Legende

[89] Vom Tisch des Abendmahls erhob

der Nazarener sich zum Gehn

und wandte sich mit seiner Schar

des Ölbergs stillen Wäldern zu.


Erloschen war der Wolken Glut;

in Hütt' und Höfen ward es licht;

hell glänzten nah und näher schon

die Fenster von Gethsemane.


Aus einer Scheune klang vertraut

das Tanzlied eines Dudelsacks,

und Mägd und Bursche drehten sich

zum Feierabend drin im Tanz.


Und Jesus trat ans Tor und sah

mit tiefem Aug dem Treiben zu ...

Und plötzlich übermannte ihn

ein dunkles, schluchzendes Gefühl.


Und, Tränen in den Augen, trat

er zu auf eine junge Magd

und faßte lächelnd ihre Hand

und schritt und drehte sich mit ihr.
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Ehrfürchtig wich der rohe Schwarm;

die Jünger standen starr und bleich; –

Er aber schritt und drehte sich

als wie ein Träumer, weltentrückt.


Da brach auf eines Jüngers Wink

des Spielers Weise jählings ab –

ein krampfhaft Zucken überschrak

des Meisters hagre Hochgestalt –:


Und tief verhüllten Hauptes ging

er durch das Tor dem Garten zu ...

Wie dumpf Gestöhn verlor es sich

in der Oliven grauer Nacht.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 89-91.
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