Die Gedächtnistafel

[40] »Der dort unten ruht jetzund,

sein Schatten stieß ihn in den Grund.

Am steilen Fels den schmalen Gang

klomm verwegen er entlang.

Scharf lag auf ihm das Mittagslicht,

der Schweiß rann ihm übers Gesicht.

Da blieb er, sich zu trocknen, stehn –

muß dabei seinen Schatten sehn.

Und wie er ihn sieht, reckt sich der

von der Wand gegen ihn her.

Den Wandrer fasset bittre Not,

er fühlet, neben ihm steht der Tod

und drängt ihn in das tiefe Grab

der wilden Felsenschlucht hinab.

Er sinkt zusammen in kaltem Schweiß,

alles dreht sich mit ihm im Kreis.

Er preßt die Stirn an den kalten Stein

und denkt an Weib und Kinderlein.

Aber der Tod hatt' gewonnen Spiel

und schob und stieß ihn, bis daß er fiel.

Eine Dirn aus unserm Dorf hat's geschaut,

ein fremder Maler den Stein aufgebaut,

die Verse sind von der alten Kathrein.

Sprecht: Armer Wandrer, wir denken Dein!«

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 40-41.
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