Mensch und Möwe

[11] Eine neugierkranke Möwe,

kreiste ich zu Häupten eines

Wesens, das in einen weiten

dunklen Mantel eingewickelt,

von dem Kopfe einer Bune

auf die grüne See hinaussah.

Und ich wußte, daß ich selber

dieses Wesen sei, und war mir

dennoch selbst so problematisch,

wie nur je dem klugen Sinne

einer Möwe solch ein dunkler

Mantelvogel, Mensch geheißen.

Warum blickt dies große, stumme,

rätselhafte Tier so ernsthaft

auf der Wasser Flucht und Rückkehr?

Lauert es geheimer Beute?

Wird es plötzlich aus des Mantels

Schoß verborgne Schwingen strecken,

und mit schwerem Flügelschlag den

Schaum der weißen Kämme streifen?

So und anders fragte rastlos

mein beschränktes Möwenhirn sich,

und in immer frechern Kreisen

stieß ich, kläglich schreiend, oder

ärgerlich und höhnisch lachend,

um mich selber ... Da erhob sich[12]

aus dem Meere eine Woge ...

stieg und stieg ... Und Mensch und Möwe

ward verschlungen und begraben.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 11-13.
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