Die Weide am Bache

[70] Weißt du noch, Phanta,

wie wir jüngst

eine Nyade,

eine der tausend

Göttinnen der Nacht,

bei ihrem Abendwerk

belauschten?


Einer Weide

half sie, sorglich

wie eine Mutter,

ins Nachthemd,

das sie zuvor

aus den Nebel-Linnen des Bachs

kunstvoll gefertigt.

Ungeschickt

streckte der Baum die Arme aus,

hineinzukriechen

ins Schlafgewand.

Da warf es die Nymphe

lächelnd ihm über den Kopf,

zog es herab,

strich es ihm glatt an den Leib,

knöpfte an Hals und Händen

es ordentlich zu

und eilte weiter.
[71]

Die Weide aber,

in ihrem Nachtkleid,

sah ganz stolz

empor zu Luna.

Und Luna lächelte,

und der Bach murmelte,

und wir beide,

wir fanden wieder einmal

die Welt sehr lustig.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 70-72.
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