche ich gegen mich selbst hege, ohne sich deswegen zu verändern und zu verschlimmern. Kann sie meine übrigen Bestandteile nicht nach sich verändern, so läßt sie sich wenigstens durch solche nicht entstellen. Sie spielt ihr eignes Spiel. Die Weisung, daß jeder sich selbst kennenlernen soll, muß von großem Gewicht sein, weil der Gott aller Kenntnis und alles Lichtes solche über dem Eingange seines Tempels eingraben ließ, als ein Wort, welches alles in sich begreife, was er uns zu raten habe. Auch sagt Plato, daß die Klugheit nichts anders sei als die Befolgung dieser Vorschrift; und Sokrates bekräftigt solches beim Xenophon durch einzelne Beispiele. Dunkelheiten und Schwierigkeiten jeder Wissenschaften werden dann erst bemerkbar, wenn man zu derselben Zutritt gewinnt. Denn es gehört doch immer ein gewisser Grad von Einsicht dazu, um wahrzunehmen, daß man nichts wisse; und man muß an eine Tür geklopft haben, um zu erkennen, daß selbige verschlossen sei. Daher entsteht die Platonische Spitzfindigkeit: derjenige, welcher wisse, dürfe nicht fragen, weil er wisse; derjenige aber, welcher nicht wisse, dürfe nicht fragen, weil er, um fragen zu können, zuvor wissen müsse, wonach er zu fragen habe. Ebenso geht es mit der Selbstkenntnis. Damit ist jedermann fertig und im reinen, darauf glaubt sich jedermann hinlänglich zu verstehen und beweist eben dadurch, wie Sokrates den Euthydemus belehrte, daß er nichts davon versteht. Ich, da ich keine andere Profession treibe, finde diese so unergründlich und mannigfaltig, daß alles mein Lernen mir keinen andern Nutzen bringt, als daß es mir fühlbar macht, wieviel ich noch zu lernen habe. Meiner oft eingestandenen Schwachheit verdanke ich meinen Hang zur Bescheidenheit, zum Gehorsam gegen den Glauben, welcher mir vorgeschrieben ist, zu einer beständigen Kaltblütigkeit und Mäßigung der Meinung und den Haß der[313] beschwerlichen zänkischen Hoffart, welche sich alles glaubt, auf sich allein vertraut und mit aller Zucht und Wahrheit in ewiger Feindschaft steht. Man höre nur, wie herrisch ihre Anhänger sich äußern. Ihre ärgsten Torheiten tragen sie in der Sprache der Religionen und Gesetze vor: Nihil est turpius, quam cognitioni et perceptioni assertionem approbationemque praecurrere.11 Aristarch sagte, daß man vor alters kaum sieben Weise in der Welt habe auffinden können und daß man zu seiner Zeit kaum sieben Unwissende antreffen würde. Hätten wir in unseren Tagen nicht mehr Recht, dasselbe zu sagen, als er? Eigensinn und halsstarriges Behaupten sind ausdrückliche Zeichen der Dummheit. Da ist ein Mensch in einem Tage hundertmal auf die Nase gefallen und besteht ebenso steifsinnig und unverrückt auf seinen Sätzen als vorher. Man sollte sagen, man habe ihm seitdem eine neue Seele und Kraft des Verstandes eingetrichtert; oder es ergehe ihm wie ehemals dem Sohn der Erde, welcher durch jeden Hinsturz neue Kräfte und größere Stärke gewann:


Cui cum tetigere parentem,

Jam defecta vigent renovato robore membra.12


Scheint es nicht, als ob der Steifkopf meint, er nehme einen neuen Geist auf, wenn er einen neuen Wortkampf aufnimmt? Es geschieht aus eigener Erfahrung, daß ich die menschliche Unwissenheit anklage. Sie ist nach meiner Meinung das Zuverlässigste, was man in der Schule der Welt kennenlernt. Diejenigen, welche aus einem so unbedeutenden Beispiele als das meinige, oder das ihrige, nicht an sich kommen lassen wollen, mögen solche am Sokrates, dem Meister aller Meister, erkennen. Denn der Philosoph Antisthenes sagte zu seinen Schülern: Kommt mit mir, den Sokrates zu hören; bei dem bin ich so gut Schüler wie ihr. Und indem er den Lehrsatz der stoischen[314] Sekte behauptete, daß die Tugend allein hinreiche, ein Leben durchaus glücklich zu machen, und nichts bedürfe, fügte er hinzu: als die Stärke des Sokrates. Diese anhaltende Aufmerksamkeit, womit ich mich selbst betrachte, hat mich auch so ziemlich fähig gemacht, nicht ganz übel von andern zu urteilen; und es gibt wenige Dinge, von denen ich glücklicher und erträglicher zu reden weiß. Es begegnet mir oft, daß ich die Gemütsfassung meiner Freunde genauer einsehe und unterscheide als sie selbst. Ich habe einige durch meine richtige Schilderung derselben in Verwunderung gesetzt und aufmerksam auf sich selbst gemacht. Weil ich mich von Kindesbeinen gewöhnt habe, mein Leben in andern zu spiegeln, habe ich darin eine gelehrte Fertigkeit erlangt. Und die Wahrheit zu gestehen, lasse ich nichts dergleichen, Gesichtszüge, Launen und Ausdrücke, unbemerkt bei mir vorüberschlüpfen. Ich studiere alles, was ich zu vermeiden und was ich nachzuahmen habe. Also auch entdecke ich meinen Freunden durch ihr Tun und Lassen ihre innigsten Neigungen, bringe die unendliche Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Handlungen unter gewisse Kapitel, und mache Abteilungen und Unterabteilungen, nach bekannten Ordnungen und Gattungen:


Sed neque quam multae species, et nomina quae sint,

Est numerus.13


Die Gelehrten sprechen und bezeichnen ihre Phantasien genauer und im einzelnen. Ich aber, der ich nicht weiter sehe, als was mir der Gebrauch an die Hand gibt, ich lege die meinigen im ganzen dar und wie sie mir aufstoßen. So verfahre ich auch in diesem Buche. Ich fälle mein Urteil in getrennten Sätzen. Ich weiß nicht alles auf einmal in Bausch und Bogen zu sagen. Zusammenhang und Gleichförmigkeit finden sich nicht bei so gemeinen Alltagsseelen wie die unsrigen. Die Weisheit ist ein festes,[315] ganzes Gebäude, in welchem jedes Stück seinen gehörigen Platz und seine eigene Nummer hat: sola sapientia in se tota conversa est.14 Ich überlasse es den Künstlern und weiß nicht, ob sie mit einer so mannigfaltigen kleinlich-verschiedenen und zufälligen Sache zustande kommen werden, die unendliche Verschiedenheit an Gesichtern aufzuschichten, unserer Unbeständigkeit Einhalt zu tun und sie in feste Ordnung zu bringen. Ich finde es nicht nur schwer, unsere Handlungen aneinanderzureihen; sondern ich finde es auch schwer, eine jede für sich selbst durch eine Haupteigenschaft zu bezeichnen. So zweideutig und vielfarbig erscheinen sie in verschiedenem Lichte. Was man an dem Könige Perseus von Mazedonien als etwas Seltenes bemerkt, daß sich sein Geist nie an etwas Gewisses binden ließ, sondern eine jede Lebensart durchirrte, und so abweichende, unbeständige Sitten zeigte, daß weder andere noch er selbst wußten, was für ein Mensch er wäre, das dünkt mich ungefähr auf die ganze Welt zu passen. Besonders kenne ich einen seines Zuschnittes, von welchem sich das, wie ich glaube, noch viel eigentlicher sagen ließe; der keine Mittelstraße kannte, immer von einem Extrem zum andern überging, durch Veranlassungen, die sich nicht erraten ließen; keinen Weg einschlug, ohne wunderlich davon abzuschweifen und ihm entgegenzulaufen; keine Eigenschaft besaß, von der sich nicht das Widerspiel bei ihm gefunden hätte, so daß das Wahrscheinlichste, was man eines Tags von ihm wird denken können, darin besteht: er affektierte und studierte, sich bekannt zu machen, um nie kennbar zu werden. Man muß ein gutes Gehör haben, um sich freimütig beurteilen zu hören. Und weil das wenige leiden können, ohne empfindlich zu werden, so beweisen diejenigen, welche solches Wagestück gegen uns unternehmen, einen sonderbaren Freundschaftstrieb. Denn es heißt wirklich Liebe zeigen, wenn man unternimmt, jemanden zu beleidigen und zu[316] verwunden, um ihn zu bessern! Ich finde es hart, jemanden zu beurteilen, bei welchem die schlimmen Eigenschaften die guten übertreffen. Plato schreibt demjenigen, welcher die Seele eines andern untersuchen will, dreierlei Eigenschaften vor: Verstand, Wohlwollen und Dreistigkeit.

Zuweilen fragte man mich: wozu ich wohl dächte tauglich gewesen zu sein, wiefern jemand bedacht gewesen, sich meiner zu bedienen, während ich noch dazu in Jahren war?


Dum melior vires sanguis dabat, aemula necdum

Temporibus geminis canebat sparsa senectus.15


Zu nichts, erwiderte ich; und bedeute mich gern, daß ich zu nichts tauge, was mich einem andern zum Sklaven macht. Aber ich hätte meinem Herrn seine Wahrheiten gesagt und seine Sitten beleuchtet, wenn er es gewollt hätte. Nicht im allgemeinen, durch Schulgeschwätz, worauf ich mich nicht verstehe und wodurch ich diejenigen, welche solches verstehen, keine wahre Besserung hervorbringen sehe; sondern indem ich solche bei jeder Gelegenheit Schritt vor Schritt beobachtet und Stück vor Stück einfach und natürlich beurteilt hätte. Ich würde ihm gezeigt haben, wie er in der allgemeinen Meinung stände, und hätte mich seinen Schmeichlern widersetzt. Ich wüßte niemanden unter uns, der nicht weniger wert sein würde als die Könige, wenn er ebenso unaufhörlich von verworfenen Leuten verderbt würde wie sie. Konnte doch nicht einmal Alexander, dieser große König und Philosoph, sich davor beschützen. Ich hätte dazu Treue, Urteilskraft und Freimütigkeit genug besessen. Es wäre ein Amt ohne Titel; sonst verlöre es seine Wirkung und Wohlanständigkeit. Auch ist es eine Rolle, die nicht jedem ohne Unterschied aufgetragen werden kann. Denn die Wahrheit selbst hat kein Vorrecht, zu jeder Stunde und bei allen Gelegenheiten gesagt zu werden. Ihre Anwendung, so[317] edel sie ist, hat ihre Einschränkung und Grenzen. Wie die Welt beschaffen ist, ergibt sich's oft, daß man solche vors Ohr der Fürsten bringt, nicht nur ohne Nutzen, sondern auch mit Schaden, und zwar von Rechts wegen. Und wird man mich nie überreden, daß keine heilsame Vorstellung zur unrechten Zeit gemacht werden könne und daß der Vorteil der Sache nicht zuweilen dem Vorteile der Form nachstehen müsse.

Zu einem solchen Amte würde ich einen Menschen wählen, der mit seinen Glücksumständen zufrieden,


Quod sit, esse velit; nihilque malit.16


und in mittelmäßigem Range geboren wäre. Sonach würde er einerseits nicht fürchten, wenn es das Herz seines Herrn stark und kräftig angriffe, dadurch den Lauf seiner Beförderung zu unterbrechen, und andererseits durch diesen mittelmäßigen Rang desto besser imstande sein, mit allen Arten von Leuten Verkehr zu haben. Ich wollte ferner zu diesem Amt nur einen Mann. Denn, wenn man das Vorrecht einer so offenherzigen Vertraulichkeit auf viele erstreckte, so würde solches eine schädliche Unehrerbietigkeit erzeugen. Ja, auch diesem Mann würde ich die heiligste Treu des Stillschweigens auflegen.

Einem König ist nicht zu glauben, wenn er sich mit der Standhaftigkeit rühmt, womit er, seiner Ehre wegen, den Angriff des Feindes abwarten wolle, und doch, zu seinem Nutzen und seiner Besserung die freimütigen Reden eines Freundes nicht ertragen kann, die weiter nichts tun als seine Ohren berühren, da das übrige ihrer Wirkung in seinen eigenen Händen steht. Es ist aber kein Stand des Menschen, der der wahren und freien Vorstellung so dürftig wäre als der Stand der Fürsten. Sie führen ein öffentliches Leben und sollen die gute Meinung so vieler Zuschauer gewinnen. Weil man aber gewöhnt ist, ihnen alles zu verschweigen, und sie von ihrem Wege abführt, so finden sie sich, ohne es zu wissen, mit dem Hasse und[318] Abscheu des Volkes beladen, und zwar oft durch Veranlassungen, die sie hätten vermeiden können, ohne selbst dabei einmal ihren Vergnügungen Eintrag zu tun, wenn man sie nur zu rechter Zeit gewarnt und aufgerichtet hätte. Gewöhnlich sind ihre Günstlinge mehr auf sich selbst bedacht als auf ihren Herrn. Und dabei befinden sie sich wohl; weil doch, die Wahrheit zu sagen, die meisten Pflichten der wahren Freundschaft gegen einen Fürsten schwer und gefährlich auszuüben sind, so daß dazu notwendigerweise nicht nur viel Abhänglichkeit und Freimütigkeit, sondern auch Mut erfordert wird.

Diese ganze Pastete meines Gekritzels ist endlich weiter nichts als ein Register der Versuche meines Lebens, welches der innern Gesundheit Beispiele genug an die Hand gibt, wenn man die Lehre daraus zieht, das Gegenteil zu tun. Was aber die körperliche Gesundheit betrifft, so kann niemand nützlichere Erfahrungen aufstellen als ich; da ich solche rein zeige, weder durch Kunst oder Meinung verderbt noch geschwächt. Die Erfahrung ist in Ansehung der Arzneikunde eigentlich der Hahn auf seinem eigenen Miste, wo ihr die Vernunft die Herrschaft einräumt. Tiberius sagte: jedermann, der dreißig Jahr gelebt habe, müsse selbst wissen, was ihm heilsam oder schädlich sei, und sich ohne Beistand des Arztes helfen können. Das konnte er vom Sokrates gelernt haben, welcher seinen Schülern riet, das Studium ihrer Gesundheit mit Sorgfalt und als ein Hauptstudium zu treiben, und hinzufügte, es sei unglaublich, daß ein Mensch von Verstand, der auf seine körperliche Bewegung, auf sein Essen und Trinken achtgäbe, nicht besser wissen sollte als jeder Arzt, was ihm gut oder schlecht bekomme. Daher behauptet auch die Heilkunde, sie habe von jeher die Erfahrung zum Prüfstein ihres Verfahrens gemacht. Also hatte Plato recht zu sagen, ein wahrer Arzt müßte notwendig erst alle Krankheiten, die er heilen wolle, selbst gehabt haben, und alle Zufälle und Umstände durchgegangen sein, welche seiner Beurteilung unterworfen werden. Es ist billig, daß er sich krätzig mache, wenn er die Krätze heilen will.[319] Wirklich, nur einem solchen würde ich mich anvertrauen. Denn die andern führen uns wie jener, welcher Meere, Klippen und Häfen auf den Tisch hinmalt, an welchem er sitzt, und das Modell eines Schiffchens in aller Sicherheit herumspazieren läßt. Bringt ihn zur wirklichen Tat, so weiß er nicht, mit welcher Hand er angreifen soll. Sie machen eine Beschreibung von unsern Krankheiten wie der öffentliche Ausrufer einer Stadt. Er bezeichnet ein verlornes Pferd oder einen Hund von solch und solcher Farbe, solch und solcher Größe, die Ohren so und so gestaltet; aber stellt ihm das Tier vor, so kennt er es doch nicht. Bei Gott, laß mir die Heilkunde eines Tages eine merkliche sichtbare Hilfe leisten, und man soll sehen, wie treu und ehrlich ich ausrufen werde:


Tandem efficaci do manus scientiae!17


Die Künste, welche versprechen, unsern Körper und unsere Seele gesund zu erhalten, versprechen sehr viel. Dafür wüßte ich aber auch nichts, was weniger sein Versprechen hielte. Und zu unserer Zeit beweisen diejenigen, welche von diesen Künsten bei uns Profession machen, weniger tätige Wirkung derselben als alle übrigen Menschen. Man kann höchstens von ihnen sagen, daß sie heilkräftige Kräuter und Tränke verkaufen; daß sie aber Ärzte wären, kann man nicht sagen. Ich habe lange genug gelebt, um von der Gewohnheit Rechenschaft ablegen zu können, die mich bis hieher gebracht hat. Wer sie gleichfalls versuchen will, dem habe ich vorgekostet und bin sein Kredenzer. Hier sind einige Artikel, wie sie mir das Gedächtnis an die Hand gibt. Ich klebe an keiner Gewohnheit, die ich nicht nach den Veranlassungen abgeändert hätte; aber ich zeichne nur diejenigen auf, welche ich am meisten herrschend gefunden habe, denen ich bis auf diese Stunde am treuesten geblieben bin.

Meine Art zu leben ist in gesunden und kranken Tagen einerlei. Ich bediene mich desselben Bettes, halte einerlei[320] Stunde, genieße einerlei Speise und einerlei Getränk. Ich füge dabei nichts hinzu, sondern mäßige mich nur mehr oder weniger nach Beschaffenheit meiner Kräfte und meines Hungers. Meine Gesundheit besteht darin, daß ich in meinem gewöhnlichen Zustand nicht gestört werde. Ich sehe, daß die Krankheit an einer Seite mich daraus versetzt; wenn ich den Ärzten glaubte, so würden die mich auf der andern Seite davon abkehren, und so wäre ich denn durch Zufall und Kunst völlig aus meinem Weg gebracht. Ich glaube nichts gewisser als dies, daß mir solche Dinge nicht schaden können, an die ich seit langer Zeit gewohnt bin. Es ist die Gewohnheit, welche unserer Lebensart eine Form gibt, wie es ihr gefällt. Sie kann hierin alles. Sie ist der Zaubertrank der Circe, welcher unsere Natur verändert wie er will. Wie viele Nationen, kaum um etliche Schritte weit von uns entfernt, halten die Furcht vor der Nachtluft, die uns augenscheinlich nachteilig ist, für lächerlich, und unsere Landleute und Schiffer lachen gleichfalls darüber. Man macht einen Deutschen krank, wenn man ihm Matratzen zum Schlafen unterlegt, einen Italiener durch Federbetten und einen Franzosen, wenn ihm Vorhänge und Kaminfeuer gebrechen. Der Magen eines Spaniers hält unsere Tafel nicht aus, so wie der unsrige nicht das schweizerische Trinken. Ein Deutscher machte mir zu Augsburg das Vergnügen, die Unbequemlichkeit unserer Kamine mit eben den Gründen darzutun, deren wir uns gewöhnlich bedienen, um ihre Stubenöfen zu verwerfen. Denn in der Tat beschwert diese eingeschlossene Hitze und dabei der Geruch des erhitzten Stoffes, woraus sie bestehen, die Köpfe der meisten Menschen, welche nicht daran gewöhnt sind. Mir nicht. In der Tat mag sich auch diese anhaltende, allenthalben gleich verbreitete Wärme, ohne daß der Glanz der Flamme die Augen blendet, ohne Rauch und ohne die Zugluft, die wir durch die Öffnung unserer Kamine empfinden, in mehr als einer Rücksicht gar wohl mit denselben messen. Warum ahmen wir nicht die römische Bauart nach? Denn man sagt, daß sie vor alters in ihren Häusern[321] von außen und unten einheizten und daß die Wärme durch Röhren innerhalb der Mauern in alle Zimmer geleitet wurde, die geheizt werden sollten, wie ich es beim Seneca, ich weiß nicht wo, ganz deutlich angezeigt gefunden habe. Als der vorbesagte Mann in Augsburg mich die Vorzüge und Schönheiten seiner Stadt rühmen hörte (wie sie es wirklich verdient), begann er mich zu beklagen, daß ich sie verlassen müßte, und die Hauptbeschwerlichkeit, die er mir anführte, setzte er in die Schwere des Kopfs, welche mir anderwärts die Kamine veranlassen würden. Er hatte jemand darüber klagen gehört und meinte, es sei unser Fall, weil er aus Gewohnheit in seiner Heimat dergleichen nicht fühlte.

Alle Wärme, die vom Feuer kommt, schwächt mich und macht mich schläfrig. Dennoch sagte Evenus, die beste Würze des Lebens wäre das Feuer. Ich wähle lieber alle anderen Mittel gegen die Kälte.

Wir fürchten die Neige des Weines; in Portugal liebt man dieses betäubende Getränk und setzt es auf die fürstliche Tafel. In summa: jede Nation hat verschiedene Gewohnheiten und Gebräuche, welche einer andern Nation nicht nur unbekannt, sondern unerhört und barbarisch scheinen. Was sollen wir diesem Volke sagen, welches keine anderen als gedruckte Zeugnisse annimmt, welches den Menschen nichts glaubt, als was sie aus Büchern beweisen können, auch keine Wahrheit annimmt, wenn sie nicht von hinlänglichem Alter ist? Wir geben unsern Narrheiten eine Würde, wenn wir sie in Formen gießen. Es klingt viel wichtiger, wenn man sagt: Ich habe gelesen, als wenn man sagt: Ich habe sagen gehört. Ich aber, weil ich gegen den Mund eines Menschen nicht leichtgläubiger bin als gegen seine Hand, weil ich weiß, daß man ebenso leichtsinnig schreibt als spricht, und weil ich unsere Zeiten für so gut halte als die vergangenen, führe ebenso lieb einen meiner Freunde an als den Aulus Gellius oder Macrobius; und was ich gesehen habe, ebensogern, als was sie geschrieben haben. Und was man von der Tugend sagt, daß sie deswegen nicht größer sei,[322] weil sie länger ist, das halte ich auch von der Wahrheit, daß sie deswegen, weil sie älter ist, nicht weiser sei. Ich sage oft, daß es platte Torheit ist, die uns nach fremden und schulgerechten Beispielen anjagt. Ihre Fruchtbarkeit ist zu dieser Stunde noch ebenso groß als zu den Zeiten Homers und Platos. Aber suchen wir nicht vielleicht mehr die Ehre der Bekanntschaft mit andern Schriftstellern als die Wahrheit eines Satzes? Als ob mehr daran läge, unsere Beweise aus dem Laden eines Buchhändlers zu entlehnen, als von dem, was wir in unserm Dorfe sehen und haben können. Oder wir haben wenigstens nicht den erforderlichen Sinn, das, was vor uns liegt, gehörig zu untersuchen, ihm seinen Wert zu geben und solches richtig zu beurteilen, um es zum Beispiel aufzustellen. Sagen wir aber, es fehle uns an gehörigem Ansehen, um unserm Zeugnisse Glauben zu verschaffen, so sagen wir es mit Unrecht. Denn, nach meiner Meinung, können aus den gewöhnlichsten, gemeinsten und bekanntesten Dingen, wenn wir sie ins gehörige Licht zu stellen wissen, die größten Wunderwerke der Natur und die erhabensten Beispiele hergeleitet werden, besonders in Rücksicht auf menschliche Handlungen.

Aber wieder zu meiner Sache. Die Beispiele, welche ich aus Büchern weiß, beiseite gesetzt, und dessen nicht zu erwähnen, was Aristoteles vom Andron, dem Argier, erzählt, daß er die libyschen Sandwüsten durchwanderte, ohne zu trinken, so sagte ein Herr von Adel, der mit vieler Würde verschiedene Posten verwaltet hat, in meiner Gegenwart, er sei von Madrid nach Lissabon im Sommer gereist, ohne zu trinken. Er befindet sich für sein Alter bei außerordentlichen Kräften und hat in seiner Lebensart sonst nichts Besonderes als dies, daß er, wie er mir gesagt hat, zwei oder drei Monate, ja wohl ein ganzes Jahr hinbringt, ohne zu trinken. Er spürt wohl Durst, läßt ihn aber vorübergehen, und meint, es sei ein Bedürfnis, welches sich leicht von selbst stille. Dergestalt trinkt er mehr aus Laune als aus Notwendigkeit oder zum Vergnügen.[323]

Hier noch ein anderes Beispiel. Ich traf vor nicht noch langer Zeit einen der gelehrtesten Männer Frankreichs, unter denen von nicht geringem Vermögen darüber an, daß er in einem Winkel des Saales studierte, welchen man durch eine Tapete abgeschlossen hatte, und um ihn her einen Haufen seiner Bedienten in lauter Ausgelassenheit. Er sagte mir (und Seneca sagte fast dasselbe von sich), er gewönne aus diesem Gepolter und Lärmen den Nutzen, daß er dadurch aufgeschreckt, sich fester und enger in sich selbst zum Nachdenken zusammenzöge und dieses Getöse von Stimmen seine Gedanken nach innen treibe. Als er in Padua studierte, bewohnte er solange ein Studierzimmer, welches dem Geräusche der Glocken und dem Getümmel des Marktes ausgesetzt war, daß er dadurch nicht nur alles Geräusch ohne Nachteil seines Studierens ertragen, sondern sogar Vorteil daraus ziehen lernte. Sokrates antwortete dem Alcibiades, der sich darüber wunderte, wie er das unaufhörliche Gekrächze seiner bösköpfigen Frau ertragen könne: »Es geht mir wie einem, der an das gewöhnliche Gekreisch gewöhnt ist, welches die Räder am Brunnen machen, wenn sie das Wasser heraufwinden.« Mit mir ist es gar anders beschaffen. Mein Geist ist zart und kann leicht in Schwung kommen. Wenn er mit sich selbst beschäftigt ist, bringt ihn das geringste Sumsen einer Fliege aus aller Fassung. Seneca hatte in seiner Jugend sich gar fest an das Beispiel des Sextius gehalten, von nichts zu essen, was einen leiblichen Tod erlitten. Er enthielt sich dessen ein Jahr hindurch, wie er sagt, mit Vergnügen, und änderte dieses Verhalten nur deswegen, damit er nicht in Verdacht geriete, als ob er diese Regel aus irgendeiner neuen Religion entlehnt habe, die solche vorschrieb. Nebenher befolgte et noch die Vorschrift des Attalus, nicht mehr auf weichen Pfühlen zu schlafen, welche sich an den Körper schließen, sondern bediente sich in seinem Alter harter Matratzen, auf denen der Körper keinen Eindruck macht. Was ihm seine Zeit als Härte anrechnet, läßt die unsrige uns als Gemächlichkeit betrachten. Man[324] sehe nur den Unterschied zwischen der Lebensart meiner Hausbedienten und der meinigen. Die Skythen und Indianer sind nicht weiter von meiner Kraft und meiner Form entfernt. Ich erinnere mich, daß ich Bettelbuben von der Gasse genommen habe, um sie zu meiner Aufwartung zu gebrauchen. Diese haben bald darauf meinen Dienst und meine Küche verlassen und meine Livree ausgezogen, bloß um wieder zu ihrer vorigen Lebensart zurückzukehren. Einen fand ich in der Folge, der zu seinem Mahl Luderfleisch vom Schindanger aufsuchte, den ich aber weder durch Bitten noch Drohungen von dem Wohlbehagen abwendig machen konnte, das er an der Dürftigkeit empfand. Die Bettler haben ebensowohl ihre Pracht und Wollüste als die Reichen und, wie man sagt, sogar ihre eigenen Würden und Polizeiordnungen, alles Wirkungen der Gewohnheit. Diese kann uns nicht nur in alle Formen schmiegen, die ihr gefallen (unterdessen sagen die Weisen, sollten wir uns in die beste stellen, und sie wird uns solche alsobald erleichtern), sondern auch zum Wechsel und zur Veränderung, welches das Beste und Nützlichste ihrer Lehrschule ist. Das Beste an meiner körperlichen Beschaffenheit besteht darin, daß ich biegsam und nachgiebig bin. Ich habe Neigungen, die mir eigentümlicher, gewöhnlicher und angenehmer sind als andere; aber ich kann mich ihrer ohne große Anstrengung entschlagen und gleite ganz gemächlich zum Gegenteil über. Ein junger Mensch muß seine Gewohnheiten unterbrechen, um seine Kräfte zu erwecken, sich wenigstens vor Schimmeln und Faulen bewahren; und keine Lebensart ist so kindisch und närrisch als die Lebensart nach Schnur und Uhr:


Ad primum lapidem vectari cum placet, hora

Sumitur ex libro; si prurit frictus ocelli

Angulus, inspecta genesi, collyria quaerit.18
[325]

Wenn der Jüngling mir glauben will, so wird er zuweilen sogar ausschweifen. Sonst macht ihn der geringste Hieb über die Schnur unglücklich, und er wird unangenehm und unerträglich im Umgang. Die widerlichste Eigenschaft eines ehrlichen Mannes ist die Verzärtelung und die Gewohnheit an eine gewisse ausschließliche Lebensweise. Ausschließlich wird jede, welche nicht biegsam und gefügig ist. Man muß sich schämen, wenn man aus Unvermögen nicht mitmachen kann oder zu tun wagt, was die Genossen tun können. Laß solche Menschen in der Nähe ihrer eigenen Küche bleiben. Für jedermann ist so etwas unschicklich. Für einen Mann vom Kriegshandwerk aber ist es gar schimpflich und unverzeihlich. Denn ein solcher muß sich, wie Philopoemen sagte, an alle Verschiedenheiten und Ungleichheiten des Lebens gewöhnen.

Gleichwohl, so sehr ich, wie es sich tun ließe, an Verschiedenheit und Freiheit gewöhnt worden bin, habe ich dennoch aus Fahrlässigkeit, da ich älter geworden bin, gewisse Formen angenommen (meine alten Tage leiden keine Erziehung mehr und wollen sich auf nichts anderes mehr einlassen als auf ihre Erhaltung), und die Gewohnheit hat gewissen Dingen, ohne daran zu denken, ihren Charakter so stark eingeprägt, daß ich es Ausschweifung nenne, wenn ich davon abgehen soll. Ich kann nicht mehr, ohne mir wehe zu tun, spät in den Tag hinein schlafen noch zwischen den Mahlzeiten essen, noch frühstücken, noch mich schlafen legen ohne große Zwischenräume, nämlich ungefähr drei Stunden nach dem Abendessen, noch für meine Nachkommenschaft arbeiten, außer vor dem Schlafengehen, noch solches stehend verrichten; noch kann ich ein durchgeschwitztes Hemd auf dem Leibe behalten; noch bloßes Wasser oder unvermischten Wein trinken; ebensowenig lange mit bloßem Kopfe bleiben oder mich nach der Mahlzeit scheren lassen. Und ich entbehrte ebenso gern des Hemdes als der Handschuhe und des Händewaschens beim Aufstehen als nach Tische, und äußerst notwendiger Bedürfnisse als des Himmelbettes[326] und der Vorhänge. Ich könnte mein Essen ohne Tischtuch zu mir nehmen; aber sehr mit Widerwillen ohne reine Serviette, wie die Deutschen. Ich mache meine Serviette schmutziger wie sie und die Welschen und bediene mich des Löffels und der Gabel sehr wenig. Es tut mir leid, daß man nicht eine Gewohnheit befolgt hat, die ich bei den Königen eingeführt gesehen, daß man bei jedem Gange so wie reine Teller auch reine Servietten auflegt. Wir wissen von dem tätigen Soldaten Marius, daß er mit zunehmendem Alter immer leckerer im Trinken wurde und nie anders als aus seinem eigenen Becher trank. So mag ich gern aus besondern Gläsern trinken und ebenso ungern aus einem solchen, welches der Reihe nach herumgeht, als ich aus der Hand eines andern trinken würde. Kein Metall gefällt mir so gut als helles, durchsichtiges Glas, welches ja auch meinen Augen ihren eigentümlichen Genuß gewährt. Dergleichen Weichlichkeiten mehr bin ich der Gewohnheit schuldig. Andre hat mir die Natur verliehen; wie zum Beispiel, daß ich nicht mehr zwei volle Mahlzeiten ertragen kann, ohne meinen Magen zu überladen, noch auch mich völlig einer Mahlzeit enthalten kann, ohne Blähungen zu empfinden, einen trocknen Mund zu bekommen oder meinem Appetit wehe zu tun; daß ich nicht lange in der Nachtluft bleiben kann, ohne daß es mir nachteilig werde. Denn wenn ich die ganze Nacht bei dem Herrndienst des Krieges, wie es gewöhnlich zu geschehen pflegt, aufsitzen muß, so fängt seit einigen Jahren, nach fünf oder sechs Stunden, mein Magen an unruhig zu werden, ich empfinde heftige Kopfschmerzen und reiche nicht bis zum Tagesanbruch, ohne mich zu übergeben. Wenn die andern zum Frühstück gehen, so muß ich mich schlafen legen und bin nachher wieder so munter wie vorher. Ich hatte beständig gehört, die Nachtluft träte erst mit Anbruch der Nacht selbst ein; aber da ich seit den letzten Jahren sehr lange und vertraut mit einem Herrn umging, der mit dem Glauben angesteckt war, solche Luft sei am schlimmsten und nachteiligsten, wenn sich die Sonne neige, eine oder zwei[327] Stunden vor ihrem Untergang, weswegen er dieselbe sorgfältig vermeidet und weiter auf die Nacht nicht achtet, so hat er mir beinahe nicht sowohl seine Gründe als seine Empfindung eingeflößt; denn der Zweifel selbst und die Untersuchung macht unsere Einbildung rege und verursacht Veränderungen in uns. Wer solchen Gedanken plötzlich und auf einmal Raum gibt, zieht seinen völligen Untergang auf sich. Ich beklage mehr als einen Mann von Stande, der sich durch die Dummheit seiner Ärzte in früher gesunder Jugend dem Lazarett übergeben hat. Besser wäre es noch, eine Erkältung davonzutragen, als durch Entwöhnung auf zeitlebens des menschlichen Umgangs bei so wichtigen Vorfallenheiten entsagen müssen. Es ist eine schädliche Wissenschaft, welche uns die angenehmsten Stunden des Tages verschreit. Laßt uns unsern Besitz durch die äußerste Anstrengung erkämpfen. Die meiste Zeit härtet man sich ab, wenn man sich durch nichts irremachen läßt, und verbessert seine körperliche Beschaffenheit; wie Cäsar sich dadurch von der fallenden Sucht heilte, daß er nicht darauf achtete und ihr niemals nachgab. Man muß sich die beste Lebensweise vorschreiben, aber ihr sich nicht knechtisch unterwerfen; es sei denn einer solchen, deren Verpflichtung und Beobachtung nützlich ist.

Könige und Philosophen müssen zu Stuhle gehen und die Damen gleichfalls. Das Leben öffentlicher Personen ist an Zeremonien gebunden; mein unbeachtetes einzelnes Leben genießt aller natürlichen Freiheiten. Als Soldat und Gaskognier darf ich auch schon ein Wort mehr sagen. Deswegen will ich auch dieser Verrichtung hier erwähnen. Es ist notwendig, derselben gewisse bestimmte nächtliche Stunden anzuweisen und sich durch Gewohnheit dazu zu zwingen und zu binden, wie ich getan habe; aber nicht wie ich in meinem Alter getan habe, sich an eine gewisse Bequemlichkeit des Orts und Sitzes zu gewöhnen und solche durch langes Verweilen und Weichlichkeit unbequem zu machen. Gleichwohl ist es bei den schmutzigsten Verrichtungen gewissermaßen zu entschuldigen, wenn[328] man darauf mehr Sorgfalt und Reinlichkeit verwendet: natura homo mundum et elegans animal est.19 Bei allen natürlichen Verrichtungen mag ich am ungernsten in dieser unterbrochen werden. Ich habe Kriegsleute gekannt, die von der Unordnung ihres Stuhlganges sehr beschwert wurden, indes ich und der meinige uns niemals verfehlen und zu rechter Zeit zutreffen, nämlich beim Aufsteigen aus dem Bett, wenn nicht eine wichtige Beschäftigung oder Krankheit dazwischenkommt.

Ich weiß also, wie schon gesagt, einem Kranken nichts Besseres und mehr Sicheres anzuraten, als daß er sich ruhig bei der Lebensweise verhalte, worin er geboren und erzogen ist. Alle Veränderung, sie bestehe, worin sie wolle, greift an und tut weh. Man bilde sich nur ein, daß die Kastanien einem Perigurdiner oder einem Lucceser schädlich seien, oder Milch und Käse den Bergbewohnern, so wird man ihnen nicht nur eine neue, sondern eine höchst schädliche Diät vorschreiben, eine Veränderung, die selbst einem Gesunden übel bekommen müßte. Man verschreibe einem siebzigjährigen Bretagner Brunnenwasser; man sperre einen seefahrenden Mann ein in eine Badstube, man verbiete einem Bedienten aus Biskaya spazierenzugehen, man raube ihnen Bewegung und endlich Luft und Licht,


An vivere tanti est?

Cogimur a suetis animum suspendere rebus,

Atque, ut vivamus, vivere desinimus ...

Hoc superesse reor, quibus et spirabilis aër,

Et lux, qua regimur, redditur ipsa gravis.20


Wenn man damit keinen andern Nutzen schafft, so wird man so viel wenigstens bewirken, daß man die Kranken[329] beizeiten auf den Tod vorbereitet und nach und nach den Gebrauch ihres Lebens untergräbt und abschneidet.

Gesund oder krank habe ich immer gern die Gelüste befolgt, wovon ich mich gedrungen fühlte. Ich räume meinen Begierden und Verlangen ein großes Recht ein. Ich mag nicht gern Übel durch Übel heilen. Ich hasse die Mittel, welche beschwerlicher sind als die Krankheit Wollte ich mich, weil ich mit Steinschmerzen geplagt bin, auch des Vergnügens berauben, Austern zu essen, so erlitte ich zwei Übel statt eines. Die Krankheit zwickt auf einer Seite und die Verordnung auf der andern. Da wir einmal das Wagestück bestehen, uns zu verrechnen, so wagen wir einmal etwas für das Vergnügen. Die Welt tut das Gegenteil, hält nichts für nützlich, was nicht weh tut, und was leicht wird, ist ihr verdächtig. Mein Appetit in verschiedenen Dingen hat sich glücklicherweise von selbst gefügt und sorgt für die Gesundheit meines Magens. In meiner Jugend fand ich viel Gefallen an scharfen und hochgewürzten Brühen. Da sich in der Folge mein Magen nicht damit vertragen wollte, veränderte sich alsobald auch mein Geschmack. Wein ist dem Kranken schädlich. Auch ist er das erste, womit sich mein Mund nicht vertragen kann und wovor er einen unüberwindlichen Ekel bekommt. Alles, was ich mit Widerwillen zu mir nehme, ist mir schädlich, und nichts ist mir undienlich, was ich mit Hunger und Wohlgeschmack genieße. Ich habe niemals Nachteil von einer Handlung gespürt, die mir viel Wohlbehagen verursacht hatte; und deshalb habe ich auch meinem Vergnügen alle medizinischen Verordnungen bei weitem nachgesetzt und mich von Jugend an,


Quem circumcursans huc atque huc saepe Cupido

Fulgebat crocina splendidus in tunica21,


ebenso leichtsinnig und unbedachtsam meinen Begierden und Verlangen überlassen wie irgend jemand,
[330]

Et militavi non sine gloria22,


mehr indessen in der Dauer und anhaltend als durch Heftigkeit des ersten Angriffs:


Sex me vix memini sustinuisse vices.23


Bei alledem ist es, wie ich gestehe, ein Unglaube und ein Wunder, daß ich bei so gar frühen Jahren schon der ersten Neigung dieser Art den Zügel schießen ließ. Der Zufall tat alles dabei. Denn es geschah lange vor der Zeit der Erkenntnis und der Wahl. Ich kann mich selbst nicht einmal so weit zurückerinnern, und man mag mein Geschick sehr wohl mit dem der Quartilla vergleichen, die sich ihrer Jungfräulichkeit nicht mehr erinnern konnte:


Inde tragus, celeresque pili, mirandaque matri

Barba meae.24


Die Ärzte beugen gewöhnlich mit Nutzen ihre Vorschriften nach der Heftigkeit der Begierden, welche ihren Kranken aufstoßen. Die Begierde mag so befremdlich und tadelhaft sein, als sich immer denken läßt, die Natur ist sicherlich im Spiele. Wieviel gewinnt man überdem dabei, wenn man die Einbildungskraft befriedigt? Nach meiner Meinung kommt alles darauf an, zum wenigsten mehr wie auf alles übrige. Die drückendsten und häufigsten Übel sind diejenigen, womit die Einbildungskraft uns belastet. Aus vielen Ursachen gefällt mir das spanische Sprichwort: Defiendame Dios de .25 Bin ich krank, so tut mir's leid, wenn ich kein Gelüste habe, welches mir das Vergnügen machen könnte, es zu befriedigen. Es wird den Ärzten schwer werden, mich davon abzuhalten. Ebenso geht mir's, wenn ich gesund bin. Ich kenne nichts Besseres als zu wollen und zu wünschen. Es ist Elend[331] genug, wenn sogar die Wünsche schwach und matt werden.

Mit der Arzneikunst ist es noch nicht so weit gediehen, daß wir nicht bei allem unsern Tun und Lassen noch Autoritäten voraushaben sollten. Sie ist anders nach den Himmelsgegenden, nach den Mondphasen und nach diesem oder jenem Arzt. Wenn der eurige nicht für gut findet, daß ihr schlafet, daß ihr Wein trinkt oder diese oder jene Speise eßt, so seid deswegen unbesorgt; ich will euch schon einen andern zuführen, der nicht seiner Meinung sein soll. Die Verschiedenheit der medizinischen Gründe und Meinungen ist unermeßlich. Ich kannte einen elenden Kranken, welcher, um zu genesen, vor Durst fast verschmachtete und umkam und deswegen nachher von einem andern Arzt ausgelacht wurde, der diese Vorschrift als schädlich verwarf. Hatte er seine große Enthaltsamkeit nicht sehr nützlich angewandt? Es ist neulich ein Mitglied dieses Ordens am Stein gestorben, der sich großer Enthaltsamkeit befliß, um seine Krankheit zu bekämpfen. Dahingegen sagen seine Kollegen, er habe sich durch seine Fasten ausgedörrt und den Grieß in seinen Nieren gebrannt.

Ich habe wahrgenommen, daß mich bei Wunden und Krankheiten das Sprechen erhitzt und mir schädlicher ist als alle übrigen Verstöße. Das Sprechen wird mir schwer und ermüdet mich; denn ich rede laut und mit solcher Anstrengung, daß vornehme Personen, mit denen ich von wichtigen Angelegenheiten gesprochen habe, mich oft erinnern mußten, leiser zu sprechen.

Folgende Erzählung verdient, daß ich sie zu meinem Vergnügen anführe. Ein gewisser Mensch in einer Schule von Griechenland sprach laut wie ich. Der Zeremonienmeister ließ ihm sagen, er sollte leiser reden. »Laß ihn mir«, sagte dieser, »den Ton zuschicken, in welchem ich nach seiner Meinung reden soll.« Der andere versetzte: »Nimm deinen Ton von den Ohren desjenigen, mit dem du sprichst.« Das war gut gesagt, wenn es soviel heißen soll: Sprich nach Maßgabe dessen, was du deinem Zuhörer[332] zu sagen hast. Denn wenn es heißen soll: Es sei dir genug, daß er dich hört, oder richte dich nach ihm, so bin ich damit nicht einverstanden. Ton und Bewegung der Stimme haben einen gewissen Ausdruck und Bedeutung reinen Sinnes. Diese muß ich also aufbieten, wenn sie mich vertreten sollen. Es gibt eine Stimme zum Unterrichten, eine Stimme zum Schmeicheln oder Schelten. Ich will, daß meine Stimme nicht bloß zu einem andern gelange, sondern vielleicht, daß sie ihn treffe und durchdringe. Wenn ich meinen Bedienten ausfilze und dabei meine Stimme laut und schreiend ist, darf er mir nicht sagen: »Herr, schreien Sie nicht so, ich höre Sie ja wohl.« Est quaedam vox ad auditum accommodata, non magnitudine, sed proprietate.26 Das Wort gehört zur Hälfte dem, welcher spricht, und zur Hälfte dem, welcher hört. Dieser muß sich darauf gefaßt machen, es in der Bewegung aufzufangen, worin es ihm zukommt. Wie beim Ballspiel der Anfänger den Schläger und dessen Bewegung zur Richtschnur der seinigen macht und nach derselben seine eigene Geschwindigkeit abmißt.

Die Erfahrung hat mich auch noch dies gelehrt, daß wir uns durch Ungeduld zugrunde richten. Jedes Ungemach hat sein Leben und seine Grenzen, seine Krankheit und seine Gesundheit. Die Beschaffenheit der Krankheiten richtet sich nach der Beschaffenheit des tierischen Körpers. Ihre Dauer und Tagezeit ist ihnen von ihrem Ursprung an vorgeschrieben. Wer es darauf anlegt, sie gewaltsamer, herrschsüchtigerweise abzukürzen und ihren Lauf zu hemmen, der verlängert, vervielfältigt und verbittert sie, anstatt sie zu beschwichtigen. Ich bin der Meinung Crantors, daß man sich den Übeln weder eigensinnig wie ein Wildfang widersetzen, noch ihnen weichlich unterliegen, sondern ganz natürlich ihrer und unserer Beschaffenheit gemäß nachgeben müsse. Man muß den Krankheiten ihren Weg offenlassen; und ich finde, daß sie kürzer bei[333] mir verweilen, will ich sie ihren Gang gehen lassen. Ich habe einige von denen, welche man für die hartnäckigsten hält, von selbst verloren, ohne Hilfe und Kunst und gegen die gewöhnliche Regel. Laß doch die Natur sich selbst helfen. Sie versteht ihre Sache besser zu machen als wir. Dieser oder jener ist daran gestorben. Nun, euch wird's nicht besser gehen, wo nicht an dieser, doch an einer andern Krankheit. Wie viele sind nicht daran gestorben, ungeachtet sie drei Ärzte auf dem Halse hatten? Das Beispiel ist ein allgemeiner, trüglicher Spiegel, in welchem man alles erblickt. Ist etwas eine angenehme Medizin, so gebraucht solche. Sie ist immer ein gegenwärtiges Gut. Ich werde mich nie beim Namen noch bei der Farbe aufhalten, wenn sie wohlschmeckend und appetitlich ist. Das Vergnügen ist immer der hauptsächlichste Vorteil. Ich habe bei mir alt werden und eines natürlichen Todes sterben lassen: Schnupfen, Flüsse, Gicht, Durchlauf, Herzklopfen, Kopfschmerzen und andere Zufalle, die ich verloren, als ich schon halb darauf gefaßt war, sie zu ernähren. Man beschwört sie besser durch Höflichkeit als durch Trotz. Man muß die Schmerzen, die uns nach den Gesetzen unseres Zustandes überkommen, geduldig ertragen. Wir sind einmal da, um alt, schwach und krank zu werden, trotz aller Arznei. Es ist die erste Lehre, welche die Mexikaner ihren Kindern geben, wenn sie solche beim Austritt aus ihrer Mutter Schoß folgendergestalt bewillkommen: Kind, du bist auf die Welt gekommen, um zu dulden; dulde, leide und schweig! Es ist ungerecht, sich zu beklagen, daß einem etwas überkommen sei, was jedem überkommen kann: Indignare, si quid in te inique proprie constitutum est.27

Man sehe doch den Alten, welcher sein Gebet darauf richtet, der liebe Gott solle ihn bei völliger kräftiger Gesundheit erhalten! Heißt das nicht soviel, er solle ihn wieder verjüngen?
[334]

Stulte, quid haec frustra votis puerilibus optas?28


Ist es nicht Torheit? Seine Verhältnisse erlauben es ja nicht. Zipperlein, Steinschmerzen, Magenschwäche sind die Begleiter von langen Jahren, wie Hitze, Regen und Winde die Begleiter langer Reisen sind. Plato glaubt nicht, daß Äsculap sich sehr darum bekümmert habe, ob er durch seine Vorschriften die Lebensdauer verdorbenen, geschwächten Körpern erhalten könne, die ihrem Vaterland unnütz, unnütz für ihre Berufsgeschäfte und unnütz waren, gesunde und starke Kinder auf die Welt zu setzen, und findet diese Sorge der göttlichen Gerechtigkeit und Weisheit gemäß, welche alle Dinge zu nützlichen Zwecken leiten soll. Mein guter alter Mann, es ist vorbei. Man kann dir nicht wieder auf die Füße helfen. Höchstens kann man dich ein wenig aufpflastern, von neuem anschienen und dein Elend um ein paar Minuten verlängern:


Non secus instantem cupiens fulcire ruinam,

Diversis contra nititur objicibus,

Donec certa dies, omni compage soluta,

Ipsum cum rebus subruat auxilium.29


Man muß ertragen lernen, was man nicht vermeiden kann. Unser Leben ist, wie die Harmonie der Welt aus widersprechenden Dingen, gleichfalls aus verschiedenen, langen und kurzen, hohen und tiefen, weichen und rauhen Tönen zusammengesetzt. Der Tonsetzer, welchem nur einige Tonarten gefielen, würde mit seiner Kunst nicht viel ausrichten. Er muß sich ihrer insgesamt zu bedienen und solche zu vermischen wissen. So müssen wir das Gute und das Übel verbinden, aus denen die Wesenheit des[335] Lebens besteht. Unser Dasein kann ohne diese Vermischung nicht bestehen, und eine Saite ist ebenso nötig dazu als die andere. Gegen den Stachel der Notwendigkeit anlöken wollen, heißt die Torheit des Ctesiphon teilen, der sich unterfing, sich mit seinem Maultiere auf den Huf zu schlagen.

Fußnoten

1 Manilius I, 59: Durch mancherlei Versuch hat die Erfahrung die Kunst gebildet, und das Beispiel zeigte den Weg ihr.


2 Tacitus, Ann. III, 25: In Untaten waren wir ehedem, jetzt sind wir in Gesetzen versunken.


3 Seneca, Epist. 89: Was bis zu Staub zermalmt wird, ist schwer auseinanderzufinden.


4 Quintilian, Inst. X, 3: Gelehrsamkeit macht Schwierigkeit.


5 Griechisch-römisches Sprichwort: Die Maus im Pech.


6 Etienne de la Boétie in einer Widmung an Marguerite de Carle, seine spätere Frau, als er für diese die Klage der Bradamante aus dem »Rasenden Roland« (XXXII) übersetzte.


7 Im Original irrtümlich Memnon.


8 Properz III, 5, 26: Welche göttliche Kunst waltet im Weltengebäu, welche im Kommen des Monds und Verschwinden, und daß nach durchlaufenem Monat zum vollen Schild füget die Hörner der Mond; und woher der Winde Gewalt auf dem Meere, des Süds Hauch, wo er hinreicht, woher hangende Wasser der Luft, und wenn kommt der Tag, der den Bau der Welten zerstört?


9 Lucan I, 417: Das sind Eure Fragen, die Ihr um die Welt Euch bekümmert.


10 Vergil, Aen. VII, 528: Wie wenn im Meere zuerst die Flut sich kräuselt, bald das Meer sich erhebt und höher die Wogen emporwirft, bis sie aus tiefstem Grunde zum Himmel hinan sich türmet.


11 Cicero, Acad. I, 13: Nichts ist abscheulicher, als wenn Behauptung und Beifall der Untersuchung und Prüfung zuvoreilen.


12 Lucan IV, 599: Kaum berührten sie seine Mutter Erde, so erstanden die matten Glieder in neuer Stärke.


13 Vergil, Georg. II, 103: Doch mißt kein Zahlenmaß die Arten und die Namen.


14 Cicero, De fin. bon. III: Die Weisheit allein lebt und webt in sich selber.


15 Vergil, Aen. V, 419: Da noch rascheres Blut in mir rann, und das neidische Alter um die Schläfe noch nicht in dünnem Weißhaar ergraute.


16 Martial X, 47, 12: Was er ist, wolle er sein, und weiter nichts.


17 Horaz, Epod. XVII, 1: Endlich gebe ich die Hand der wirksamen Wissenschaft.


18 Juvenal VI, 576: Will er nur bis zum nächsten Meilenzeiger verreisen, sieht er im Kalender nach, ob's heut geheuer sei, und brennet ihm der Augenwinkel, weil er ihn gerieben, so konsultiert er die Nativität, ob eine Augensalb ihm dienlich sei.


19 Seneca, Epist. 92: Der Mensch ist von Natur ein reinliches, zierliches Tier.


20 Pseudo-Gall. Eleg. I, 155, 247 (ohne die erste Zeile): Ist Leben so viel wert? – Wir sollen des Gewohnten uns entschlagen? Und nicht mehr leben, weil wir leben wollen? Wem Lebensluft und Licht entzogen wird, den zähl' ich Abgeschiednen bei.


21 Catull, Carm. LXVI, 133: Mich umflattert' hier und dort der Schäker Cupido, glänzend im purpurnen Rock.


22 Horaz, Od. III, 26, 2: Ich stritt nicht ungeehrt.


23 Ovid, Amor. III, 7, 26: Auf sechsmal hab' ich's kaum gebracht.


24 Martial XI, 22, 7: Daher so früh meine Rauheit und Bart, ein Wunder der Mutter.


25 Martial XI: Gott bewahre mich vor mir selbst.


26 Quintilian XI, 3: Es gibt einen gewissen Ton, der vorzüglich verständlich wird, nicht weil er laut, sondern weil er angemessen ist.


27 Seneca, Epist. 91: Zürne, wenn ein Gesetz dich allein ungerecht behandelt.


28 Ovid, Trist. III, 8, 11: Tor, was wünschest du dieses umsonst in kindischen Wünschen?


29 Pseudo-Gallus I, 171: Wie wenn einer das Haus, das naher Sturz dräut, zu stützen, ihm entgegendämmt Pfeiler und Strebegebälk; doch kommt einmal der Tag, der Bänder und Fugen zerstreut, fallen in einem Sturz Stützen und Sterben zugleich.
[336]

Quelle:
Montaigne, Michel de: Essays. Leipzig 1967, S. 297-337.
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