Der Abend

[43] (Grabmal des Lorenzo v.M.)


Sah ich dich nicht schon einmal,

lichtloser Sinnierer? ...

Sah ich dich nicht schon

viel vielemal? ...

Wenn ich des Tages Straße

hinabgegangen

und im Dämmer,

trauriger Träume schwer,

saß und hinaus sann

in Blut und Schatten

und in die brechenden Blicke

erstarrenden Lebens ...

Lagst du da nicht

am Wegrand,

den Rücken

am letzten Meilenstein,

schwer-lässig den Leib

ellbogengestützt,

aus überernsten, verschatteten Augen

über des Irdischen Wandel

brütend? ...

Warf ich mich da nicht[43]

vor dich hin

und vergrub mich

in deine Augen

und ward mit dir eins

und brütete selber

aus ihren Höhlen

hinaus in die Landschaft? ...

Und dann sah ich

noch einmal im Geist

die langen Menschenzüge des Tags

des Weges wallen,

wie sie dem Goldtor des Morgens

fröhlich entsprangen,

Blumen im Haar

und sorglosen Lachens voll;

wie der und jener

zu Staube dann glitt

und immer mehr

sanken, stürzten –

bis endlich der heiße Mittag

müdrastender Völker

schläfrige Lager fand.

Dann wieder Aufbruch,

klingendes Spiel,

neue Siege der Kraft,

neue Opfer.[44]

Wohin zogen sie aus,

die Morgenscharen?

Wo winkt ihr Ziel?

Wohin leuchten

aufblitzende Sterne?

Dort liegt es –:

Ein dunkles Tor,

drin alle verschwinden,

langsam,

auf ewig.

– – –

Laß mich!

Aus deinen kalten,

unsterblichen Augen

kann ich nicht länger schaun;

denn unendliches Weinen

drängt mir empor, –

und es sinken erbarmungsvoll

Tränen der Schwermut

wie Schleier

zwischen den Sterblichen

und das Bild

seines grausamen Schicksals.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 3, Basel 1971–1973, S. 43-45.
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