Phanta's Schloss

[20] Die Augenlider schlag ich auf.

Ich hab so groß und schön geträumt,

daß noch mein Blick in seinem Lauf

als wie ein müder Wandrer säumt.

Schon werden fern im gelben Ost

die Sonnenrosse aufgezäumt.

Von ihren Mähnen fließen Feuer,

und Feuer stiebt von ihrem Huf.

Hinab zur Ebne kriecht der Frost.

Und von der Berge Hochgemäuer

ertönt der Aare Morgenruf.


Nun wach ich ganz. Vor meiner Schau

erwölbt azurn sich ein Palast.

Es bleicht der Felsenfliesen Grau

und lädt den Purpur sich zu Gast.

Des Quellgeäders dumpfes Blau

verblitzt in heitren Silberglast.

Und langsam taucht aus fahler Nacht

der Ebnen bunte Teppichpracht.


All dies mein Lehn aus Phanta's Hand!

Ein König ich ob Meer und Land,

ob Wolkenraum, ob Firmament!

Ein Gott, des Reich nicht Grenze kennt.

Dies alles mein! Wohin ich schreite,[21]

begrüßt mich dienend die Natur:

ein Nymphenheer gebiert die Flur

aus ihrem Schoß mir zum Geleite;

und Götter steigen aus der Weite

des Alls herab auf meine Spur.


Das mächtigste, das feinste Klingen

entlauscht dem Erdenrund mein Ohr.

Es hört die Meere donnernd springen

den felsgekränzten Strand empor,

es hört der Menschenstimmen Chor

und hört der Vögel helles Singen,

der Quellen schüchternen Tenor,

der Wälder Baß, der Glocken Schwingen.


Das ist das große Tafellied

in Phanta's Schloß, die Mittagsweise.

Vom Fugenwerk der Sphären-Kreise

zwar freilich nur ein kleinstes Glied.


Erst wenn mit breiten Nebelstreifen

des Abends Hand die Welt verhängt

und meiner Sinne maßlos Schweifen

in engere Bezirke zwängt –

wenn sich die Dämmerungen schürzen

zum wallenden Gewand der Nacht[22]

und aus der Himmel Kraterschacht

Legionen Strahlenströme stürzen –

wenn die Gefilde heilig stumm,

und alles Sein ein tiefer Friede –

dann erst erbebt vom Weltenliede,

vom Sphärenklang mein Heiligtum.


Auf Silberwellen kommt gegangen

unsagbar süße Harmonie,

in eine Weise eingefangen,

unendlichfache Melodie.

Dem scheidet irdisches Verlangen,

der solcher Schönheit bog das Knie.

Ein Tänzer, wiegt sich, ohne Bangen,

sein Geist in seliger Eurythmie.


Oh seltsam Schloß! bald kuppelprächtig

gewölbt aus klarem Ätherblau;

bald ein aus Quadern, nebelnächtig,

um Bergeshaupt getürmter Bau;

bald ein von Silberampeldämmer

des Monds durchwobnes Schlafgemach;

und bald ein Dom, von dessen Dach

durch bleiche Weihrauch-Wolkenlämmer

Sternmuster funkeln, tausendfach!
[23]

Das stille Haupt in Phanta's Schoße,

erwart ich träumend Mitternacht: –

da hat der Sturm mit rauhem Stoße

die Kuppelfenster zugekracht.

Kristallner Hagel glitzert nieder,

die Wolken falten sich zum Zelt.

Und Geisterhand entrückt mich wieder

hinüber in des Schlummers Welt.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 20-24.
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