Der gläserne Sarg

[14] Zwölf stumme Männer trugen mich

in einem Sarge von Kristall

hinunter an des Meeres Strand,

bis an der Brandung Rand hinaus.

So hatte ich's im Testament

bestimmt: Man bette meinen Leib

in einem Sarge von Kristall

und trage ihn der Ebbe nach,

bis sie den tiefsten Stand erreicht.

Der Sonne ungeheurer Gott

stand bis zum Gürtel schon im Meer:

An seinem Glanze tränkte sich

wollüstig noch einmal die Welt.

Ich selber lag in rotem Schein

wie ein Gebilde aus Porphyr.

Da streckte katzengleich die Flut

die erste Welle nach mir aus.

Und ging zurück und schob sich vor

und tastete am Sarg hinauf

und wandte flüsternd sich zur Flucht.

Und kam zurück und griff und stieß

und raunte lauter, warf sich kühn

darüber, einmal, viele mal.

Und blieb, und ihrer Macht gewiß,

umlief frohlockend sie mein Haus

und pochte dran und schäumte auf,[15]

als ihrer Faust es widerstand.

Und hoch und höher wuchs und wuchs

das Wasser um mein gläsern Schloß.

Nun wankte es, als hätt' ein Arm

und noch ein Arm es rauh gepackt,

und scholl in allen Fugen, als

ein Wellenberg auf ihm sich brach

und es wie ein Lawinensturz

umdröhnte und verschüttete.

Und langsam wich der nasse Sand.

Und seitlings neigte sich der Sarg.

Und, unterwühlt und übertobt,

begann er um sich selber sich

schwerfällig in die See zu drehn.

Zu mächtig, daß die Brandung ihn

zum Strand zu schleppen hätt' vermocht,

vergrub er rollend sich und mich

in totenstillen Meeresgrund.

So lag ich denn, wie ich gewollt.

Und dunkle Fische zogen still

zu meinen Häupten hin und her.

Und schwarzer Seetang überschwamm

mein Grab. Und mein Bewußtsein schwand.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 14-16.
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