Der einsame Turm

[99] Wer laut von diesem längst verlaßnen Turm

der Tannen Ringwald überrufen wollte,

und trüge, was er riefe, stärkster Sturm,

ihm ahnte, daß es nie ein Ziel errollte.

So einsam steigt der alte Bau empor;

er fühlte Fürsten einst auf seinen Stufen,

bis, dunkler Taten schauerlich verrufen,

sein stiller Reiz der Menschen Gunst verlor.


Nur daß von Jägern sich zuweilen wer

vorbei verirrt, von wanderfrohen Seelen,

von Bettelpack, und wer die Kreuz und Quer

den Forst durchschleicht, sich Holz und Wild zu stehlen;

nur daß an seinem Fuß zuweilen sich,

wie heut, Zigeunervolk sein Reisig schichtet

und mit der Bogen wehmutwildem Strich

sein Weltweh in den fremden Frieden dichtet.


In allen Kronen hängt noch goldner Glanz ...

Die Sonne säumt noch, ihren Tag zu enden ...

Der Söllerblöcke halb zerfallnen Kranz

umlodert noch ihr scheidendes Verschwenden ...

Und aus dem Purpur schwillt es wie ein Born,

ein Strom von Tönen –: Abends erst Erschauern

erregt des Turms uraltes Äolshorn,

der Sonne nachzujauchzen, nachzutrauern.
[100]

Die Heimatlosen drunten horchen auf – –.

Und einer nimmt die Geige von den Knien

und strebt mit manchem jähen Sprung und Lauf

des Winds Gesang phantastisch zu durchziehen ...

Und wie so Wind und Seele sich verweben,

erwachen mehr und mehr der treuen Geigen ...

Ein aller Leidenschaften schluchzend Leben

erstürmt des Himmels immer tiefres Schweigen.


Gefangen folgt zuletzt die ganze Schar

der Windposaune wunderlichen Launen ...

Nun rast es tollkühn, unberechenbar ...

Nun stockt es wie in fragendem Erstaunen ...

Oh Sonne! Sonne! Mutter! Mutter! flehen,

verzweifeln, weinen, drohen all die Stimmen

und drohn und flehn in immer bangren Wehen,

je mehr des Tages Brände rings verglimmen.


Doch droben – seht ihr? die Zigeunerin!

Entstahl sie sich dem Kreis der braunen Söhne?

Wo kam sie her, das Weib? Wie kam sie hin?

Wie wächst sie hoch in schattenhafter Schöne!

Und hört ihr – hört! wie ihre Lippen singen –

ein Lied, das endlich alles überwindet,

in sich die andern Stimmen alle bindet,

damit Natur und Menschheit sie umklingen.
[101]

Es ist das tiefe Lied der Einsamkeit,

das Königslied der großen Ungekrönten,

das Klagelied der würdelosen Zeit,

das Trutzlied aller nur mit sich Versöhnten,

und ist der Weisheit gütiger Gesang,

des Willens jugendewiges »Es werde!«,

der Liebe Durst und Pein und Überschwang,

es ist das Schicksals-Hohelied der Erde.


Der Wald ward still. Kein Hauch im Wipfelschweigen.

Der Sterne Chor bewegt sich klar herauf ...

Und schlanke Leiber, edle Häupter zeigen

sich hoch vom Turme seinem ernsten Lauf ...

Die überall Verstoßenen, sie wohnen

in der Unendlichkeit azurnem Zelt –:

Um ihre Stirnen brennen bleiche Kronen,

und ihre Seelen sind der Sinn der Welt.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 99-102.
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