Geier Nord

[123] Der Geier Nord fliegt übern Wald,

in einen grauen Sack gekrallt,

er hat nicht leicht zu tragen.

Er fliegt zu niedrig ob der Erd',

die Fichten drohen ihm Gefährd',

die dort so spitzig ragen.


Da ... schon ... da hängt das Wolkentuch!

Hörst du des Geiers grausen Fluch?

Er muß es fahren lassen:

Und aus dem aufgerißnen Sack

spreun lustig sich auf Tann und Hag

Frau Holles weiße Massen.


Erdmännlein halten hohle Hand

und schmücken mit dem Glitzer-Tand

laut kichernd ihre Weiblein.

Die stelzen hoch daher, doch weh!

schon schmelzen die Geschmeid' aus Schnee,

und naß sind alle Leiblein.


Am Himmel kommt der Nord zurück

mit einem neuen Wolkenstück, –

doch wieder bleibt es hängen.

Wenn das so fort geht –, Leutlein, rennt

nach Haus, sonst wird das Element

euch ernstlich noch bedrängen!
[124]

Das Völklein läuft. Der Geier gibt's

voll Trotz nicht auf – und endlos stiebt's

aus aufgespießten Säcken ...

Den ganzen Tag, die ganze Nacht ...

Wohl tausend Stück, von ihm gebracht,

den Waldgrund nun bedecken.

Zwischenstück

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 123-126,128.
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