Nächtliche Bahnfahrt im Winter

[162] Wenn du so auf müder Nachtfahrt

durch die dunklen Lande eilest,

wird dir Manches Graun und Rätsel,

das du sonst zum Klaren teilest.


Kannst das Dunkel nicht zerspähen,

wirst ohn Ende fortgerissen –:

Hier ein Licht und dort ein Schatten

aus durchdröhnten Finsternissen.


Und du denkst, wie durch die weißen

Wälder frierend Rehe ziehen,

bis sie vor den Dörfern stehen

mit von Frost zerschundnen Knien.


Und du siehst die vielen Menschen

langgestreckt im Schlafe liegen,

und du siehst die große Erde

alles durch den Weltraum wiegen.


Du erschrickst –: Von lauter Stimme

hörst du einen Namen rufen – –

Ja, das ist das alte Städtchen

deiner ersten Werdestufen.
[163]

Und du denkst der lieben Gassen,

und du siehst dich selbst als Knaben ...

Und schon liegt das Städtchen wieder

fern in Schlaf und Nacht begraben.


Und ein Schaudern und ein Wundern

läßt dein festes Herz erbeben,

und dich graut vor deiner Menschheit

unenträtselbarem Leben.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 3, Basel 1971–1973, S. 162-164.
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