Das Königskind

[15] Ich ging an träumenden Teichen

vorüber in mondiger Nacht;

in den flüsternden Kronen der Eichen

spielten die Winde so sacht ...

Da umspann mich der Zauber der Stunde,

daß ich hemmte den einsamen Gang –

nur die Nixen sangen im Grunde,

tief im Grunde,

ihren leisen, dunklen Gesang.


Ihr Antlitz tauchten die Sterne

ins schauernde Wellenmeer,

aus duftverschleierter Ferne

grüßten die Berge her.

Kein Laut in schweigender Runde –

keines Vögleins verspäteter Klang –

nur die Nixen sangen im Grunde,

tief im Grunde,

ihren leisen, dunklen Gesang.


Da war mir, es käme gezogen

ein Nachen im leichten Wind

und trüge über die Wogen

ein strahlendes Königskind ...

Und ich rief mit bittendem Munde –

doch keine Antwort klang –[16]

nur die Nixen sangen im Grunde,

tief im Grunde,

ihren leisen, dunklen Gesang.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 3, Basel 1971–1973, S. 15-17.
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