Kinderglaube

[25] Heut ritt ich im Traum

auf schneeweißem Pferde

ohne Zügel und Zaum

rings um die Erde.

Und wo ein Dach,

war ein Treiben

hinter den Scheiben:

Alles war wach!

Großäugig, tieflockig,

schmalfüßig, kurzrockig,

lugten die Kindlein

der Menschen mir nach.


Oh euch süße Gesichter

vergess' ich nie mehr,

euch glückliche Lichter

durch Nacht zu mir her,

euch Näschen, vom Fensterdruck

schelmisch gestumpft,

euch Wädchen und Kniechen,

nur dürftig bestrumpft,

euch rosige Händchen,

ans Glas angestützt,

euch kosige Mündchen,

neugierig gespützt!
[26]

Ihr Kindchen, ich segn' euch

viel tausend tausend mal!

Nur Großes begegn' euch

Im Sonn- und Mondenstrahl!

Euer Lachen, euer Weinen

sei edler Frucht geschwellt!

Ihr seid ja, ihr Kleinen,

die Zukunft unsrer Welt!

Euch reifen die Lieder

auf meines Lebens Baum ...

Einst sehn wir uns wieder –

und nicht mehr im Traum!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 25-27.
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